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AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



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BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


Der Schweigende

Der Sohn einer Mutter, deren Ehemann schon lange tot war, lebte mit ihr im großen reichen Hause, das in einem ausgedehnten Gartengrundstück stand, weit entfernt von den Menschen. Der Garten war von großer Schönheit, enthielt kleine Teiche, Wasserfälle, breite Bäche und nahe einer Quelle, die all diese Feuchte speiste, eine Wasserfläche, die nahezu ein See war. Da niemand je von der verwitweten Frau zu Gast gebeten wurde und der Sohn keine Gefährten hatte, kannte auch keiner Garten oder Haus, und es gingen allerlei Sagen über Pracht, Seltsamkeit und Schönheit beider.

Als kleines Kind war der Sohn der vereinsamten Mutter ganzes Glück gewesen, und ihr Leid um den Tod des Gefährten schuf große Stille und Verlassenheit um sie beide. Der Knabe war ein stilles Kind, dessen liebste Beschäftigung die mit Buch und Schrift war, und der Mollah, der ihn unterrichtete, war fast sein einziger Freund, wollte man einige gutgesinnte Sklaven nicht als solche ansehen. Es schien, die Mutter, versunken in ihr eigenes Leid, bedachte nicht, was das junge Leben neben ihr verlangte, und so wurde das Schweigen um den Knaben immer größer, seine Versunkenheit in Schrift und Buch immer tiefer. Wo Reichtum ist, kann Stille und Schweigen herrschen, zumal nicht einmal ein Schritt der Sklaven zu vernehmen war auf den weichen Teppichen, die die



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Marmorboden bedeckten. So saß der Knabe bei seinen Schriften, und die Mutter bedachte nicht, daß einmal das Mannestum sich in ihm regen mußte, der langsam zum Jüngling heranreifte. Es ist wahr, der Jüngling hätte nur einen Wunsch auszusprechen brauchen, und die Dienerschaft hätte ihn mit Mädchen umgeben, so viele wie ihm gefielen. Aber auf einen solchen Gedanken kam er nicht einmal in seinen Träumen, da die Schriften der Großen ihm alles bedeuteten.

Die einzige Wandlung, die sich in dem zum jungen Mann Heranreifenden vollzog, war, daß er begann, die Nächte in den weiten Schattenbereichen des großen Gartens zu verbringen. Und der einzige Befehl, den die Diener sich erinnerten jemals von ihm erhalten zu haben, war der, man solle ihn niemals in den Nächten im Garten stören noch ihm nachgehen, noch irgend sich seiner erinnern. Dieser Befehl, der ängstlich befolgt wurde, weil das gesamte Hausgesinde den stillen, gütigen Jüngling liebte und bemitleidete, wurde auch deshalb nicht vergessen, weil die Worte, die ihn zum Ausdruck brachten, die letzten waren, die irgend jemand von den Lippen des Jünglings zu hören bekam.

Er erkrankte nicht, er versank nicht in Schwermut, er hörte nur auf zu sprechen. Sein Leibsklave war der erste, der sich erschreckt dieser Wandlung bewußt wurde; mit allen Mitteln einer Anhänglichkeit, die schon aus der frühesten Knabenzeit des Jünglings stammte, versuchte Fuad, seinen jungen Herrn zu überreden, ihm das Rätsel seines plötzlichen Verstummens zu erklären. Aber der Jüngling lächelte, schüttelte den Kopf und schwieg. Die Mutter, die sich endlich einmal um den Sohn beunruhigt zeigte, wurde auf die gleiche Art abgewiesen, und nur der alte Mollah, zu dem der Jüngling eine warme Zuneigung hegte, erhielt ein Zettelchen gereicht, darauf



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zu lesen stand: »Befrage mich nicht, Ehrwürdiger, denn ein Gelübde bindet mich.«

Ein Gelübde aber ist heilig, und niemand darf ihm nachforschen, will er sich nicht der Ehrfurchtslosigkeit schuldig machen. So zeigte sich der Mollah befriedigt, wenn er auch Kummer empfand, als der Jüngling nach kurzem auch auf seine Dienste verzichtete. Im Hause war viel davon die Rede, daß der junge Gebieter sich jetzt immer des Nachts innerhalb der Gartenweiten aufhielt und dann den größten Teil des Tages schlief, kaum etwas zu sich nahm und, wenn er sich in seinen Räumen befand, auf den Bodenpolstern saß und schrieb. Die älteste Dienerin Akuleh, die des Jünglings Amme gewesen war und sich auch der Herrin gegenüber etwas herausnehmen durfte, sagte ohne Scheu: »Herrin, es gibt nur zwei Dinge, die unsrem jungen Gebieter helfen können, und du mußt eines davon anwenden: entweder du mußt einen großen Hekim rufen, daß er den Grund der Wandlung unsres Herrn herausfinde, oder du mußt ihn verheiraten.« Aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufgeschüttelt, wenn auch nicht in solchem Maße, wie es die treue Dienerin erhoffte, fragte die Herrin, müde und langsam wie immer sprechend: »Wer sollte wohl einen Jüngling heiraten wollen, der niemals spricht? Mir ist der Hekim lieber. Bestelle den besten und berühmtesten, den es gibt.«

Das wurde getan, und die alte Amme unternahm es auch, ihrem geliebten Jüngling mitzuteilen, daß der Arzt käme, ihn zu überprüfen. Der Jüngling lächelte, strich ihr liebevoll über die verrunzelte Wange, zuckte die Achseln und schien sich nicht zu wehren. Als der gelehrte Arzt dann kam, überreichte ihm der Jüngling einen mit schönster Höflichkeitsschrift gezierten Zettel, darauf zu lesen stand: »Gelehrter Herr, bemüht Euch nicht um mich, denn ich bin vollkommen gesund, habe nur ein Gelübde geleistet,



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für einige Zeit nicht zu sprechen. Habet die Gnade, mich mir selbst zu überlassen.« Der Arzt verbeugte sich ehrfurchtsvoll und ging seiner Wege, den Beutel voll Gold.

»Bleibt also nur das Mittel der Heirat«, sagte die alte Amme und zählte der teilnahmslosen Herrin verschiedene Namen von Müttern auf, deren Töchter wert wären, des jungen Gebieters Gemahlin zu werden. So wurde eine Ehevermittlerin geholt, der es, wie bekannt, vorbehalten bleibt, die Verbindung herzustellen zwischen den Ehereifen, und diese geschäftstüchtige Frau, beglückt, daß sie für die mit großem Reichtum Bedachten arbeiten durfte, zählte eine Reihe von Mädchen auf, die aus den verschiedensten Gründen für die Ehre geeignet seien, in dieses Haus hineinzuheiraten. Die Herrin saß da, rauchte eine ihrer kleinen Opiumzigaretten nach der anderen und schien nichts zu hören. Plötzlich aber horchte sie auf, wurde aufmerksam und fragte: »Dieser Schükri Bey, von dessen Frau und Töchtern du sprichst, ist es der, welcher einmal am Sereskerat war?« Die Vermittlerin stimmte eifrig zu. »Er ist es, Herrin!« »Gut, gut so. Erinnerst du dich, Akuleh, daß er ein Freund des Herrn war? Auch kannte ich seinen Harem. Wenn ich mich recht besinne, so hatte er drei Töchter; ist es so, Akuleh?« Die alte Amme stimmte lebhaft zu, und jetzt war unversehens alles in Ordnung. Die Herrin gab Befehle, es wurde ihr versichert, sie werde sogleich bedient werden, und wenn alles stimme, könne die Hochzeit schon in vier Tagen stattfinden.

Da es üblich ist, daß diese Dinge unter den Frauen erledigt werden, so fiel es auch nur aus übergroßer Zuneigung der alten Akuleh ein, dem Jüngling mitzuteilen, was über ihn beschlossen sei. Er nahm auch dieses ebenso hin, wie er die Anmeldung des Hekim angenommen hatte, streichelte wiederum die runzelige Wange, zuckte die Achseln und lächelte, wonach er sich in seine Schriften



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vertiefte. Als sein Leibsklave am Tage danach fragte, ob Befehle zu geben seien wegen der Hochzeitstafel, erfuhr Fuad eine energische Abwehr, die sich durch so ausdrucksvolle Gebärden äußerte, daß ein Mißverstehen nicht möglich war. Und auf diese Weise kam das seltsame Geschehen zustande, daß zwar ein Imam die Worte sprach, die eine Verehelichung bedeuten, daß aber niemand diese Worte hörte. Weder der junge Gebieter noch seine Braut befanden sich in den Räumen, zwischen denen der Imam seine Worte sprach, und nur dieser freundliche Mann allein war davon überzeugt, daß hier eine Eheschließung stattgefunden habe. Der Jüngling, wie immer um diese Dämmerstunde, hatte sich in die Gärten begeben, die Braut, die schöne, stolze, hochmütige Nuriah, saß in dem ihr bereiteten prächtigen Raume und wartete auf den Ehemann, der niemals kam.

Nuriah hatte sich zu dieser Heirat nur deshalb überreden lassen, weil ihr Wunderdinge von dem Reichtum des jungen Mannes erzählt worden waren und man ihr zugleich versicherte, sie werde eine sehr leicht zu behandelnde Schwiegermutter bekommen. Alles das mochte ja nun gut und recht sein, dachte die schöne Nuriah, aber solche Behandlung, wie hier allein und vergessen auf dem Prachtbett zu sitzen, vorher keinen Brautthron, später keine Geschenke -nichts, gar nichts, wie es sich gehörte -, nein, das ließ sie sich nicht gefallen! Froh, ihre eigene Sklavin mitgebracht zu haben, ließ sie sich von dieser, die sich im Nebenraum befand, ihre Kleider bringen, und mit der ersten Morgenfrühe gingen zwei tief verhüllte Frauen leise davon, voll Entrüstung ein Haus verlassend, wo die stolze Tochter Schükris so mißachtet worden war.

Es muß, um der Wahrheit ihr Recht zu geben, berichtet werden, daß im Hause alles lachte über dieses erstaunliche



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Geschehen, alles außer Akuleh. Diese Getreue beruhigte sich nicht bei dem Mißerfolg, begab sich vielmehr zwei Tage darauf in das Haus des Schükri und hörte sich dort von der erzürnten Mutter der Nuriah mit demütig gesenktem Haupte alles an, was an Bestrafung für solche Behandlung eines Juwels gleich der Nuriah eigentlich verhängt werden müßte. Als die erzürnte Frau dann aus Erschöpfung aufhörte zu schelten, sagte Akuleh leise aber deutlich: »Vergib deiner Dienerin, Herrin, aber mir will scheinen, der Fehler lag daran, daß man diese so schöne Nuriah auswählte für unser stilles Haus. Sah ich nicht noch eine andere Tochter bei dir, und wäre diese vielleicht etwas weniger schön?«

Wiederum um die Wahrheit zu ehren, muß hier gesagt werden, daß Akuleh ebenso wie alle Skiavinnen des Hauses voll Schrecken das hochmütige Wesen der Nuriah bemerkt hatten und daß die alte Akuleh sich von einem weniger schönen Mädchen Besseres für die Zukunft ihres Lieblings wie des ganzen Hauses erhoffte. Nachdem sie nun auf diese Äußerung hin wiederum viel darüber zu hören bekam, daß in diesem Hause nur und ausschließlich schöne Töchter vorhanden seien, flüsterte endlich eine neben ihr sitzende Dienerin Akuleh kaum hörbar zu: »Frage nach Kerimeh.« Die Alte ließ der Hausherrin noch eine Weile Zeit für ihre neuerliche Entrüstung und erhaschte darauf wiederum eine Atempause. Mit ihrer leisen, aber immer deutlich hörbaren Stimme sagte sie, dabei zu Boden blickend: »Und wie ist es mit Kerimeh, Herrin?«

Eisiges Schweigen entstand, so daß Akuleh erstaunt aufsah; dann erklang ein schrilles Lachen, das aus dem Munde der schönen Nuriah kam und alle Lieblichkeit der Züge vernichtete. »Kerimeh? Das ist ein trefflicher Gedanke! Ihr will ich es gönnen, sie soll es erleben, daß



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sich niemand um sie kümmert! Ja, Mutter, lasse Kerimeh rufen; ist dein Schwesterkind uns nicht lange genug eine Last gewesen? Ruft sie, schnell, ruft sie, ihr faules Volk!« Einen tiefen Seufzer der Dankbarkeit tat Akuleh und sagte dem Kismet Dank, daß diese böse und harte Nuriah nicht mehr in ihrem Hause weilte. Dann schaute sie gespannt auf den Vorhang, der Kerimeh freigeben mußte, und als es geschah, hielt sie den Atem an und wiederholte den Dank an das Kismet. Nicht daß das junge Geschöpf, das eintrat, etwa so wunderbar schön gewesen wäre, um bei ihrem Anblick zu Verstummen, aber das schmale liebliche Antlitz trug einen so rührenden Ausdruck, daß der Wunsch erweckt wurde, die ganze zierliche Gestalt zu umfangen und vor Ungemach zu schützen. Sie warf im Eintreten einen angstvollen Seitenblick auf Nuriah, ging dann zu deren Mutter, verneigte sich tief und murmelte mit leiser Stimme: »Du hast befohlen, Herrin?«

Ehe die ältere Frau jedoch etwas erwidern konnte, rief schon wieder Nuriah, laut, hart und schrill lachend: »Du hast nun das große Kismet zu erwarten, Kerimeh, und zugleich wirst du uns endlich aus den Augen kommen, meinen Schwestern und mir, du, die uns immer verhaßt war! Du wirst an meiner Stelle die Frau jenes stummen Bey sein, dem ich scheinbar vermählt wurde, den ich aber niemals sah und darum verließ, unberührt, wie ich sein Haus betrat. Gehe nun du und lasse dich behandeln wie eine lästige Sklavin . . . das sei dein Los, und möge es dir reichlich bemessen werden!«

Kerimeh hatte bei diesen Worten ihren Schleier, der nur als Schmuck herabhing, vorgezogen und sich damit Augen und Ohren verhüllt. Sie stand in der Mitte des weiten Haremraumes, in dem die Frauen der Familie und die zahlreichen Dienerinnen am Boden saßen, mit einer großen Stickerei beschäftigt. Nuriah allein hatte sich erhoben



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und war nach ihrem Ausbruch schnell davongegangen. Die Frauen sahen kurz hoch, schauten auch wohl auf Kerimeh, doch schienen ihnen diese Auftritte so gewohnt zu sein, daß sie sich weiter darum nicht kümmerten. Anders Akuleh. Sie hatte sich erhoben, und mit ihr stand jene Dienerin auf, die ihr vorher den Namen Kerimeh zugeflüstert hatte; beide gingen zusammen dorthin, wo das Mädchen Kerimeh wie preisgegeben und einsam stand, und Akuleh legte den Arm um sie, zugleich den eigenen Schleier um sie schlagend.

»Herrin«, sagte sie ernst und fast feierlich, »ich sehe, daß dieses Mädchen hier keine Heimat hat; wolle mir gestatten, sie mit mir zu nehmen, wie sie ist, wartet doch unserer Sänften eine draußen. Ob sie nun zustimmt, die Gemahlin meines Herrn zu werden, oder nicht, das stehe danach in ihrem Belieben, nur gib sie mir mit, ich bitte dich, Herrin!« Kerimeh hatte einen Blick in die Augen der ihr fremden alten Frau getan und sich dann in deren Arm geschmiegt, wobei ihr ein tiefer Seufzer der Müdigkeit entfuhr. Ehe noch die Hausherrin Akuleh antworten konnte, erhob sich eine andere schöne junge Frau und sagte gelangweilt: »Frau Mutter, Ihr würdet uns allen eine Wohltat erweisen, wenn Ihr erlaubtet, daß diese unser Haus verläßt, hätten wir doch dann endlich Frieden vor dem Geschrei Nuriahs. Tut es, Frau Mutter, und die Ruhe der Wälder wird sich über uns alle senken.« Kerimeh hob den Kopf, sah sich erwartungsvoll um, und Akuleh spürte das Zittern des jungen Körpers in ihrem Arm. Dann sagte die Hausherrin müde und auch gelangweilt: »So sei es; nehmt sie mit und sagt eurer Herrin mein ehrfurchtsvolles Gedenken. Gehe, Kerimeh . . Allah ismagladih.«

Akuleh wandte sich wortlos zum Eingang des großen Raumes, das zitternde Mädchen fest umschließend. Die



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Dienerinnen, die sie auf dem Wege zum Haremshof sahen, wo die Sänfte und deren Träger warteten, wichen scheu zur Seite und taten so, als bemerkten sie das Außergewöhnliche nicht, das sich hier begab. Als sich die Geborgenheit im Inneren der Sänfte um das verängstigte Mädchen schloß, schwand auch alle mühsam bewahrte Fassung dahin, und sie flüsterte bange: »Um aller guten Geister willen, ich beschwöre dich, wohin bringst du mich, und was steht mir bevor?« Akuleh sagte beruhigend und voller Mitleid: »Fürchte dich nicht, kleine Herrin, es steht dir nichts Böses bevor. Ich habe einen, den ich mehr liebe als ein eigenes Kind, trank er doch an meiner Brust; er ist ein guter, sanfter Knabe, aber irgendein Zauber hat sich über ihn gesenkt, so daß er nun schon viele Monde lang kein Wort mehr spricht. Es war mein Gedanke, ihn durch eine Heirat vom bösen Zauber zu heilen, doch hat sich diese Nuriah Hanoum als wenig gut erwiesen; auch gehört sie mit ihrer lauten Art nicht in unser stilles Haus. Du aber, kleine Herrin, die du still und sanft bist und Leid erfuhrst, du wirst ihm helfen können, dessen bin ich sicher.«

Kerimeh hörte zu, eng an die Alte geschmiegt, wie ein Kind, dem man eine seltsame Geschichte erzählt. Dann fragte sie immer noch angstvoll und leise: »Aber des Jünglings Mutter und die Frauen, die noch im Hause sind, was werden sie zu mir sagen, zu mir, die ich immer der Eindringling bin?« Akuleh lachte ihr gutes tiefes Lachen. »Des Herrn Mutter tut keinem etwas, lebt ihrer Erinnerung und weiß nicht, ob es Tag ist oder Nacht, und andere Frauen, außer den Sklavinnen, sind keine im Hause. Sei darum ohne Sorge, kleine Herrin . . . und hier sind wir zudem schon angelangt. Steige mit Vorsicht aus, und sei dein Fuß gesegnet, der diese Schwelle überschreitet.« Kerimeh sah die Alte an, die ihrem jungen



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gehetzten Leben zum ersten Male einen Segensspruch gab, und niemals vergaß sie es, daß Akuleh die erste war, die sie hebend geleitet hatte.

Ein Gemach wurde ihr dann angewiesen, und Akuleh brachte Erfrischungen herbei, breitete Daunendecken auf einem Lager aus und beredete das junge verängstigte Wesen, sich erst einmal auszuruhen. »Du lasse alle Sorgen fahren, kleine Herrin, und wisse, daß du willkommen bist, geborgen und behütet. Genieße der Ruhe eine kleine Weile; wir lassen indessen deine Gewänder holen, und der Imam wird auch bald da sein. Dann bist du des jungen Gebieters Weib und Herrin des Hauses. Was soll dir noch geschehen? Er aber, glaube mir, ist sanft und gut. So ruhe jetzt.«

Nach langem Entbehren hatte Akuleh wieder ein Kind, für das sie sorgen konnte, und Kerimeh fühlte sich nach banger Pein endlich beruhigt. Wie ein böser Traum wichen die Monde schon jetzt zurück, die sie im Hause der Mutter von Nuriah verbracht hatte, nachdem ihr Vater und Mutter gestorben waren. Warum die Töchter jenes Hauses sich so haßerfüllt zu ihr gebärdet hatten, begriff sie auch jetzt noch nicht, und es war niemand da, der ihr hätte sagen können, daß ihr sanftes Wesen es war zusammen mit ihrer lieblichen Schönheit, was jene stolzen Mädchen reizte. Aber fort damit, jetzt galt es, sich in das neue Leben zu finden!

Als nach wenigen Stunden Akuleh leise das Gemach betrat, fand sie ihren Schützling fest schlafend, und sie .stand lange da, das liebliche junge Kind zu betrachten, das so im Schlummer von wahrhaft ergreifender Hilflosigkeit war. Sie schlich unhörbar davon, und es gelang ihr, die Mutter des Jünglings zu überreden, sich das Mädchen, das auch ihre Tochter werden sollte, zu betrachten. Schwerfällig und langsam kam die müde Frau



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herbei, stand dann und sah auf die schlafende Jugend herab. Sie nickte und murmelte: »Ein liebliches Kind.. mein Sohn ist gesegnet«, legte leicht die Hand auf den dunklen Kopf mit seinem schlafgezausten Lockenhaar und schlich in ihre selbstgeschaffene Einsamkeit zurück. Dann wurde Kerimeh vorsichtig geweckt. Kaweh wurde gebracht, die Dienerinnen standen herum, bereit, sie zu schmücken, denn ihre Gewänder waren gebracht worden, und der Imam hatte sein Kommen angesagt. Aber Kerimeh wies alles von sich, sagte leise und zögernd: »Tut mir nichts an vor alles diesem, ich bitte euch! Da ist ein blauer Schleier, er hüllt die ganze Gestalt ein, sucht ihn heraus; er war meiner Mutter zu eigen; ihn will ich tragen, doch geschmückt will ich nicht werden.«

Dann kam der Imam und erfuhr von der Herrin des Hauses, daß die zwei Tage vorher geschlossene Ehe nicht gelte, da das Mädchen unberührt zur Mutter zurückkehrte und auch nicht anwesend gewesen sei, als der Imam die Worte des Korans sprach. »Doch jetzt ist eine da, die meine Tochter werden wird«, sagte die Herrin, »ich werde neben ihr stehen, wenn du sprichst, Ehrwürdiger, und Sorge tragen, daß mein Sohn dich hört, wenn auch ein böser Genieh ihn der Sprache beraubte und er dir nicht antworten wird. Gewährst du, daß ich es an seiner Statt tue?« Der Imam stimmte zu, wollte sich nur von der Anwesenheit des Jünglings überzeugen. Er sah ihn bei seinen Schriften sitzen und eifrig vergleichen und schreiben. »Ich werde dich jetzt mit einem Mädchen trauen, das nebenan steht, mein Sohn; ist es dir angenehm, daß deine Mutter für dich Antwort gibt?«Ober des Jünglings Züge huschte es wie Erstaunen-, denn er glaubte sich zu erinnern, daß Akuleh ihm schon früher etwas von einer Heirat gesagt hatte, aber dann zuckte er, wie oftmals, lächelnd die Achseln und neigte den Kopf als Zustimmung;



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er dachte, er habe sich vermutlich in dieser Nebensächlichkeit geirrt, und war es zufrieden, wenn man ihn nur gewähren ließ.

So stand denn die Herrin des Hauses im Nebenzimmer zusammen mit Kerimeh und Akuleh, die sich ausbedungen hatte, da sein zu dürfen bei einer Handlung, die ihres Lieblings Glück begründete, wie sie überzeugt war, und der Imam stellte seine Fragen. Die junge Stimme antwortete klar und ruhig für sich selbst, die ältere für den Jüngling, der lauschend den Kopf hob, als er die klare Stimme der Kerimeh zum ersten Male vernahm. Der Imam fand es angesichts der seltsamen Umstände dieses Geschehens für angemessen, dem Jüngling zu sagen: »Bedenke, mein Sohn, du bist nun verehelicht. Zwar kannst du die Ehe lösen, wenn du die alten Worte der Trennung sprichst, und ich vermag dazu nichts zu tun. Hast du mich verstanden, mein Sohn?«

Der Jüngling hatte sich erhoben, um dem Imam Ehrfurcht zu erweisen, und grüßte ihn nun geziemend, wobei er den Kopf neigte. Noch einen Blick der Ratlosigkeit warf der Imam auf diesen so plötzlich stumm gewordenen klugen jungen Mann, dann verließ er ihn mit einem gemurmelten guten Wunsche, und der Jüngling setzte sich wieder nieder, um seine Schreibarbeit weiterzuführen.

Als er, ganz vertieft in einige schwierige Vergleiche zwischen alten Niederschriften, nach seinem Schreibrohr griff, um eine Anmerkung zu machen, traf er auf weiche Finger, die ihm das Schreibrohr reichten. Er erschrak furchtbar, wandte sich um und stieß einen unbeherrschten Laut des Erstaunens aus, denn er sah neben sich eine verhüllte Gestalt hocken, die von Kopf bis Fuß in einen blauen Schleier eingehüllt war. Sein ganzes Gesicht war eine einzige Frage, und auf diese stumme Frage antwortete dieselbe klare Stimme, die vorhin dem Imam erwidert



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hatte. »Vergib mein Eindringen, o mein Gebieter, aber ich bin dein Eheweib, wenn du es so gestattest. Wolle mir glauben, daß ich dich niemals stören werde, nur sagte mir Akuleh, daß du dich mit Schriften beschäftigst, und ich liebe Schriften so sehr. So wagte ich es, zu kommen und dir meine Dienste anzubieten, wenn etwas vorzutragen ist oder dergleichen. Weisest du mich aber hinaus, gehe ich sogleich, ich will nicht lästig fallen, nur entbehrte ich Schriften so lange, verstehst du, Herr.«

Diese Worte, ruhig und ohne besondere Betonung gesprochen von einer Frau, nein, einem ganz jungen Wesen, verwunderten den Jüngling so sehr, daß er sich bemühte, ihr sein fragendes Erstaunen zu zeigen. Ist es doch schon eine große Seltenheit, daß ein Mann zu schreiben und zu lesen versteht, bei einer Frau aber vollkommen unerhört. So versuchte der Jüngling, dem Mädchen klar zu machen, sie möge die Wahrheit ihrer Worte beweisen und ihm etwas vorlesen. Er reichte ihr eine alte Schrift, wies darauf, machte einige Zeichen, die zwar sehr unbeholfen waren, die Kerimeh aber sogleich verstand. Und sie las.

Es war eine uralte Abhandlung über das, was von einem Dichter verlangt wird, im Gegensatz zu dem, was von einem Deuter der heiligen Schriften zu erwarten ist. Die junge eifrige Stimme las die etwas verworrenen Worte langsam und deutlich vor, wobei Kerimeh, ohne sich dessen bewußt zu sein, den hinderlichen Schleier zurückgeschlagen hatte. Der Jüngling saß reglos, sah sie an, als erlebe er ein Wunder, hörte zu und nahm den Klang der Stimme in sich auf. Im Nebenzimmer, hinter dem Vorhang, der es abschloß, standen zwei Frauen und wußten nicht, daß sie sich fest umschlungen hielten in freudigster Erregung: Akuleh und die Mutter des Jünglings. Sie begriffen kaum, was sich da ereignete, denn als sie den Vorhang hoben, damit die eben angetraute junge Frau zu



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ihrem Gatten gelange, hatten sie nichts auch nur annähernd Ähnliches erwartet.

Jetzt stockte die klare Stimme, und das kam daher, daß der Jüngling eine Hand auf die alte Schrift legte und wieder mit tausend Fragen im Blick auf das Mädchen schaute. »Du meinst, Herr, wieso ich zu lesen vermag?« Er nickte eifrig, beugte sich gespannt vor. »Mein Bruder, Herr, der auch verstarb und den ich sehr liebte, denn er war mein Zwilling, hatte sich geweigert zu lernen, wenn ich es nicht mit ihm täte. So lernten wir zusammen, bis wir beide vierzehn Jahre alt waren. Dann zog er mit dem Vater fort, und beide kehrten nicht zurück, die See verschlang sie. Gleich danach starb meine Mutter, und ich war zwei Jahre lang bei ihrer Schwester. Dort durfte ich nicht lesen, sie sagten, es mache häßlich, und das tut es doch nicht, nein, Herr?« Und jetzt geschah das, was weder die Mutter noch die Amme jemals für möglich gehalten hätten: ein zweifaches heiteres junges Lachen erscholl hinter dem Vorhang.

Die beiden Frauen lauschten wie erstarrt, dann fielen sie sich in die Arme und weinten sich alle Angst und Sorge vom Herzen, wonach sie die zwei jungen Menschen sich selbst überließen. Dort sagte jetzt Kerimeh leise: »Warum nur, Herr, bemühst du dich, mir etwas durch Gebärden verständlich zu machen? Willst du es mir nicht aufschreiben?« Der Jüngling schlug sich an die Stirn, schüttelte den Kopf, lachte leise auf und begann zu schreiben. Kerimeh schaute ihm dabei über die Schulter und flüsterte die Worte, die er schrieb, vor sich hin, bei welcher gemeinsamen Beschäftigung ihn der junge Atem umwehte, als fächle ein leichter Wind ihm Würzkräuter-Duft zu. »Ich habe niemanden gehabt, mit dem ich Schrift austauschen konnte, denn hier im Hause kann keiner lesen oder schreiben, so war es oft mühsam. Sage, du



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bist wirklich meine Frau?« An seinem Ohr hauchte es: »Soweit ein Imam mich dazu machen konnte, bin ich es.« Er wandte den Kopf, lächelte und schrieb: »Ich verstehe. Und wie ist dein Name, daß ich ihn in mir wiederhole?« Wieder das weiche Hauchen: »Kerimeh heiße ich.« Er schrieb: »Wie gut bist du benannt, da du die Barmherzigkeit heißt! Einem Verstummten leihst du Sprache, einem Einsamen gewährst du Gemeinschaft. Lasse mich, sei deinem Namen gemäß barmherzig, dir der verlorene Bruder sein.., willst du es mir gewähren?«

Mit diesen Worten hatte der Jüngling mehr getan, als er jemals verstehen würde: er hatte Kerimeh Sicherheit, Ruhe, ja eine Heimat gegeben. Sie stieß einen Laut aus, der wie ein ganz leiser Jubelruf klang, und sagte bittend: »Wie gerne will ich das gewähren! Wenn du aber mein Bruder bist, dann darf ich dich auch nennen mit seinem Namen, darf ich das?« Der Jüngling nickte, sah sie erwartungsvoll an. »Dann also Osman - oh, wie sanft es mir über die Zunge gleitet, wie wohl es tut, den geliebten Namen wieder sagen zu dürfen! Osman . . . Osman . Osman! «

Die Silben glitten weich und liebeerfüllt von den jungen Lippen, und der, dem sie galten, hörte wie verzaubert zu. Er sah sie an, die wie aus dem Nichts zu ihm gekommen war, aus dem Schweigen um ihn erstanden, und er prägte sich ihre Züge ein, so als studiere er eine schöne verschlungene Goldschrift. Die Stirn war hoch, umwallt von dunklen Locken; die Augen waren von einem tiefen Grau, das manchmal ins Schwarze spielte; schmale Wangen, elfenbeinfarben matt getönt, eine feine kleine Nase und ein weich geschwungener matt rosenfarbener Mund. Dieser Kopf wurde stolz getragen auf einem schlanken Hals, und die Schultern hielten sich frei und sicher. »Was schaust du, Osman? War ich schamlos, daß ich den



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Schleier zurückschlug? Es liest sich nicht gut mit ihm, vergib.« Sie hob die Hand zum Schleier, aber die seine faßte danach, und er schüttelte verneinend den Kopf. Schnell schrieb er: »Lasse das, Kerimeh; ich will meine Schwester sehen, zumal sie meine Imam-Frau ist!« Und wieder lachten sie beide zusammen.

Über all diesem hatte keines darauf geachtet, daß der Tag schon zu sinken begann, so spät er das auch um die Zeit der Rosen tut. Plötzlich aber erstarrte die Haltung des Jünglings, und sein Lachen brach kurz ab; er hob lauschend den Kopf. Aus dem weiten Garten, zu dem die hohen Bogentüren des Gemaches geöffnet standen, erklang ein Vogelruf . . . oder war es keines Vogels Ruf? Lang gezogen, wie klagend, voll von einem Flehen, das unwiderstehlich war. Der Jüngling hob die Hand, wies nach außen, und ehe sie begriff, was geschah, hatte er sich erhoben, als werde er gezogen, sich zu der hohen Bogentür gewandt, und ohne sich umzuschauen, war er in dem tiefer werdenden Schatten des Gartens verschwunden.

Kerimeh saß dort und starrte ratlos auf die dunkle 0ffnung der Bogentür. Was war das? War es der böse Zauber, von dem Akuleh in der Sänfte gesprochen hatte? Verlor sie so ihren Bruder, kaum daß sie ihn wiedergewonnen hatte? Sie stieß einen kleinen Klagelaut aus und sagte vor sich hin: »Aman. . . Aman. . . näh japalim? Ach, was soll ich tun?« Aber eine wachte, jene, deren Name Akuleh war und die freundlich spaßend die anderen Diener »Akileh« nannten, was die Klugheit bedeutet. Sie hatte sich nahe dem Vorhang zum Nebenraum am Boden niedergelassen, war aber schon aufgestanden, als sie jenen Vogelruf vernahm, der immer beim Abendsinken die Lockung bedeutete, der der Jüngling folgte. Nun wußte die treue Alte ihn für die Dauer der Nacht abwesend in



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den weiten Gärten, wohin ihm niemand folgen durfte, und so schlich sie vorsichtig hin zu dem Mädchen, das sie selbst heute herbeigeholt hatte, um als Löserin bösen Zaubers zu wirken. Wie ratlos würde die Kleine sein, wie erschreckt und hilflos, sie, die noch vor kurzem zum ersten Male seit Monden den geliebten Jüngling zum Lachen gebracht hatte!

»Erschrick nicht, kleine Herrin, es ist nur Akuleh, die kommt, um dich abzuholen zur Nachtruhe; willst du mit mir gehen? Ich habe alles bereitet für dich.« Kerimeh sah die Alte ratlos an. »Wie kann ich denn zur Ruhe gehen, da er mich verließ und ohne ein Wort fortging! Was geschieht hier, oh Akuleh?« Die Alte hockte sich neben Kerimeh nieder, umfing sie sanft und sagte: »Das ist es eben, woher sein Schweigen rührt, mußt du wissen, kleine Herrin; seitdem jeden Abend der Lockruf erklingt, verbringt er die Nächte in den weiten Gärten, kehrt beim Morgengrauen zurück und schläft bis spät in den Tag hinein. Er ißt kaum, trinkt durstig das kühle Wasser und spricht kein einziges Wort, weiß auch, so scheint es, von nichts, das um ihn herum vorgeht. Darum, kleine Herrin, suchte ich für ihn Heilung, und du, die gleich ihm die Schriften kennt, wurdest uns vom Kismet gesandt. Willst du es nicht versuchen, das Geheimnis zu ergründen, das ihn stumm macht, und ihn so dem Leben und der Freude wiedergeben, kleine Herrin?«

Kerimeh strich leise mit der Hand über die kleinen Zettel, die mit den feinen winzigen Schriftzeichen bedeckt waren und die die Unterhaltung zwischen ihr und jenem verzeichneten, den sie Osman nannte. Sie hob den Kopf, sah Akuleh in die dunklen, immer noch strahlenden Augen, strich ihr dann, genau wie es der Jüngling zu tun gewohnt war, über die braune Runzelwange und sagte leise, innig: »Ich will es versuchen, wie du gesagt hast, Djanoum, denn



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wie du sagst, brachte mich das Kismet durch deine Hilfe her und . . er ist sehr liebenswert. Ist es nicht so, Akuleh?« Tief gerührt nickte die Alte wortlos und brachte dann Kerimeh so sorgfältig zur Ruhe, daß die verlassene Kleine vermeinte, von Mutterhänden liebkost zu werden. Doch war es auch Akuleh so, als habe sie ein zweites Kind neben dem geliebten Jüngling erhalten, und sie schwor sich zum Dienst derer, die sie kleine Herrin nannte und die wie das Glück selbst über die Schwelle des schweigenden Hauses geschritten war. Was auch immer dem Jüngling in den nächtlichen Gärten geschah, im Hause, das er wie im Traume wandelnd verlassen hatte, lebte ihm ein neuer Frieden und das Erhoffen kommender Freuden.

Die Tage gingen, die Nächte flohen dahin, und Kerimeh begann es langsam ganz zu erfassen, daß sie die geehrte junge Herrin war, ja, daß ihr gerne gedient wurde. Es war schön, wieder eine Heimat zu haben, schön, nicht mehr verlacht und verspottet zu werden, aber am schönsten war es, den so schmerzlich vermißten Bruder wiedergefunden zu haben. Das junge Fühlen des Mädchens entbehrte nichts in dieser Gemeinschaft mit dem Jüngling, und das Zusammensein, das von Mittag bis zur Dämmerung währte und erfüllt war von solchen Dingen wie dem Entziffern uralter Schriften und der kühlen Leidenschaft, die solches Forschen bedingt, genügte ihr noch ganz. Doch bemerkte sie, daß der Jüngling nach dem ersten Aufatmen, mit dem er das Ende seiner Einsamkeit begrüßte, nicht fröhlicher, nein, immer bedrückter wurde. Selten nur kam es zum gemeinsamen Lachen, und häufiger wurde das stumme Anschauen, das Seufzen und Fortblicken. Bis eines Tages Kerimeh sich ein Herz nahm und fragte: »Was ist dir, mein Bruder? Tat ich etwas, das dir nicht genehm war? Siehst du es nicht gern, daß ich in deiner Abwesenheit in den Schriften lese? Bin ich dir



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zur Last, und störe ich dich in deiner Tätigkeit? Sage es mir, ich bitte dich!«

In ihrem Eifer legte sie eine bittende Hand auf seinen Ärmel, nahm sie aber schnell fort, als sie seinen Blick darauf geheftet sah. »Vergib«, stammelte sie voller Verlegenheit, »ich tat Ungebührliches. Aber ich bitte dich, sage mir, was dir ist.« Statt aller Antwort, die sonst im schnellen Beschriften eines Zettels bestanden hatte, zog der Jüngling unter vielen Schriften verborgen ein Blatt hervor, reichte es ihr und wandte dann den Blick ab. Kerimeh sah ihn an, und ihr ward bange, denn konnte dieser Zettel nicht die uralten Worte der Scheidung enthalten? »Allah Kerim, lasse es nicht so sein!« betete sie innerlich, nahm allen Mut zusammen und las. Dort aber stand dieses geschrieben:

»Du kamst zu mir, der ich ein Schatten war,
Und du bist Sonnenlicht.
Du bist bei mir, der ich ein Schatten blieb
Und meide Sonnenlicht.
Oh, bleib bei mir, ob ich auch Schatten bin,
Bleibe, mein Sonnenlicht!
Verläßt du mich, sink ich ins Schattenland,
Verbannt vom Sonnenlicht.«

Kerimeh sah auf und begegnete dem fragenden, dem flehenden Blick tief dunkler Augen, die sie so noch niemals angeschaut hatten. Ihr ganzes Sein versank für eines Herzschlages Dauer in diesen Augen, dann lachte sie leise auf, um ihr Staunen, ihre Verwirrung zu verbergen, und sagte feierlich: »Ein Dichter! So bist du also ein Dichter? Nun verstehe ich alles! Ein Gelübde, heißt es, machte dich stumm. Ist es nicht so, daß du um eines großen Werkes willen verstummtest? Daß du sprechen wirst, wenn du es vollendet hast, sag, ist es so?« Der Jüngling aber nahm ihr das Blatt mit dem Gedicht fort,



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zeigte wieder und wieder auf die Zeile, die um ihr Bleiben flehte, sah sie fragend an. Da beugte sich Kerimeh nahe zu ihm, dessen Sitzpolster das ihre berührte, legte drei Finger ihrer Rechten auf seine Stirn und sagte leise, sehr ernst: »Ich bleibe bei dir, der du mein Bruder und mein Gefährte bist, ich bleibe!« Darauf kreuzte sie die Arme und neigte das Gesicht. Er atmete tief auf, schrieb hastig, legte ihr das Blatt auf die Knie. Sie las: »Allah Kerim, wie dein Name. Ich glaube und vertraue.« Und an diesem Tage fanden sie zusammen in den alten Schriften Worte, die Juwelen waren.

Aber als die Nacht kam und er wieder auf den Ruf des lockenden Vogels hörend im Dämmern verschwand, da dachte sie vielerlei, und ein großer Entschluß reifte in ihr. Er hatte auf die Frage nach dem Grund seines Verstummens nicht geantwortet, er war auch über irgend etwas tief bekümmert, würde er sonst von sich selbst als von einem Schatten sprechen? Gewiß, man durfte der Dichter Worte nicht allzu genau nehmen, aber doch fühlte sie seine Traurigkeit, und es war ihr, als sei er wie in einem Netz gefangen, aus dem sich freizumachen ihm die Kraft gebrach. Und sie? Wozu war sie da? Gut, sie vermochte sich mit ihm kraft ihrer Schreibkenntnisse zu verständigen; war das aber genug? Wenn wirklich irgendein unheilvoller Einfluß vorhanden war, etwas, das in jenem seltsamen Lockruf lebte, dann war es ihre Aufgabe, die Aufgabe seiner Ehefrau, gleichviel ob auch in Wahrheit seine Schwester, ihm zu helfen, ihm in allem beizustehen.

Am gleichen Abend noch zu diesem Schluß gelangt, wartete Kerimeh nicht länger, sondern begann zu handeln. Von ihrem Ruhebett richtete sie sich vorsichtig auf, bedacht, kein Geräusch zu verursachen, denn Akuleh hatte ihr Lager im Nebenraum aufgeschlagen, um so den



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Schlummer der kleinen Herrin behüten zu können. Doch war dem Ruhebett gegenüber eine große weite Bogentür in dieser warmen Nacht nach dem Garten zu geöffnet, und so ging es nur darum, lautlos bis dorthin zu gelangen, ohne sich durch Seidenrauschen zu verraten. Denn zu dieser Stunde noch mußte und wollte sie ergründen, was es mit der allnächtlichen Abwesenheit ihres jungen Gatten auf sich hatte. Kerimeh griff nach dem blauen Lieblingsschleier, der sie von Kopf zu Fuß einhüllte, und glitt auf bloßen Füßen hinaus in die Mondnacht.

Zum ersten Male war sie in diesen weiten Gärten allein, zum ersten Male zur Nacht draußen, und die Schönheit des nächtlichen Lebens der Natur, der Duft, den die Pflanzen ausströmten, das ferne Rauschen der Wasser, all das nahm sie so gefangen, daß sie fast vergaß, warum sie sich hier so verstohlen herumbewegte. Dann aber erinnerte sie sich, daß ihre Schwiegermutter, die sie häufig aufsuchte, ihr stolz erzählt hatte von dem See, den die Gärten beschlossen, und wie die Seerosen dort so reichlich blühten, daß man das Wasser kaum zu sehen vermöge, und es war Kerimeh, als müsse sie diesen See entdecken, wollte sie den verzauberten Jüngling finden. So folgte sie dem Rauschen der Quelle, wußte sie doch, daß diese in den See flösse. Von Schatten zu Schatten unter den hohen Bäumen huschte sie dahin, selbst wie ein Schatten anzusehen in der dunklen Bläue ihres Schleiers, immer dem Rauschen nachgehend; der Tau auf den weiten Grasflächen streifte ihre nackten Füße, und der Duft der Nachtblumen wollte ihr nahezu die Besinnung nehmen, aber unbeirrbar folgte sie dem Rauschen. Und dann schien ihr das Herz stillzustehen, denn sie hörte eine noch nie vernommene Stimme und wußte doch sogleich, daß es die ihres jungen Gatten war. Sie war tief und ruhig, von schönem edlen Klang, und sie sprach langsam, eindringlich, sagte dieses:



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»Du hast mir, es ist wahr, Gedanken von großer Schöne gegeben, doch hast du einen hohen Preis dafür verlangt, den meines Schweigens. Ich habe dir gehorcht bisher, aber ich vermag es weiterhin nicht. Bin ich nicht von allen Menschen abgetrennt durch dein Schweigegebot? Habe ich nicht gelebt wie ein Mönch um deinetwillen, einem Derwisch gleich? Und jetzt habe ich ein junges Weib, du weißt es. Was soll werden, wenn ich um deinetwillen auch sie verliere, die mir täglich mehr ans Herz wächst?« Kerimeh, im tiefen Schatten eines Strauches verborgen, in dessen Laub sie sich einschmiegte, fürchtete, daß der laute Schlag ihres Herzens sie verraten könne; atemlos wartete sie auf die Antwort; wer und was würde nun sprechen?

Da war es, als rausche die nun nahe Quelle hoch auf und als spreche sie, nicht eine Menschenstimme. Und doch war es eine Frau, die sprach, nein, deren Worte sangen, deren Worte sich hoben und senkten, wie es die Wogen tun. Sie sagte: »Mein treuer Diener und Sklave, du weißt es, ich versprach dir den ewigen Ruhm des größten Dichters, wenn du es vermochtest, sieben Jahre lang kein Wort zu sprechen. Ich versprach, dir aus dem Tropfen der Wasser, aus dem Rauschen meiner Quelle allnächtlich neue Gedanken zu schenken, so du es vermochtest, kein Weib zu berühren. Versprach ich zuviel? Wurdest du nicht ein Dichter? Gab ich dir nicht Nächte der Berauschung in aller Schönheit des Schaffens? Was denn begehrst du mehr? Willst du Liebe des Weibes? Willst du Freude der Zecher? Willst du Freundschaft der Männer? Alles das ist nichts wert verglichen mit dem unsterblichen Ruhm des Dichters.«

Kerimeh grub sich die Nägel in die Handflächen, beugte sich vor, faßte dann die Zweige, beugte sich weiter noch vor, und jetzt sah sie! Sie sah auf die Seerosen gelagert



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ein Wesen, das wohl die Gestalt eines Weibes hatte, aber durchsichtig schien, denn die Wasserblumen schimmerten durch sie hindurch. Zu ihr hin war das Gesicht des Jünglings geneigt, und sie, die zuschaute, spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog beim Anblick seiner Traurigkeit. »Es mag sein, daß alle Freuden des Menschen dir gleich nichts erscheinen, o Peri der Nachtblumen, und auch mir war es so, als bedeute mir nur Ruhm etwas. Jetzt aber, jetzt flehe ich dich an... gib mir meine Sprache wieder, deren ich nur mächtig bin in deinem Anblick! Meine Sprache und mit ihr das Leben der Menschen und das Glück der Liebe!«

Die Peri erhob sich ein wenig, und das Wasser rauschte auf bei ihrer Bewegung. »Du willst die Liebe? Armer Tor, weißt du nicht, daß es sie nicht gibt? Liebe wäre es, verstehe mich, wenn ein junges Weib um deinetwillen sich zum Opfer brachte... Liebe, wenn sie ihr Leben lang auf die Sprache verzichtete . Liebe, wenn sie dir so deine Sprache schenkte... das aber gibt es nicht, du armer Tor, deshalb . . . « Hier aber stieß der Jüngling einen Schrei aus, denn wie aus dem Nichts sprang es ihn an, stand neben ihm, sein junges Eheweib, das den Namen der Barmherzigkeit trug. Der blaue Schleier war an dem Gesträuch hängengeblieben, und die schlanke junge Gestalt leuchtete im Mondlicht, das ihr leichtes weißes Seidengewand beschien. Wie ein Klingen war es in der Stimme des jungen Weibes, als sie sich hinneigte zu der Wasserrosen-Peri und nahezu lachend sagte: »Was weißt du, o arme Peri, von der Liebe? Was davon, was die Liebe vermag? Ist das auch ein Opfer, dem Geliebten die Sprache zu schenken, um seinetwillen zu verstummen? Und ihm auch noch dazu zu verhelfen, ein großer Dichter zu werden? 0 Peri! Nimm meine Stimme für die seine und lerne daran, was Liebe ist, du Arme!«



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Die Peri erhob sich von ihrem Blumenlager, sah die zwei Menschen an und wartete, wartete. Denn was sie sah, das nahm ihr alle Kraft, die des Verwünschens wie die des Entzauberns, und in der endlosen Folge ihrer vielen Leben zwischen den Himmeln entschwand es niemals ihrem Gedächtnis, was sich ihr jetzt zeigte. Der Jüngling lag auf den Knien, umfaßte die schmalen Hüften des Mädchens, sah zu ihr auf, hauchte: »Du liebst mich?« Sie legte die Hände um seinen Kopf, hauchte zurück: »Ich liebe dich.« »Du willst mir deine holde liebe Stimme schenken, die so weich und sanft die Sinne liebkost?« »Ich schenke dir meine Stimme, mein Herz und mein Leben und sage es dir jetzt, da ich es nie mehr werde sagen können, daß du mir Glück, Freude und Heimat bist, o mein Geliebter. Mein Geliebter, an den ich glaube und von dem ich weiß, er wird ein großer Dichter werden! Aber aus jeder seiner Dichtungen wird auch meine Stimme sprechen, denn sie lebt in seinem Herzen, ich weiß es.« Dann wandte sich Kerimeh zu der Peri, die einer silbernen Wolke gleich auf den Wassern lag, und sagte heiter: »So mache mich verstummen, Peri, du Arme, die ihre Gaben mit einem Fluch belädt! Tue, was dir zu tun bestimmt ward, denn ich habe gesagt, was ich zu sprechen hatte. Ich warte . . . «

Der Jüngling hatte sie umfaßt, plötzlich aber ließ er sie los, trat so nahe an das Wasser heran, daß seine Füße im Uferschlamm versanken, und rief: »Peri, Wasserrosenperi, ehe du ihr die Stimme nimmst, höre mich! Ich will kein Geschenk, das meinem Weibe die Stimme nimmt, sie niemals wird sagen lassen >ich liebe dich< und ihrem Kinde, so das Kismet ihr eines gewährt, nie den Klang der Mutterstimme schenkt. Nimm meinen Ruhm, den du versprachst, ich will ihn nicht! Kein unsterblicher Dichter, nein, ein sterblich glücklicher Mann will ich sein. Nimm



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dein Geschenk, es ist mir nicht wert genug für diesen Preis!«

Kerimeh stand und hörte das große Bekenntnis und war zu jedem Opfer dafür bereit, aber so von Glück durchströmt, daß sie an allen Gliedern bebte. Die Peri schaute von einem zum anderen, flüsterte im Wellenzittern: »Menschen, wunderbare und schreckliche Menschen, was käme euch gleich! Auch meine Schwestern in den großen Meeren haben nicht mehr Gewalt, als ihr sie durch die Liebe besitzt. Was aber und wer bin ich, daß ich gegen die Liebe kämpfte, durch die alles lebt?« Und sie richtete sich auf, schwebte frei über den Wassern, wie von einem Mondstrahl gehalten, hob die Arme, die wie Wassersprühen glitzerten, zur Höhe und schrie mit einer gewaltigen Stimme, gleich dem Hochbrausen einer Riesenwelle, schrie: »Ifrit, o höre! Ifrit, o höre! Liebe siegte, hörst du? Ifrit, o Ifrit!«

Da war es, als löse sich vom hellen Nachthimmel eine Wolke, die vorher nicht sichtbar war, ballte sich, stürzte nieder, immer tiefer, ward kenntlich als eines Mannes Luftgestalt. Höher noch reckte sich die Peri der Wasser, tiefer noch sank der Luft-Ifrit, und urplötzlich mit einem gewaltigen Stoß kam er herab, riß er sie hoch, immer höher und höher... und sie waren Wolke und ihr Schatten am Nachthimmel, waren fort, waren eins geworden. Aber von ganz fern her klang es, als tönten noch die Worte »Liebe siegte, Liebe siegte«, und dann löste sich vom Gesträuch der Körper eines Vogels los; auf seinem Gefieder leuchtete das Mondlicht in unzähligen Farben, und der Vogel stieß jenen Lockruf aus, der allabendlich den Jüngling herbeirief, aber auch er erhob sich mit mächtigem Flügelschlag und entschwebte der Wolke nach in den Nachthimmel.

Die Seerosen auf den Wassern schwankten leicht, und



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ihre Kelche waren geschlossen. Der Jüngling trat zu dem Mädchen, sagte leise: »Komm, mein geliebtes Weib, und lasse uns in dieser Nacht der Zauberkräfte unsere Liebe krönen und uns vereinen. Komm! Der Garten hütete so lange schon mein Geheimnis, er wird auch das unsere hüten. Komm, mein geliebtes Weib!«

Schützend barg die Nacht der Liebe hohe Feier.


Copyright: arpa, 2015.

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