Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Das Gänseblümchen

Nun höre einmal!

Draußen auf dem Lande, dicht am Wege, lag ein Landhaus, du hast es gewiß einmal selbst gesehn Vor dem ist ein kleiner Garten mit Blumen und einem Stakste, welches angestrichen ist; dicht dabei am Graben, mitten in dem schönsten grünen Grase, wuchs eine kleine Gänseblume. Die Sonne beschien sie ebenso warm und schön als die schönen großen Prachtblumen drinnen im Garten, und deshalb wuchs sie von Stunde zu Stunde. Eines Morgens stand sie mit ihren Keinen, blendend weißen Blättern, die wie Strahlen um die Keine gelbe Sonne in der Mitte rings herum sitzen, ganz entfaltet da. Sie dachte gar nicht daran, daß kein Mensch sie dort im Grase sähe, und daß sie eine arme verachtete Blume sei; nein, sie war so vergnügt, wendete sich der warmen Sonne gerade entgegen, sah zu ihr auf und horchte auf die Lerche, die in der Luft sang.

Die Keine Gänseblume war so glücklich, als ob es ein großer Festtag wäre, und es war doch ein Montag. Alle Kinder waren in der Schule. Während sie auf ihren Bänken saßen und etwas lernten, saß sie auf ihrem kleinen grünen Stengel und lernte auch von der warmen Sonne und allem ringsumher, wie gut Gott ist, und es schien ihr recht, daß die Keine Lerche alles, was sie in der Stille fühlte, so deutlich und schön sang; und die Gänseblume blickte mit einer Art Ehrfurcht zu dem glücklichen Vogel auf, der singen und fliegen konnte, war aber gar nicht betrübt, weil sie es selbst nicht konnte. "Ich sehe und höre ja!" dachte sie, "die Sonne bescheint mich, und der Wind küßt mich! Oh; wie bin ich doch begabt worden!"

Innerhalb des Staketes standen so viele steife, vornehme Blumen; je



033 H.C. Andersen Märchen - Das Gänseblümchen Flip arpa

weniger Duft sie hatten, um so mehr prunkten sie. Die Päonien bliesen sich auf; um größer als eine Rose zu sein, aber die Größe ist es nicht; die es macht! Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben, und das wußten sie wohl und hielten sich so gerade, damit man es besser sehen möchte. Sie beachteten die kleine Gänseblume da draußen gar nicht, aber sie sah desto mehr nach ihnen und dachte: Wie sind sie reich und schön! Ja, zu ihnen fliegt sicher der prächtige Vogel hernieder und besucht sie! Gott sei Dank, daß ich so nahe dabei stehe, so kann doch den Staat zu sehen bekommen!" Und gerade, wie sie das dachte, "Quirrvit!", da kam die Lerche geflogen, aber nicht zu den Päonien und Tulpen herunter, nein, nieder ins Gras zu der armen Gänseblume; die erschrak so vor lauter Freude, daß sie gar nicht wußte, was sie denken sollte.

Der kleine Vogel tanzte rings um sie her und sang: "Nein, wie ist doch das Gras so weich! Und sieh, welch liebliche kleine Blume mit Gold im Herzen und Silber auf dem Kleidet" Der gelbe Punkt in der Gänseblume sah ja auch aus wie Gold, und die kleinen Blätter ringsherum erglänzten silberweiß.

Wie glücklich die kleine Gänseblume war, das kann niemand begreifen! Der Vogel küßte sie mit seinem Schnabel, sang ihr vor und flos dann wieder in die blaue Luft hinauf. Es währte sicher eine ganze Viertelstunde, bevor die Blume sich erholen konnte. Halb beschämt und doch innerlich erfreut sah sie nach den andern Blumen im Garten; sie hatten ja die Ehre und Glückseligkeit, die ihr widerfahren war, gesehen, sie mußten ja begreifen, welche Freude das war. Aber die Tulpen standen noch einmal so steif wie früher, und dann waren sie so spitz im Gesicht und so rot, denn sie hatten sich geärgert. Die Päonien waren ganz dickköpfig; es war gut, daß sie nicht sprechen konnten, sonst hätte die Gänseblume eine ordentliche Zurechtweisung bekommen. Die arme kleine Blume konnte wohl sehen, daß sie nicht bei guter Laune waren, und das tat ihr so herzlich wehe. Zur selben Zeit kam drinnen im Garten ein Mädchen mit einem großen, scharfen und glänzenden Messer; sie ging gerade durch die Tulpen hin und schnitt eine nach der andern ab. "Uh!" seufzte die kleine Gänseblume, "das war ja schrecklich, nun ist es mit ihnen vorbei!" Dann ging das Mädchen mit den Tulpen fort. Das Gänseblümchen war froh darüber, daß es draußen im Grase stand und eine Keine arme Blume war; fühlte sich so dankbar, und als die Sonne unterging, faltete es seine Blätter, schlief ein und träumte die ganze Nacht von der Sonne und dem kleinen Vogel.

Am nächsten Morgen, als die Blume wieder glücklich alle ihre weißen Blätter gerade so wie kleine Arme gegen Luft und Licht ausstreckte, erkannte sie des Vogels Stimme, aber es war so traurig, was er sang. Ja, die arme Lerche hatte guten Grund dazu, sie war gefangen worden und saß nun in einem Käfig dicht beim offnen Fenster. Sie besang das freie und glückliche Umherfliegen, sang von dem jungen grünen Korn auf dem Felde und von der herrlichen



034 H.C. Andersen Märchen - Das Gänseblümchen Flip arpa

Reise, die sie auf ihren Flügeln hoch in die Luft hinauf machen konnte. Der arme kleine Vogel war nicht bei guter Laune, gefangen saß er da im Käfig.

Die kleine Gänseblume hätte so gerne geholfen. Aber wie sollte sie das anfangen? Ja, es war schwer zu erdenken. Sie vergaß völlig, wie schön alles ringsumher stand, wie warm die Sonne schien, und wie herrlich weiß ihre Blätter aussahen; ach, sie konnte nur an den, gefangenen Vogel denken, für den sie durchaus nicht imstande war, etwas zu tun.

Zur selben Zeit kamen da zwei kleine Knaben aus dem Garten; der eine von ihnen hatte ein Messer in den Händen, groß und scharf wie das welches das Mädchen hatte, um die Tulpen damit abzuschneiden. Sie gingen gerade auf die Keine Gänseblume zu, die gar nicht begreifen konnte, was sie wollten.

"Hier können wir ein herrliches Rasenstück für die Lerche ausschneiden!" sagte der eine Knabe und begann nun um die Gänseblume in einem Viereck tief hineinzuschneiden, so daß sie mitten in das Nasenstück zu stehen kam.

"Reiß die Blume abl" sagte der andere Knabe, und das Gänseblümchen zitterte aus Angst; denn abgerissen zu werden, war ja das Leben verlieren, und nun wollte es so gern leben, da es mit dem Rasenstück zu der gefangenen Lerche in dem Käfig sollte;

"Nen, laß sie sitzen!" sagte der andere Knabe; "sie putzt so niedlich!" und so blieb die Gänseblume sitzen und kam mit in den Käfig zur Lerche.

Aber der arme Vogel klagte laut über die verlorne Freiheit und schlug mit den Flügeln gegen den Eisendraht im Käfig; die kleine Gänseblume konnte nicht sprechen, kein tröstendes Wort sagen, so gern sie es auch wollte. So verging der ganze Vormittag.

"Hier ist kein Wasser", sagte die gefangene Lerche. "Sie sind alle ausgegangen und haben vergessen, mir einen Tropfen zu trinken zu geben. Mein Hals ist trocken und brennend! Es ist Feuer und Eig in mir, und die Luft ist so schwer! Ach, ich muß sterben, scheiden vom warmen Sonnenschein, vom frischen Grün, von all der Herrlichkeit, die Gott geschaffen hat!" Und dann bohrte sie ihren Schnabel in das kühle Rasenstück, um sich dadurch ein wenig zu erfrischen. Da fielen ihre Augen auf das Gänseblümchen, und der Vogel nickte ihm zu, küßte es mit dem Schnabel und sagte: "Du mußt hier drinnen auch vertrocknen, du arme kleine Blume! Dich und den kleinen Flecken grünen Grases hat man mir für die ganze Welt gegeben, die ich draußen hatte! Jeder kleine Grashalm soll mir ein grüner Baum, jedes deiner weißen Blätter eine duftende Blume sein! Ach, ihr erzählt mir nur, wieviel ich verloren habe!"

"Wer ihn doch trösten könnte!" dachte die Gänseblume, aber sie konnte kein Blatt bewegen; doch der Duft, der den feinen Blättern entströmte, war weit stärker, als man ihn sonst bei dieser Blume findet: das merkte der Vogel auch



035 H.C. Andersen Märchen - Das Gänseblümchen Flip arpa

und obgleich er vor Durst fast verschmachtete und in seinem Schmerz die grünen Grashalme abriß, berührte er doch nicht die Blume.

Es wurde Abend, und noch kam niemand, dem armen Vogel einen Wassertropfen zu bringen; da streckte er seine hübschen Flügel aus, schüttelte sie krampfhaft, sein Gesang war ein wehmütiges Pieppiep; das Keine Haupt neigte sich der Blume entgegen, und des Vogels Herz brach aus Mangel und Sehnsucht. Da konnte die Blume nicht, wie am vorhergehenden Abend, ihre Blätter zusammenfalten und schlafen; sie hing krank und traurig zur Erde nieder.

Erst am nächsten Morgen kamen die Knaben, und als sie aen Vogel tot erblickten, weinten sie, weinten viele Tränen und gruben ihm ein niedliches Grab, welches mit Blumenblättern verziert wurde. Des Vogels Leiche kam in eine rote, schöne Schachtel, königlich sollte er bestattet werden, der arme Vogel!

Als er lebte und sang, vergaßen sie ihn, ließen ihn im Käfig sitzen und Mangel leiden, nun bekam er Staat und viele Tränen.

Aber das Rasenstück mit dem Gänseblümchen wurde in den Staub der Landstrasse hinausgeworfen, keiner dachte an die, welche doch am meisten für den kleinen Vogel gefühlt hatte, und die ihn so gerne hatte trösten wollen!


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt