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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM BEDUINEN UND SEINER TREUEN FRAU

Der Beherrscher der Gläubigen Mu'âwija' saß eines Tages zu Damaskus in einem Gemache, dessen Fenster auf allen vier Seiten geöffnet waren, so daß der Wind von jeder Richtung her frei eindringen konnte. Und während er so dasaß, blickte er nach einer Seite aus. Nun war es ein sehr heißer Tag, an dem kein Luftzug wehte, und es war um die Mittagszeit, gerade die heißeste Stunde. Da sah der Kalif einen Mann des Weges kommen; der war versengt von dem glühenden Sande, und er hinkte, als er barfuß dahinschritt. Eine Weile blickte der Herrscher ihn an, und er sprach zu seinen Höflingen: ,Hat Allah, der Hochgepriesene und Erhabene, wohl irgendeinen elenderen Menschen erschaffen als den, der wie dieser zu einer solchen Zeit und zu einer solchen Stunde umherwandern muß?' Einer von den Leuten sprach: ,Vielleicht sucht er den Beherrscher der Gläubigen.' ,Bei Allah,' rief Mu'âwija, ,wenn er zu mir kommt, so will ich ihm gewißlich seine Bitte gewähren; und wenn ihm unrecht geschehen ist, so will ich ihm helfen. He, Sklave, tritt an die Tür; und wenn dieser Beduine da zu mir hereinzutreten wünscht, so wehre es ihm nicht!' Der Sklave ging hinaus, und als der Beduine auf ihn zukam, fragte er ihn: ,Was willst du?' Jener erwiderte: ,Ich will zum Beherrscher der Gläubigen gehen.' Und der Sklave sprach: ,Tritt ein!' So trat er denn ein und begrüßte den Kalifen. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 692. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Beduine, nachdem



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der Diener ihn eingelassen hatte, hereinkam und den Beherrscher der Gläubigen begrüßte. Mu'âwija fragte: ,Von welchem Stamme bist du, o Mann?' Jener antwortete: ,Von den Banû Tamîm.' Weiter fragte der Herrscher: ,Was hat dich denn um diese Zeit hierher geführt?' Der Araber sagte: ,Ich komme zu dir, um Klage zu führen und um deinen Schutz zu suchen!' ,Gegen wen?' fragte der Kalif; und der Beduine fuhr fort: ,Gegen Marwân' ibn el-Hakam, deinen Statthalter.' Dann hub er an und sprach die Verse:

Mn'âwija, du guter, du milder, edler Herrscher,
Du Mann des Gehens, Wissens, der Huld und Rechtlichkeit.
Ich nah' dir, da auf Erden mein Weg mir eng geworden,
O nimm mir nicht die Hoffnung auf Recht, sei hilfsbereit!
Verschaffe mir in Güte mein Recht an dem Tyrannen,
Der mich durch Unrecht quälte, noch schlimmer als der Tod.
Er hat Si;' art genommen, sich als mein Feind bewiesen,
Hat mir mein Weib entrissen durch grausam roh Gebot.
Er hat mich töten wollen, noch eh mein Tag erschien,
Eh ich die Zeit vollendet, die Gott mir hat verliehn.

Als Mu'âwija gehört hatte, was der Mann mit feuersprühendem Munde vortrug, sprach er: ,Herzlich willkommen, Bruder Araber! Erzähl deine Geschichte, künde dein Geschick!' ,O Beherrscher der Gläubigen,' erwiderte er, ,ich hatte eine Frau, die liebte ich, die verehrte ich, sie kühlte mein Auge, sie erfreute meine Seele. Ich besaß auch eine Herde Kamele, durch die ich meinen Unterhalt gut bestreiten konnte. Doch es kam ein Jahr über uns, das Sohle und Huf' hinwegraffte, so daß ich keinen Besitz mehr hatte. Als nun meiner Habe wenig war, als mein Geld schwand und es schlecht um mein Ansehen stand,



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da ward ich verächtlich und eine Last für die, so früher mich zu besuchen verlangten. Als aber ihr Vater erfuhr, wie schlecht es mir erging und welche Not mich umfing, nahm er sie von mir; und er sagte sich los von mir und trieb mich ohne Erbarmen fort. Nun begab ich mich zu deinem Statthalter Marwân ibn el-Hakam, da ich auf seine Hilfe hoffte. Er ließ ihren Vater kommen und fragte ilm nach mir; aber der sprach: ,Ich kenne ihn nicht.' Da rief ich: ,Allah segne den Emir! Wenn es ihm belieben möchte, die Frau kommen zulassen und sie nach ihres Vaters Worten zu fragen, so wird sich die Wahrheit offenbaren.' Marwân schickte nach ihr und ließ sie kommen; doch wie sie vor ihm stand, gefiel sie ihm sehr. So wurde er mein Gegner; er verleugnete mich, zeigte sich zornig wider mich und warf mich ins Gefängnis. Da saß ich nun, als wäre ich vom Himmel gefallen oder als hätte mich der Wind an einen fremden Ort verschlagen. Dann sprach er zu ihrem Vater: ,Willst du sie mir vermählen um tausend Dinare und eine zweite Gabe von zehntausend Dirhems, wenn ich dir dafür bürge, sie von diesem Beduinen zu befreien?' Den Vater lockte der Preis, und so willigte er ein. Darauf ließ Marwân mich kommen und blickte mich wie ein wütender Löwe an und sprach zu mir: ,Du Wüstenkerl, scheide dich von Su'âd!' Doch ich sagte: ,Ich werde mich nie von ihr scheiden!' Da gab er einer Schar von seinen Dienern Gewalt über mich, und sie quälten mich mit vielerlei Foltern, bis daß ich keinen Ausweg mehr sah, als mich von ihr zu scheiden. So tat ich es; er aber warf mich wieder ins Gefängnis, und dort mußte ich bleiben, bis die Wartefrist vorüber war und er sich mit ihr vermählen konnte. Dann ließ er mich frei. Und nun komme ich zu dir, hoffend auf dich. indem ich um deinen Schutz flehe und zu dir meine Zuflucht nehme.'

Dann sprach er diese Verse:



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Feuer ist in meinem Herzen,
Und das Feuer lodert heiß.
Und in meinem Leib ist Krankheit.
Die kein Arzt zu heilen weiß.
Kohle ist in meinem Innern.
Inder Kohle Funkenspiel.
Aus dem Auge rinnen Tränen;
Ach, der Tränen sind so viel!
Hilfe lind ich nicht mehr hier
Als bei Gott und dem Emir'!

Dann begann er zu zittern, seine Zähne knirschten, und er fiel ohnmächtig nieder, indem er sich krümmte wie eine getötete Schlange. Als Mu'âwija seine Geschichte und seine Verse vernommen hatte, sprach er: ,Der Sohn el-Hakams hat sich wider die Gebote des Glaubens vergangen, er hat unrecht getan und gewaltsam eine muslimische Frau gefangen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 693. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Mu'âwija, der Beherrscher der Gläubigen, als er die Worte des Beduinen vernommen hatte, sprach: ,Der Sohn el-Hakams hat sich wider die Gebote des Glaubens vergangen, er hat unrecht getan und gewaltsam eine muslimische Frau gefangen.' Und er fügte hinzu: ,Du Araber, du hast mir einen Bericht überbracht, dessengleichen ich noch nie gehört habe.' Dann ließ er Tintenkapsel und Papier bringen und schrieb an Marwân ibn el-Hakam: ,Es ist mir berichtetworden, daß Du Dich an Deinen Untertanen wider die Gebote des Glaubens vergangen hast. Einem Statthalter aber geziemt es, daß er den Blick von seinen Gelüsten abwende und sich selbst von den Freuden seines Fleisches zus.



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rückhalte.' Ferner schrieb er noch viele Worte, die ich der Kürze halber nicht berichte; darunter aber waren diese Verse:

Weh, dir ward ein Amt verliehen, dessen du nicht würdig bist!
Bitte Allah um Verzeihung für ein Tun, das Unzucht ist.
Jetzo ist zu uns gekommen, weinend, jener arme Mann,
Und er klagte uns die Trennung und die bitteren Schmerzen dann.
Ja, ich schwöre meinem Gotte einen ewig festen Eid -
Meinen Glauben will ich ,nissen, meines Herzens Frömmigkeit -:
Wenn du dem zuwiderhandelst, was ich in dem Briefe schreib,
Mache ich zum Fraß der Geier ganz gewißlich deinen Leib!
Gib Su'âd die Freiheit, statte sie mit allem schleunigst aus,
Schick sie mir mit el-Kumait und mit dem Sohn Dhibâns ins Haus!

Dann faltete er den Brief, drückte sein Siegel darauf und ließ el-Kumait und Nasr ibn Dhibân rufen, denen er wegen ihrer Zuverlässigkeit wichtige Angelegenheiten anzuvertrauen pflegte. Die beiden nahmen den Brief in Empfang und zogen dahin, bis sie nach Medina kamen. Dort traten sie zu Marwân ibn el-Hakam ein, begrüßten ihn, übergaben ihm das Schreiben und berichteten ihm, wie es stand. Marwân las den Brief und begann zu weinen; dann begab er sich zu Su'âd und brachte ihr die Kunde, und da es nicht in seiner Macht stand, dem Befehle Mu'âwijas zu widersprechen, so schied er sich von ihr in Gegenwart von el-Kumait und Nasr ibn Dhibân. Darauf rüstete er die beiden zugleich mit Su'âd aus; und er schrieb auch einen Brief an Mu'âwija, in dem er sagte:

Wolle dich nicht übereile,,, o du Fürst der gläub'gen Schar!
Siehe, wie ich deinem Auftrag mild und freundlich jetzt willfahr!
Ich beging doch keine Sünde; denn ich hatte sie so lieb.
Wie kannst du mich treulos heißen, einen Mann, der Unzucht trieb?
Eine Sonne wird dir nahen -ihr ist keine einz'ge gleich
Unter allen Menschenkindern oder in dem Geiste; reich,!

Und er versiegelte den Brief und übergab ihn den beiden Boten; die reisten zurück, und als sie bei Mu'âwija ankamen, überreichten



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sie ihm das Schreiben. Nachdem er es gelesen hatte, tiefer: ,Fürwahr, er hat schönen Gehorsam bewiesen, aber er hat im Preisen der Frau das Maß überschritten!' Darauf befahl er, sie zu bringen; und als er sie anschaute, erblickte er eine schöne Gestalt, derengleichen er noch nie gesehen hatte an Schönheit und Lieblichkeit und des Wuchses Ebenmäßigkeit. Dann sprach er mit ihr und erkannte ihrer Rede Feinheit und ihrer Worte Reinheit. Da rief er: ,Holt mir den Beduinen!' Und man brachte ihn, wie er war, gebrochen von den Schicksalsschlägen, die er hatte dulden müssen. Der Kalif sprach: ,Du Beduine, willst du sie dir nicht aus dem Sinne schlagen? Ich gebe dir für sie drei Sklavinnen, hochbusige Jungfrauen, wie Monde anzuschauen, und zu jeder Sklavin tausend Dinare; auch will ich dir aus dem Schatzhause ein Jahrgeld anweisen, das dich zufrieden und reich machen wird.' Als der Beduine die Worte Mu'âwijas vernommen hatte, tat er einen tiefen Seufzer; und der Kalif glaubte schon, er sei tot niedergesunken. Doch er kam wieder zu sich, und da fragte ihn der Kalif: ,Was ficht dich an?' Der Beduine gab zur Antwort: ,Mit schwerem Herzen und elend vor Schmerzen habe ich zu deiner Gerechtigkeit meine Zuflucht genommen vor der Tyrannei des Sohnes el-Hakams; bei wem soll ich nun Zuflucht suchen wider deine Tyrannei?' Und er sprach diese Verse:

O mache mich -Gott schütze dich! doch nicht zu einem.
Der vor der Hitze zu dem Feuer Zuflucht nimmt!
O, gib Su'âd dem Armen, ganz Verstörten wieder,
Den früh und spät Erinnerung so trübe stimmt!
Nun mach mich gänzlich frei, mißgönne sie mir nicht!
Tust du's, so gilt dir ewig meine Dankespflicht.

Und er fügte hinzu: ,Bei Allah, o Beherrscher der Gläubigen, wenn du mir auch alles anbötest, was Gott dir in deinem Kalifat



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gegeben hat, so würde ich es doch nicht ohne Su'âd nehmen.' Darauf sprach er diesen Vers:

Kein anderes Lieb als Su'âd wünsch ich mir:
Mein tägliches Brot ist die Liebe zu ihr.

Nun sagte Mu'âwija zu ihm: ,Du bekennst also, daß du sie freigegeben hast, und Marwân bekennt, daß er sich von ihr geschieden hat; so wollen wir ihr freie Wahl lassen. Wenn sie einen anderen als dich erwählt, so wollen wir sie mit ihm vermählen; wählt sie aber dich, so geben wir sie dir zurück.' ,Tu das!' erwiderte der Beduine; da fragte denn Mu'âwija: ,Was sagst du, o Su'âdt Wer ist dir lieber, der Beherrscher der Gläubigen mit all seiner Ehre, seinem Ruhm und seinen Schlössern, seiner Macht, seinem Reichtum und allem anderen, was du bei ihm siehst, oder Marwân ibn el-Hakam mit seiner Gewalttätigkeit und Tyrannei, oder dieser Araber mit seinem Hunger und seiner Armut?' Doch sie sprach diese beiden Verse:

Er ist, auch wenn ihn Hunger druckt und arge Not,
Mir lieber als der Nachbar und die Stammesscharen.
Als das gekrönte Haupt und als Marwân, sein Knecht,
Ja, auch als jeder Herr von Dirhems und Dinaren.

Dann fuhr sie fort: ,Bei Allah, o Beherrscher der Gläubigen, ich will ihn nicht verlassen wegen der Wechselfälle der Zeit, noch wegen des Glückes Unbeständigkeit; denn zwischen uns ist alte Liebe, die nicht vergeht, und eine Gemeinschaft, die ewig besteht. Es ist nur gerecht, daß ich gemeinsam mit ihm das Unglück ertrage, wie ich auch froh war mit ihm während der glücklichen Tage!' Mu'âwija staunte über ihren Verstand und ihre Liebe und Treue; und er wies ihr zehntausend Dirhems an und gab sie dem Beduinen zurück. Der nahm sein Weib und ging seiner Wege.

Ferner wird erzählt, o glücklicher König,


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