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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Der Garten des Paradieses

Da war einmal ein Königssohn Niemand hatte so viele und so schöne Bücher als er; alles, was in dieser Welt geschehen war, konnte er sich erlesen und die Abbildungen in prächtigen Bildern bewundern. Von jedem Volke und jedem Lande konnte er Auskunft erhalten, aber wo der Garten des Paradieses zu finden sei, davon stand kein Wort darin; und gerade der war es, an den er am meisten dachte.

Seine Großmutter hatte ihm erzählt, als er noch ganz klein war, aber anfangen sollte zur Schule zu gehen, daß jede Blume im Garten des Paradiess der süßeste Kuchen, die Staubfäden der feinste Wein seien; auf einem stehe Geschichte, auf einem andern Geographie oder Tabellen; man brauche nur Kuchen zu essen, so könne man seine Lektion; je mehr man speise, um so mehr Geschichte Geographie und Tabellen hätte man inne.

Das glaubte er damals; aber schon, als er ein größerer Knabe wurde, mehr lernte und klüger war; begriff er wohl, daß eine ganz andere Herrlichkeit im Garten des Paradieses sein müsse.

"Oh, weshalb pflückte doch Eva vom Baume der Erkenntnis! Weshalb speiste Adam von der verbotenen Frucht! Das sollte ich gewesen sein, so wäre es nicht geschehen! Nie wäre die Sünde in die Welt gekommen!"

Das sagte er damals, und das sagte er noch, als er siebzehn Jahre alt war. Der Garten des Paradieses erfüllte alle seine Sinne.

Eines Tages ging er im Walde; er ging allein, denn das war sein größtes Vergnügen.

Der Abend brach an, die Wolken zogen sich zusammen, es wurde ein Regenwetter, als ob der ganze Himmel eine einzige Schleuse wäre, aus der das Wasser stürzte; es war so dunkel, wie sonst des Nachts im tiefsten Brunnen ist. Bald glitt er in dem nassen Grase aus, bald fiel er über die nackten Steine, welche



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aus dem Felsengründe hervorragten. Alles triefte vom Wasser, es war nicht ein trockener Faden an dem armen Prinzen. Er mußte über große Steinblöcke klettern, wo das Wasser aus dem hohen Moose quoll. Er war nahe daran, kraftlos umzusinken, als er ein sonderbares Sausen hörte, und vor sich sah er eine große erleuchtete Höhle. Mitten in dieser brannte ein Feuer, so daß man einen Hirsch dabei braten konnte, und das geschah auch; der prächtigste Hirsch mit seinem hohen Geweih war auf einen Spieß gesteckt und wurde langsam zwischen zwei abgehauenen Tannenbäumen herumgedreht. Eine ältliche Frau, groß und stark, als wäre sie eine verkleidete Mannsperson, saß am Feuer und warf ein Stück Holz nach dem andern dazu.

"Komm nur näher!" sagte sie. "Setz dich an das Feuer; damit deine Kleider getrocknet werden!"

"Hier zieht es arg!" sagte der Prinz und setzte sich auf den Fußboden nieder.

"Das wird noch ärger werden, wenn meine Söhne nach Hause kommen!" erwiderte die Frau. "Du bist hier in der Höhle der Winde, meine Söhne sind die vier Winde der Welt. Kannst du das verstehen?"

"Wo sind deine Söhne?" fragte der Prinz.

"Ja, es ist schwer zu antworten, wenn man dumm fragt", sagte die Frau. "Meine Söhne treiben es auf eigne Hand, sie spielen Federball mit den Wolken dort oben im Königssaal!" Und dabei zeigte sie in die Höhe hinauf.

"Ach so", sagte der Prinz. "Ihr sprecht übrigens ziemlich barsch und seid nicht so sanft wie die Frauenzimmer, die ich sonst um mich habe!"

"Ja, die haben wohl nichts anderes zu tun! Ich muß hart sein, wenn ich meine Knaben in Respekt erhalten will! Aber das kann ich, obgleich sie steife Nacken haben! Siehst du die vier Säcke, die an der Wand hängen? Die fürchten sie ebenso wie du früher die Rute hinterm Spiegel. Ich kann die Knaben zusammenbiegen, sag' ich dir, und dann müssen sie in den Sack; da machen wir keine Umstände! Dasitzen sie und dürfen nicht eher wieder heraus und herumstreifen, als bis ich es für gut erachte. Aber da haben wir den einen!"

Das war der Nordwind, der mit einer eisigen Kälte hreintrat; große Hagelkörner hüpften auf den Fußboden hin, und Schneeflocken stöberten umher. Er war in Bärenfellbeinkleidern und Jacke; eine Mütze von Seehundsfell ging über die Ohren hinab; lange Eiszapfen hingen ihm am Barte, uns ein Hagelkorn nach dem andern glitt ihm vom Jackenrock hinunter.

"Gehen Sie nicht gleich an das Feuer!" sagte der Prinz. "Sie können sonst leicht Frost in das Gesicht und die Hände bekommen."

"Frost!" sagte der Nordwind und lachte laut auf. "Frost! Das ja gerade mein größtes Vergnügen! Was bist du übrigens für ein Klapperbein! Wie kommst du in die Höhle der Winde?"



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"Er ist mein Gast," sagte die Alte, "und bist du mit dieser Erklärung nicht zufrieden, so kannst du in den Sack kommen! Verstehst du mich nun?"

Sieh, das half, und der Nordwind erzählte, von wannen er kam, und wo er nun fast einen ganzen Monat gewesen war.

"Vom Polarmeer komme ich", sagte er. "Ich bin auf dem Bäreneilande mit den russischen Walroßfängern gewesen. Ich saß und schlief auf dem Steuer, als sie vom Nordkap aussegelten! Wenn ich mitunter ein wenig erwachte, flog mir der Sturmvogel um die Beine! Das ist ein komischer Vogel; er macht einen raschen Schlag mit den Flügeln, dann hält er sie unbeweglich ausgestreckt und fliegt dann doch fort."

"Mache nur nicht so weitläufig", sagte die Mutter der Winde. "Du kamst also nach dem Bäreneilande!"

"Dort ist es schön! Da ist ein Fußbad ;n zum Tanzen, flach wie ein Teller, halbgetauter Schnee mit ein wenig Moos, scharfe Steine und Knochengerippe von Walrossen und Eisbären lagen da wie Riesenarme und -beine mit verschimmeltem Grün. Man möchte glauben, daß die Sonne nie darauf geschienen hätte. Ich blies ein wenig in den Nebel, damit man den Schuppen sehen konnte. Das war ein Haus von Wrackholz erbaut und mit Walroßhäuten überzogen; die Fleischseite war nach außen gekehrt, sie war rot und grün; auf dem Dache saß ein lebendiger Eisbär und brummte. Ich ging nach dem Strande, sah nach den Vogelnestern, sah die nackten Jungen, die da schrieen und den Schnabel aufsperrten; da blies ich in die tausend Kehlen hinab, und sie lernten den Schnabel schließen. Weiterhin wälzten sich Walrosse wie lebendige Eingeweide oder Riesenmaden mit Schweinsköpfen und ellenlangen Zähnen!"

"Du erzählst gut, mein Sohn", sagte die Mutter. "Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich dir zuhöre!"

"Dann ging es auf den Fang! Die Harpune wurde in die Brust des Walrosses geworfen, so daß der dampfende Blutstrahl einem Springbrunnen gleich über das Eig spritzte. Da gedachte ich auch meines Spieles! Ich blies auf und ließ meine Segler, die klippenhohen Eisberge, die Boote einklemmen. Hui! wie man pfiff und wie man schrie, aber ich pfiff lauter; die toten Walroßkörper, Kisten und Tauwerk mußten sie auf das Eis auspacken; ich schüttelte die Schneeflocken über sie und ließ sie in den eingeklemmten Fahrzeugen mit ihrem Fang nach Süden treiben, um dort Salzwasser zu kosten. Sie kamen nie mehr nach dem Bäreneiland!"

"So hast du ja Böses getan!" sagte die Mutter der Winde.

"Was ich Gutes getan habe, mögen die anderen erzählen!" sagte er. "Aber da haben wir meinen Bruder vom Westen, ihn mag ich von allen am besten leiden, er schmeckt nach der See und führt eine herrliche Kälte mit sicht"

"Ist das der kleine sephira" Sagte der Prinz.



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"Jawohl ist das Zephir!" sagte die Alte "aber er ist doch nicht so klein. In alten Tagen war es ein hübscher Knabe, aber das ist nun vorbei!"

Er sah aus wie ein wilder aber er hatte einen Fallhut auf, um nicht zu Schaden zu kommen. In der Hand hielt ereine in den amerikanischen gehauen. Das war nichts Geringes.

"Wo kommst du her?" fragte die Mutter.

"Von den Urwäldern," sagte er, "wo die dornigen Lianen eine Hecke zwischen jedem Baum bilden, wo die Wasserschlange in dem nassen Grase liegt und die Menschen unnötig zu sein scheinen!"

"Was triebst du dort?"

"Ich sah in den tiefen Fluß, sah, wie er von den Klippen stürzte, Staub wurde und gegen die Wolken flog, um den Regenbogen zu tragen. Ich sah den wilden Büffel im Flusse schwimmen, aber der Strom riß ihn mit sich fort; er trieb mit dem Schwarm der wilden Enten, welche in die Höhe flogen, wo das Wasser stürzte; der Büffel mußte hinunter das gefiel mir, und ich blies einen Sturm, daß uralte Bäume splitterten und zu Spänen wurden."

"Und weiter hast du nichts getan?" fragte die Alte.

"Ich habe in den Savannen Purzelbäume geschossen, ich habe die wilden Pferde gestreichelt und Kokosnüsse geschüttelt! Ja, ja, ich habe Geschichten zu erzählen! Aber man muß nicht alles sagen, was man weiß. Das weißt du wohl Alte!" Und dann küßte er seine Mutter, so daß sie fast hintenüber gefallen wäre; er war wahrlich ein wilder Gesell.

Nun kam der Südwind mit einem Turban und fliegendem Beduinenmantel

"Hier ist es recht kalt, hier draußen!" sagte er und warf Holz zum Feuer; "man kann merken, daß der Nordwind zuerst gekommen ist!"

"Es ist hier so heiß, daß man einen Eisbär braten kannt" sagte der Nordwind.

"Du bist selbst ein Eisbär!" antwortete der Südwind.

"Wollt ihr in den Sack gesteckt werden?" fragte die Alte. "Setze dich auf den Stein dort und erzähle, wo du gewesen bist."

"In Afrika, meine Mutterl" erwiderte er. "Ich war mit den Hottentotten auf der Löwenjagd im Lande der Kaffern! Welches Gras wächst dort in den Ebenen, grün wie eine Olivet Da lief der Strauß mit mir um die Sette, aber ich bin doch rascher zu Fuß. Ich kam nach der Wüste zu dem gelben Sande; da sieht es aus wie auf dem Grunde des Meeres. Ich traf eine Karawane; sie schlachteten ihr letztes Kamel, um Trinkwasser zu erhalten, aber war nur wenig, was sie bekamen. Die Sonne brannte von oben und der Sand von unten. Keine Grenze hatte die weite Wüste. Da wälzte ich mich in dem feinen losen Sande und wirbelte ihn in große Säulen auf. Das war ein Tanzt Du hättest sehen sollen, wie verlegen das Dromedar dastand und der Kaufmann den



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Kaftan über den Kopf zog. Er warf sich vor mir nieder, wie vor Allah, seinem Gott. Nun sind sie begraben, und es steht eine Pyramide von Sand über ihnen allen; wenn ich den einmal fortblase, dann wird die Sonne ihre Knochen bleichen, da können die Reisenden sehen, daß hier früher Menschen gewesen sind. Sonst kann man das in der Wüste nicht glauben!"

"Du hast also nur Böses getan!" sagte die Mutter. "Marsch in den Sack!" Und ehe er es wußte, hatte sie den Südwind um den Leib gefaßt und in den Sack gesteckt; er wälzte sich rings herum auf dem Fußboden, aber sie setzte sich darauf, und da mußte er stille liegen.

"Das sind muntere Knaben, die du hast!" sagte der Prinz.

"Ja wahrlich," antwortete sie, "und züchtigen kann ich sie! Da haben wir den vierten!"

Das war der Ostwind, er war wie ein Chinese gekleidet.

"Nun, kommst du von der Seite?" sagte die Mutter. "Ich glaubte, du wärest im Garten des Paradieses gewesen."

"Dahin fliege ich erst morgenl" sagte der Ostwind. "Morgen sind es hundert Jahre, seitdem ich dort war! Ich komme jetzt von China, wo ich um den Porzellanturm tanzte, daß alle Glocken klingelten. Unten auf der Straße bekamen die Beamten Prügel, das Bambusrohr wurde auf ihren Schultern verbraucht, und das waren Leute vom ersten bis zum neunten Grade; sie schrieen: "Vielen Dank, mein väterlicher Wohltäter!" aber sie meinten nichts damit, und ich klingelte mit den Glocken und sang: "Tsing tsang tsu!"

"Du bist mutwillig!" sagte die Alte. "Es ist gut, daß du morgen nach dem Garten des Paradieses kommst, das trägt immer zu deiner Bildung bei! Trinke dann tüchtig ander Weisheitsquelle und nimm eine Keine Flasche voll für mich mit nachhause!"

"Das werde ich tun!" sagte der Ostwind. "Aber weshalb hast du meinen Bruder vom Süden in den Sack gesteckt? Hervor mit ihm! Er soll mir vom Vogel Phönix erzählen, davon will die Prinzessin im Garten des Paradieses immer hören, wenn ich jedes hundertste Jahr meinen Besuch abstatte. Mache den Sack auf, dann bist du meine süßeste Mutter, und ich schenke dir zwei Taschen voll Tee, so grün und frisch, wie ich ihn an Ort und Stelle gepflückt habe!"

"Nun, des Tees halber, und weil du mein Herzensjunge bist; will ich den Sack öffnen!" Das tat sie, und der Südwind kroch heraus, aber er sah ganz niedergeschlagen aus, weil der fremde Prinz es gesehen hatte.

"Da hast du ein Palmenblatt für die Prinzessin!" sagte der Südwind. "Dieses Blatt hat der alte Vogel Phönix, der einzige, der in der Welt war, mir gegeben! Er hat mit seinem Schnabel seine ganze Lebensbeschreibung, die hundert Jahre, die er lebte, hineingeritzt; nun kann sie es selbst lesen, wie der Vogel



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Phönix sein Nest selbst in Brand steckte und darin saß und verbrannte, wie die Frau eines Hindu. Wie knisterten doch die trockenen Zweige! Es war ein Rauch und ein Duft! Zuletzt schlug alles in Flammen auf, der alte Vogel Phönix wurde zu Asche, aber sein Ei lag glühend rot im Feuer, es barst mit einem großen Knall, und das Junge flog heraus; nun ist dieses Herrscher über alle Vögel und der einzige Vogel Phönix in der Welt. Er hat ein Loch in das Palmenblatt, welches ich dir gab, gebissen; das ist sein Gruß an die Prinzessin!"

"Laßt uns nun etwas zu uns nehmen!" sagte die Mutter der Winde, und so setzten sie sich alle heran, um von dem gebratenen Hirsch zu speisen; der Prinz saß zur Seite des Ostwindes, und deshalb wurden sie bald gute Freunde.

"Höre, sage mir einmal," fing der Prinz an, "was ist das für eine Prinzessin, von der hier so viel die Rede ist, und wo liegt der Garten des Paradieses?"

"Hoho!" sagte der Ostwind, "willst du dahin, ja, dann fliege morgen mit mir! Aber das muß ich dir sagen, da ist kein Mensch seit Adams und Evas Zeiten gewesen. Die kennst du ja wohl aus der biblischen Geschichten"

"Jawohl", sagte der Prinz.

"Damals, als sie verjagt widen, versank der Garten des Paradieses in die Erde, aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und all seine Herrlichkeit. Die Feenkönigin wohnt darin; da liegt die Insel der Glückseligkeit, wohin der Tod nie kommt, wo es herrlich ist! Setze dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich dich mitnehmen; ich denke, es wird sich wohl tun lassen! Aber nun mußt du nicht mehr sprechen, denn ich will schlafen!"

Und dann schliefen sie allesamt.

In der frühen Morgenlande erwachte der Prinz und war ächt wenig erstaunt, sich schon hoch über den Wolken zu finden. Er saß auf dem Rücken des Ostwindes, der ihn noch treulich hielt; sie waren so hoch in der Luft, daß Wälder und Felder, Flüsse und Seen sich wie auf einer Landkarte darstellten.

Guten Morgen!" sagte der Ostwind. "Du könntest übrigens gern noch ein bißchen schlafen, denn es ist nicht viel auf dem flachen Lande unter uns zu sehen. Ausgenommen, du hättest Lust, die Kirchen zu zählen! Sie stehen gleich Kreidepunkten auf dem grünen Brette." Das waren Felder und Wiesen, die er das grüne Brett nannte.

"Es unartig, daß ich deiner Mutter und deinen Brüdern nicht Leda wohl gesagt hadel" meinte der Prinz.

"Wenn man schläft, ist man entschuldigt!" sagte der Ostwind, und darauf flogen sie noch rascher von dannen. Man konnte es in den Gipfeln der Bäume hören, wenn sie darüber hinführen, rasselten alle Zweige und Blätter; man konnte es auf dem Meere und den Seen hören, denn wo sie flogen, erhoben sich die Wogen höher, und die großen Schiffe neigten sich tief in das Wasser hinunter, gleich schwimmenden Schwänen.



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Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte hübsch aus; die Lichter brannten dort unten, bald hier, bald da; war gerade, als wenn man ein Stück Papier angebrannt hat und alle die nemen Feuerfunken sieht; wie sie, gleich Kindern, die aus der Schule gehen, nach allen Seiten auseinanderstieben. Der Prinz klatschte in die Hände, aber der Ostwind bat ihn, das sein zu lassen und sich lieber festzuhalten, sonst könnte er leicht hinunterfallen und an der Spitze eines Kirchturms hängen bleiben.

Der Adler in den schwarzen Wäldern flog zwar leicht doch der Ostwind flog noch leichter. Der Kosak auf seinem kleinen Pferde jagte über die Ebenen davon, doch der Prinz jagte noch schneller dahin.

"Nun kannst du den Himalaja sehen!" sagte der Ostwind, "das ist der höchste Berg in Asien; nun werden wir bald nach dem Garten des Paradieses gelangen!" Dann wandten sie sich mehr südlich, und bald duftete dort von Gewürzen und Blumen. Feigen und Granatapfel wuchsen wild, und die wilde Weinranke hatte blaue und rote Trauben. Hier ließen sie sich beide nieder und streckten sich in das weiche Gras, wo die Blumen dem Winde zunickten, als wollten sie sagen: "Willkommen hier!"

"Sind wir nun im Garten des Paradieses?" fragte der Prinz.

"Nein, bewahret" erwiderte der Ostwind, "aber wir werden nun bald dorthin kommen. Siehst du die Felsenmauer dort und die große Höhle, wo die Weinranken gleich einer großen Gardine hängen? Da hindurch werden wir hineingelangen! Wickle dich in deinen Mantel, hier brennt die Sonne, aber einen Schritt weiter, und es ist eisig kalt. Der Vogel, welcher an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel hier draußen in dem warmen Sommer und den andern drinnen in dem kalten Winter!"

"So, das ist also der Weg zum Garten des Paradieses?" fragte der Prinz.

Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu, wie war es dort eisig kalt! Aber es währte nicht lange. Der Ostwind breitete seine Flügel aus, und sie leuchteten gleich dem hellsten Feuer. Nein, welche Höhle! Die großen Steinblöcke, von denen das Wasser träufelte, hingen über ihnen in den wunderbarsten Gestalten; bald war es da so enge, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten, bald so hoch und ausgedehnt wie in der frein Luft. Es sah aus wie Grabkapellen mit stummen Orgelpfeifen und versteinerten Orgeln.

"Wir gehen wohl den Weg des Todes zum Garten des Paradieses?" sagte der Prinz; aber der Ostwind anwortete keine Silbe, zeigte vorwärts, und das schönste blaue Licht strahlte ihnen entgegen. Die Steinblöcke über ihnen wurden mehr und mehr ein Nebel, der zuletzt so klar war wie eine weiße Wolke im Mondenschein. Nun waren sie in der herrlichsten milden Luft; so frisch wie auf den Bergen, so duftend wie bei den Rosen des Tales. Da strömte ein Fluß, so klar als die frische Luft selbst, und die Fische waren wie Silber und Gold; puppurrote



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Aale, die bei jeder Bewegung blaue Feuerfunken sprühten, spielten da unten im Wasser, und die breiten Seerosenblätter hatten des Regenbogens Farben die Blume selbst war eine rotgelbe brennende Flamme, der das Wasser Nahrung gab, gleichwie das Öl die Lampe beständig im Brennen erhält. Eine feste Brücke von Marmor, aber so künstlich und fein ausgeschnitten, als wäre sie von Spitzen und Glasperlen gemacht führte über das Wasser zur Insel der Glückseligkeit, wo der Garten des Paradieses blühte.

Der Ostwind nahm den Prinzen auf seine Arme und trug ihn hinüber. Da sangen die Blumen und Blätter die schönsten Lieder aus seiner Kindheit, aber so lieblich, wie keine menschliche Stimme singen kann.

Waren das Palmenbäume oder riesengroße Wasserpflanzen, die hier wuchsen? So saftige und große Bäume hatte der Prinz nie gesehen; in langen Kränzen hingen da die wunderlichsten Schlingpflanzen, wie man sie nur mit Farben und Gold auf dem Rande alter Heiligenbücher, oder sich durch die Anfangsbuchstaben schlingend, abgebildet findet. Das waren die seltsamsten Zusammensetzungen von Vögeln, Blumen und Schnörkeln. Dicht daneben im Grase stand ein Schwarm von Pfauen mit entfalteten strahlenden Schweifen. Ja, das war wirklich so Doch nein, als der Prinz daran rührte; merkte er; daß es keine Tiere sondern Pflanzen waren; es waren die großen Kletten, die hier gleich des Pfauen herrlichem Schweif strahlten. Der Löwe und der Tiger sprangen gleich geschmeidigen Katzen zwischen den grünen Hecken, die wie die Blumen des Ölbaumes dufteten, und der Löwe und der Tiger waren zahm; die wilde Waldtaube glänzte wie die schönste Perle, schlug mit ihren Flügeln den Löwen an die Mähne, und die Antilope, die sonst so scheu ist, stand und nickte mit dem Kopfe, als ob sie auch mitspielen wollte.

Nun kam die Fee des Paradieses, ihre Kleider strahlen wie die Sonne, und ihr Antlitz war mild wie das einer frohen Mutter, wenn sie recht glücklich über ihr Kind ist. Sie war so jung und schön, und die hübschesten Mädchen, jedes mit einem leuchtenden Stern im Haar, folgten ihr. Ostwind gab ihr das beschriebene Blatt vom Vogel Phönix, und ihre Augen funkelten vor Freude; sie nahm den Prinzen bei der Hand und führte ihn in ihr Schloß hinein, wo die Wände Farben wie das prächtigste Tulpenblatt, wenn es gegen die Sonne gehalten wird, hatten; die Decke selbst war eine große, strahlende Blume, und je mehr man in dieselbe hinauf sah, desto tiefer erschien deren Becher. Der Prinz trat an das Fenster und sah durch eine der Scheiben; da sah er den Baum der Erkenntnis mit der Schlange, und Adam und Eva standen dicht dabei. "Sind die nicht fortgejagt?" Sagte er, und die Fee lächelte und erklärte ihm, daß die Zeit auf jeder Scheibe so ihr Bild eingebrannt habe, aber nicht, wie man es zu sehen gewohnt sei, nein, es war Leben dann, die Blätter der Bäume bewegten sich die Menschen kamen und gingen wie in einem Spiegelbilde. Und er sah durch



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eine andere Scheibe, und da war Jakobs Traum, wo die Leiter gerade bis in den Himmel ging, und die Engel mit großen Schwingen schwebten auf und nieder. Ja, alles, was in dieser Welt geschehen war, lebte und bewegte sich in den Glasscheiben; so künstliche Gemälde konnte nur die Zeit einbrennen.

Die Fee lächelte und führte ihn in einen Saal, groß und hoch, dessen Wände transparent erschienen, mit Bildern, wo das eine Gesicht schöner als das andere war. Das waren Millionen Glückliche, die lächelten und sangen, so daß es in eine Melodie zusammenfloß; die allerobersten waren so Kein, daß sie kleiner erschienen als die kleinste Rosenknospe, wenn sie wie ein Punkt auf das Papier gezeichnet wird. Und mitten im Saale stand ein großer Baum mit hängenden üppigen Zweigen; goldene Apfel, große und kleine, hingen wie Apfelsinen zwischen den grünen Blättern. Das war der Baum der Erkenntnis, von dessen Frucht Adam und Eva gegessen hatten. Von jedem Blatte tröpfelte ein glänzender roter Tautropfen; es war, als ob der Baum blutige Tränen weinte.

"Laß uns in das Boot steigen!" sagte die Fee, "da wollen wir Erfrischungen auf dem schwellenden Wasser genießen! Das Boot schaukelt, kommt aber nicht von der Stelle, aber alle Länder der Welt gleiten an unsern Augen vorbei" Es war eigentümlich zu sehen, wie sich die ganze Küste bewegte. Da kamen die hohen, schneebedeckten Alpen mit Wolken und schwarzen Tannen, das Horn erklang so wehmütig, und der Hirte jodelte hübsch im Tale. Nun bogen die Bananenbäume ihre langen, hängenden Zweige über das Boot nieder, kohlschwarze Schwäne schwammen auf dem Wasser, und die seltsamsten Tiere und Blumen zeigten sich am Ufer: das war Neu-Holland, der fünfte Weltteil, der mit einer Aussicht auf die Blauen Berge vorbeiglitt. Man hörte den Gesang der Priester und sah den Tanz der Wilden zum Schall der Trommeln und der



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knöchernen Tuben. Ägyptens Pyramiden, die bis indie Wolken ragten, umgestürzte Säulen und Sphinxe, halb im Sande begraben, segelten vorbei. Die Nordlichter flammten über die ausgebrannten Vulkane des Nordens, das war ein Feuerwerk, das niemand nachmachen konnte. Der Prinz war so glückselig, ja er sah wohl hundertmal mehr, als wir hier erzählen.

"Und immer kann ich hier bleiben?" fragte er.

"Das kommt auf dich selbst am" erwiderte die Fee; "wenn du nicht, wie Adam, dich gelüsten läßt, das Verbotene zu tun, so kannst du immer hier bleiben!"

"Ich werde die Apfel auf dem Erkenntnisbaume nicht anrühren!" sagte der Prinz. "Hier sind ja Tausende von Früchten, ebenso schön wie diel"

"Prüfe dich selbst und bist du nicht stark genug, so gehe mit dem Ostwinde, der dich herbrächte; erfliegt nun zurück und läßt sich hier in hundert Jahren nicht wieder blicken. Die Zeit wird an diesem Ort hier für dich vergehen, als wären es hundert Stunden, aber es ist eine lange Zeit die Versuchung und Sünde. Jeden Abend, wenn ich von dir gehe, muß ich dir zurufen: ,Komm mit! Ich muß dir mit der Hand winken, aber bleibe zurück. Gehe nicht mit, denn da wird mit jedem Schritte deine Sehnsucht größer werden: du kommst in den Saal, wo der Baum der Erkenntnis wächst; ich schlafe unter seinen duftenden hängenden Zweigen, du wirst dich über mich beugen, und ich muß lächeln; drückst du aber einen Kuß auf meinen Mund, so sinkt das Paradies tief in die Erde, und ist dich verloren Der Wüste scharfer Wind wird dich umsausen, der kalte Regen von deinem Haar träufeln. Kummer und Drangsal werden dein Erbteil."

"Ich bleibe hier!" sagte der Prinz, und der Ostwind küßte ihn auf die Stirn und sagte: "Sei stark, dann treffen wir uns alle hier nach hundert Jahren wieder! Lebe wohl, lebe wohl!" Der Ostwind breitete seine großen Schwingen aus; sie glänzten wie das Wetterleuchten in der Erntezeit oder wie das Nordlicht im kalten Winter.

"Lebe wohl, lebe wohl!" riefen Blumen und Bäume. Störche und Pelikane flogen wie flatternde Bänder in Reihen und geleiteten ihn bis zur Grenze des Gartens.

"Nun wollen wir unsere Tänze beginnen!" sagte die Fee. "Zum Schlusse, wenn ich mit dir tanze, wirst du, indem die Sonne sinkt, sehen, daß ich dir winke, du wirst mich dir zurufen hören: ,Komm mit! Aber tu es nicht! Hundert Jahre lang muß ich jeden Abend wiederholen; jedesmal, wenn die Zeit vorbei ist, gewinnst du mehr Kraft, zuletzt denkst du gar nicht mehr daran. Heute abend geschieht es zum erstenmal; nun habe ich dich gewarnt!"

Und die Fee führte ihn in einen großen Saal von weißen durchsichtigen Lilien; die gelben Staubfäden in jeder bildeten eine kleine Goldne, die mit



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Saitenlaut und Flötenton erklang. Die schönsten Mädchen, schwebend und schlank, in wogenden Flor gekleidet so daß man die schönen Glieder sah, schwebten im Tanze und sangen, wie herrlich es sei zu leben, und daß sie nie sterben würden, und daß der Garten des Paradieses ewig blühen werde.

Die Sonne ging unter, der ganze Himmel wurde ein Gold, welches den Lilien den Schein der herrlichsten Rosen gab, und der Prinz trank von dem schäumenden Wein, welchen die Mädchen ihm reichten, und er fühlte eine Glückseligkeit wie nie zuvor; er sah, wie der Hintergrund des Saales sich öffnete, und der Baum der Erkenntnis stand in einem Glanze, der seine Augen blendete; der Gesang von daher war sanft und lieblich, wie seiner Mutter Stimme, und es war, als ob sie sänge: "Mein Kind, mein geliebtes Kind!"

Da winkte die Fee und rief so liebevoll: "Komm mit, komm mit!" Und er stürzte ihr entgegen, vergaß sein Versprechen, vergaß es schon den ersten Abend, und sie winkte und lächelte. Der Duft, der gewürzige Duft ringsumher wurde stärker, die Harfen ertönten weit lieblicher; und es war; als ob die Millionen lächelnder Köpfe im Saale, wo der Baum wuchs, nickten und sängen: "Alles muß man kennen! Der Mensch ist der Herr der Erde." Und es waren keine blutigen Tränen mehr; welche von den Blättern des Erkenntnisbaumes fielen, es waren rote, funkelnde Sterne, die er zu erblicken glaubte. "Komm mit, komm mit!" lauteten die bebenden Töne; und bei jedem Schritte brannten des Prinzen Wangen heißer, sein Blut bewegte sich stärker. "Ich mußt" sagte er. "Es ist ja keine Sünde, kann keine sein! Weshalb nicht der Schönheit und der Freude folgen? Sie schlafen sehen will ich, es ist ja nichts verloren, wenn ich sie nur nicht küsse, und das tue ich nicht, ich bin stark, ich habe einen festen Willen!"

Und die Fee warf ihre strahlende Tracht ab, bog die Zweige zurück; und nach einem Augenblick war sie darin verborgen.

"Noch habe ich nicht gesündigt!" sagte der Prinz, "und will es auch nicht." Und dann zog er die Zweige zur Seite, da schlief sie schon, schön, wie nur die Fee im Garten des Paradieses es sein kann; sie lächelte im Traume, er bog sich über sie nieder und sah zwischen ihren Augenlidern Tränen beben.

"Weinst du über mich?" flüsterte er. "Weine nicht, du herrliches Weib! Nun begreife ich erst des Paradieses Glück; dieses strömt durch mein Blut, durch meine Gedanken, die Kraft des Cherubs und des ewigen Lebens fühle ich in meinem irdischen Körper; möge es ewig Nacht für mich werden, eine Minute wie diese ist Reichtum genug!" Und er küßte die Tränen aus ihren Augen, sein Mund berührte den ihren.

Da krachte ein Donnerschlag, so tief und schrecklich, wie niemand ihn je gehört hatte, und alles stürzte zusammen, die schöne Fee, das blühende Paradies sank so tief, so tief, der Prinz sah es in die schwarze Nacht versinken, wie ein



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kleiner leuchtender Stern strahlte es aus weiter Ferne! Todeskälte durchfeuerte seinen Körper, er schloß sein Auge und lag lange wie tot.

Der kalte Regen fiel ihm in das Gesicht, der scharfe Wind blies um sein Haupt; da kehrten seine Sinne zurück. "Was habe ich getan!" seufzte er. "Ich habe gesündigt wie Adam, gesündigt, so daß das Paradies versunken ist!" Und er öffnete seine Augen; den Stern in weiter Ferne, den Stern, der wie das gesunkene Paradies funkelte, sah er noch — es war der Morgenstern am Himmel.

Er erhob sich und war im großen Walde, dicht bei der Höhle der Winde; und die Mutter der Winde saß zu seiner Seite, sie sah böse aus und erhob ihren Arm in die Luft.

"Schon den ersten Abend!" sagte sie, "das dachte ich wohl! Ja, wärest du mein Sohn, so müßtest du in den sack!"

"Da soll er hinein!" sagte der Tod. Das war ein starker alter Mann mit einer Sense in der Hand und mit großen schwarzen Schwingen. "In den Sarg soll er gelegt werden, aber jetzt noch nicht; ich zeichne ihn nur an, lasse ihn dann noch eine Weile in der Welt herumwandern, seine Sünde sühnen, gut und besser werden. Ich komme einmal. Wenn er es dann am wenigsten erwartet, stecke ich ihn in den schwarzen Sarg, setze ihn auf meinen Kopf und fliege gegen den Stern empor; auch dort blüht des Paradieses Garten, und ist er gut und fromm, so wird er hineintreten; sind aber seine Gedanken böse und das Herz noch voller Sünde, so sinkt er mit dem Sarge tiefer, als das Paradies gesunken ist, und nur jedes tausendste Jahr hole ich ihn wieder, damit er tiefer sinke oder auf den Stern gelange, den funkelnden Stern dort oben."


Copyright: arpa, 2015.

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