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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der standhafte Zinnsoldat

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die avaren alle Brüder, denn sie waren von einem alten zinnernen Löffel geboren worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das allererste, was sie in der Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort "Zinnsotdaten!" Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaftig, nur ein einziger war etwas verschieden; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr sinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein als die andern auf ihren zweien, und gerade er ist es, der sich bemerkbar macht.

Auf dem Tische, auf welchem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloß von Papier. Durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen. Draußen vor dem Schloß standen Keine Bäume rings um einen minen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das Niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der großen Schloßtür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte einen Rock aus klarstem Linon an und ein kleines schmales blaues Band über die Schultern, gerade wie eine Schärpe; mitten auf dieser saß ein glänzender Stern, gerade so groß wie ihr ganzes Gesicht. Das Keine Mädchen streckte ihre beiden Arme aus, denn sie war eine Tänzerin, und dann hob sie das eine Bein so hoch empor, daß der Zinnsoldat durchaus nicht finden konnte und glaubte, daß sie gerade wie er nur ein Bein habe



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"Das wäre eine Frau für mich!" dachte er; "aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig drin, das ist kein Ort für sie; doch ich muß suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!" Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabakodose, welche auf dem Tische stand; da konnte er recht die kleine feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne aus der Balance zu kommen.

Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinn soldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl "Es kommen Fremde" als auch "Krieg führen" und "Ball geben"; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nußknacker schoß Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, daß der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreut; er war ebenso standhaft auf seinem einen Beine; seine Augen verwandte er keinen Augenblick von ihr.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatscht da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein Seiner schwarzer Kobold. Das war so ein Kunststück.

"Zinnsoldat!" sagte der Kobold, "halte deine Augen im Zaum!"

Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht gehört hätte.

"Ja, warte nur bis morgen!" sagte der Kobold.

Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und entweder war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal ging das Fenster auf, und der Soldat stürzte drei Stockwerke hoch hinunter. Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonett abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.

Das Dienstmädchen und der Keine Knabe kamen sofort hinunter, um zu suchen; aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so Sonnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: "Hier bin ich!" so hätten sie ihn wohl gefunden, aber erfand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.

Nun fing es an zu regnen, die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als er vorbei war, kamen da zwei Straßenbuben

"Siehst du!" sagte der eine, "da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!"

Und da machten sie ein Boot von einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten



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hinein, und nun segelte erden Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Gott bewahre uns, was schlugen da für Wellen in dem Rinnsteine, und welcher Strom war dal Ja, der Regen hatte aber auch geströmt! Das Papierboot schaukelte auf und nieder, und mitunter drehte es sich so geschwind, daß der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah geradeaus und hielt das Gewehr im Arme.

Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.

"Wo mag ich nun hinkommen?" dachte er. "Ja, ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da möchte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!"

Da kam plötzlich eine große Wasserratte; welche unter der Rinnsteinbrücke wohnte.

"Hast du einen Paß?" fragte die Ratte. "Her mit dem Passe!"

Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.

Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hui wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu: "Haltet ihm haltet ihn! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Paß nicht gezeigt!"

Aber die Strömung wurde stärker und stärker. Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte; denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für ihn ebenso gefährlich gewesen sein, als für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren.

Nun war er schon nahe dabei, daß er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der arme Zinnsoldat hielt sich so steif er konnte, niemand sollte ihm nachsagen, daß er mit den Augen blinke. Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es mußte sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Hals im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot; mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die niedliche kleine Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren:

"Fahre, fahre, Kriegsmann!
Den Tod mußt du erleiden!"



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vacat



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Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.

Nein, wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es da so eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arme.

Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz stille, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Daz Licht schien ganz klar, und jemand rief ganz laut: "Der Zinnsoldat!" Der Fisch war gefangen, auf den Markt gebracht und Verkauft worden und war in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie nahm mit ihren beiden Fingern den Soldat mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle solch einen merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stotz. Sie stellten ihn auf den Tisch, und da — nein, wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! — der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, sah dieselben Kinder, und dasselbe Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloß mit der niedlichen kleinen Tänzerin; sie hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft; das rührte den Zinnsoldaten, er war nahe daran, sinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, und sie sah ihn an, aber sie sagten gar nichts.

Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.

Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wußte er nicht. Die Farben waren rein von ihm abgegangen; ob das auf der Reise geschehen war, oder ob der Kummer daran schuld war; konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, daß er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehr im Arme. Da ging dort eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war fort: da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern da, und der war kohlschwarz gebrannt.


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