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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Die Störche

Auf dem letzten Hause in einem kleinen Dorfe stand ein Storchnest. Die Storchmutter saß im Neste bei ihren vier Keinen Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel, denn der war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein Seines Stück davon enfernt stand auf dem Dachrücken ganz stramm und steif der Storchvater; er hatte das eine Bein unter sich aufgezogen, um doch einige Mühe zu haben, während er Schildwache stände. Fast hätte man glauben mögen, daß er aus Holz geschnitzt wäre, so stille stand er. "Es sieht gewiß recht vornehm aus, daß meine Frau eine Schildwache beim Nest hat!" dachte er; "sie können ja nicht wissen, daß ich ihr Mann bin, sie glauben sicher, daß ich kommandiert worden bin, hier zu stehen. Das sieht recht vornehm aus!" Und er fuhr fort; auf einem Beine zu stehen.

Unten auf der Straße spielte eine ganze Schar Kinder, und da sie die Störche gewahr wurden, sang zuerst einer der mutigsten Knaben und später alle zusammen den alten Vers von den Störchen:

"Storch, Storch, fliege heim,
Siehe nicht auf einem Bein,
Deine Frau im Neste liegt,
Wo sie ihre Zungen wiegt.
Das eine wird gehängt,
Das andre wird versengt,
Das dritte man erschießt,
Wenn man das vierte spießt."

"Höre nur, was die Knaben singen r sagten die minen Storchkinder "sie singen, wir sollen gehängt und versengt werden!"



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"Daran sollt ihr euch nicht kehren!" sagte die Storchmutter; "hört nur nicht darauf, so schadet es gar nichts

Aber die Knaben fuhren fort zu singen, und sie ätschten den Storch mit den Fingern aus; nur ein Knabe, welcher Peter hieß, sagte, daß es unrecht sei, die Tiere zum besten zu haben, und wollte auch gar nicht mit dabei sein. Die Stores mutter tröstete ihre Jungen. "Kümmert euch nicht darum," sagte sie, "seht nur, wie ruhig euer Vater steht; und zwar auf einem Beine!"

"Wie fürchten uns so!" sagten die Jungen und zogen die Köpfe tief ins Nest zurück.

Am nächsten Tage, als die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche erblickten, sangen sie ihr Lied:

"Das eine wird gehängt,
Das andre wird versengt" —

"Werden wir wohl gehängt und versengt werden?" fragten die jungen Störche.

"Nein, sicher nicht!" sagte die Mutter. "Ihr sollt fliegen lernen, ich werde euch schon exerzieren; dann fliegen wir hinaus auf die Wiese und statten den Fröschen Besuche ab, die verneigen sich vor uns im Wasser, singen ,koax, koax'; und dann essen wir sie auf, das wird ein rechtes Vergnügen geben!"

"Und was dann?" fragten die Storchjungen.

"Dann versammeln sich alle Störche, die hier im ganzen Lande sind, und das Herbstmanöver beginnt. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit; denn wer dann nicht ordentlich fliegen kann, wird vom General mit dem Schnabel totgestochen; deshalb gebt wohl acht, etwas zu lernen, wenn das Exerzieren anfängt!"

"So werden wir ja doch gespießt, wie die Knaben sagten; und hört nur, jetzt singen sie es wieder!"

"Hört auf mich und nicht auf sie", sagte die Storchmutter. "Nach dem großen Manöver fliegen wir nach den warmen Ländern, oh, so weit von hier, über Berge und Wälder. Nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige Steinhauser gibt, die in eine Spitze auslaufen und bis über die Wolken ragen; sie werden Pyramiden genannt und sind älter, als ein Storch es sich denken kann. Da ist ein Fluß, welcher guo seinem Bette tritt, dann wird das ganze Land zu Schlamm. Man geht im Schlamm und ißt Frösche."

"Oh!" sagten alle Jungen.

"Ja! da ist es herrlich! Man tut den ganzen Tag nichts anderes als essen, und während wir es so gut haben, ist in diesem Lande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen; hier ist so kalt, daß die Wolken in Stücke frieren und in Keinen weißen Lappen herunterfallen!" Das war Schnee, den sie meinte, aber sie konnte es ja nicht deutlicher erklären.



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"Frieren dann auch die unartigen Knaben in Stückes" fragten die jungen Störche.

"Nein, in Stücke frieren sie nicht, aber sie sind nahe daran und müssen in der dunklen Stube sitzen und duckmäusern; ihr hingegen könnt in fremdin Ländern herumfliegen, wo es Blumen und warmen Sonnenschein gibt!"

Nun war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren so groß geworden, daß sie im Neste aufrecht stehen und weit umher sehen konnten, und der Storchvater kam jeden Tag mit schönen Fröschen, kleinen Schlangen und all den Storchleckereien, die er finden konnte, geflogen. Oh, das sah lustig aus, wie er ihnen Kunststücke vormachte! Den Kopf legte er gerade herum auf den Schwanz, mit dem Schnabel klapperte er als wäre er eine kleine Knarre, dann erzählte er ihnen Geschichten, alle zusammen vom Sumpfe.

"Hört, nun müßt ihr fliegen lernen" sagte eines Tages die Storchmutter, und nun mußten alle vier Junge hinaus auf den Dachrücken. O wie sie schwankten, wie sie mit den Flügeln balancierten und doch nahe daran waren hinunterzufallen!

"Seht nun auf mich!" sagte die Mutter. "So müßt ihr den Kopf halten, so müßt ihr die Flügel stellen! Eins, zwei! Eins, zweit Das ist was euch in der Welt forthelfen soll!"

Dann flog sie ein kleines Stück, und die Jungen machten einen minen unbeholfenen Sprung. Bums! da lagen sie, denn ihr Körper war zu schwerfällig.

"Ich will nicht fliegen!" sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinauf. "Mir ist nichts daran gelegen, nach den warmen Ländern zu kommen!"

"Willst du denn hier erfrieren, wenn es Winter wird? Sollen die Knaben kommen, dich zu hängen, zu sengen und zu braten? Nun, ich werde sie rufen!"

"O nein!" sagte der junge Storch uns hüpfte wieder auf das Dach wie die andern. Den dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein bißchen fliegen, und da glaubten sie, daß sie auch schweben und auf der Luft ruhen könnten; das wollten sie, aber bums! da purzelten sie, darum mußten sie schnell die Flügel wieder rühren. Nun kamen die Knaben unten auf der Straße und sangen ihr Lied:

"Storch, Storch, fliege heim!"

"Wollen wir nicht hinunterfliegen und ihnen die Augen aushacken?" sagten die Jungen.

"Nein, laßt das sein!" sagte die Mutter. "Hört nur auf mich, das ist weit wichtiger! Eins, zwei, drei! Nun fliegen wir rechts herum! Eins, zwei, drei! Nun links um den Schornstein! Seht, das war sehr gut! Der letzte Schlag mit den Flügeln war so niedlich und richtig, daß ihr die Erlaubnis erhalten sollt, morgen mit mir in den Sumpf zu fliegen! Da werden mehrere nette Storch



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familien mit ihren Kindern sein; zeigt mir nun, daß die meinen die niedlichsten sind, und daß ihr recht einherstolziert: das sieht gut aus und verschafft Ansehen!"

"Aber sollen wir uns denn nicht an den unartigen Buben rächen?" fragten die jungen Störche.

"Laßt sie schreien, was sie wollen! Ihr fliegt doch zu den Wolken auf, kommt nach dem Lande der Pyramiden, wenn sie frieren müssen und kein grünes Blatt und keinen süßen Apfel haben!" "Ja, Rache wollen wir nehmen!" zischelten sie einander zu, und dann wurde wieder exerziert.

Von allen Knaben auf der Straße war ärger, das Spottlied zu singen, als gerade der, welcher damit angefangen hatte, und das war ein ganz kleiner, er war wohl nicht mehr denn sechs Jahre alt. Die jungen Störche glaubten freilich, daß er hundert zählte; denn er war ja so viel größer als ihre Mutter und ihr Vater, und was wußten sie davon; wie alt Kinder und große Menschen sein können! Ihre ganze Rache sollte diesen Knaben treffen, er hatte ja zuerst begonnen, und er blieb auch immer dabei; die jungen Störche waren sehr aufgebracht; und wie sie größer wurden, wollten sie es noch weniger dulden; die Mutter mußte ihnen zuletzt versprechen, daß sie schon gerächt werden sollten, aber nicht eher als am letzten Tage, wo sie dort im Lande wären.

"Wir müssen ja erst sehen, wie ihr euch bei dem großen Manöver benehmen werdet! Besteht ihr schlecht, so daß der General euch den Schnabel durch die Brust rennt dann haben ja die Knaben recht, wenigstens in einer Hinsicht! Nun laßt uns sehen!"

"Ja, das sollst du!" sagten die Jungen, und so gaben sie sich gerade Mühe;



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sie übten sich jeden Tag und flogen so niedlich und leicht, daß es eine ordens tsche Lust war zuzusehen.

Nun kam der Herbst; alle Störche begannen sich zu sammeln, um fort nach den warmen Ländern zu ziehen, während wir Winter haben. Das war ein Leben! Wer Wälder und Dörfer mußten sie, nur um zu sehen, wie gut sie fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise, die ihnen bevorstand. Die jungen Störche machten ihre Sache so brav. daß sie "Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange" erhielten. Das war das allerbeste Zeugnis, und den Frosch und die Schlange konnten sie essen; das taten sie auch.

"Nun wollen wir Rache haben!" sagten sie.

"Ja gewiß!" sagte die Storchmutter. "Was ich mir ausgedacht habe, ist gerade das Richtige! Ich weiß, wo der Teich ist, in welchem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie den Eltern bringt. Die niedlichen kleinen Kinder schlafen und träumen so lieblich, wie sie später nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern ein solch kleines Kind haben, und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben. Nun wollen wir nach dem Teiche hinfliegen, eins für jedes der Kinder holen, welche nicht das böse Lied gesungen und die Störche zum besten gehabt haben!"

"Aber der, welcher zu singen angefangen hat der schlimme häßliche Knabe!" schrieen die jungen Störche, "was machen wir mit ihm?"

"Da liegt im Teiche ein kleines totes Kind, das hat sich totgeträumt; das wollen wir für ihn nehmen, dann muß er weinen, weil wir ihm einen toten kleinen Bruder gebracht haben; aber dem guten Knaben — ihn habt ihr doch nicht vergessen, ihn, der da sagte, es sei unrecht, die Tiere zum besten zu habens — ihm wollen wir sowohl einen Bruder als eine Schwester bringen, und da der Knabe Peter hieß, so sollt ihr auch allesamt Peter heißen!"

Und es geschah, was sie sagte, und so hießen alle Störche Peter, und so werden sie noch genannt.


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