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AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



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BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


Der Gemahl der Nacht

Da war ein Mädchen von großer Schönheit, Tochter eines armen Mannes. Ein kleines Häuschen hatten sie, und ihre Armut war so groß, daß der Vater nicht einmal Geld genug hatte, um die Holzgitter, die Mouscharabieh, an den Fenstern des Raumes, den seine Tochter bewohnte, auszubessern. So waren die Öffnungen größer, als sonst solche Gitter sie besitzen, und durch eine dieser Öffnungen konnte ein gegenüber wohnender reicher Bey das Mädchen erspähen. Er verliebte sich sogleich heftig in ihre strahlende Schönheit und verlor keine Zeit, seine Mutter zu beauftragen, das Mädchen von ihren Eltern ihm zum Weibe zu fordern. »Gehe hinüber, Mutter«, sagte er, »bringe diese Ohrgehänge als Brautgeschenk und mache es so aus, daß die Hochzeit bald stattfinde.« Die Mutter war entsetzt über die Wahl des Sohnes und sagte mahnend: »Mein Sohn, du solltest so etwas nicht tun! Die Reichen sollen zusammenbleiben und die Armen auch. Da ist die Tochter des reichen Fehim Bey, die, mein Sohn, wäre das Weib für dich.« Der Bey wurde sehr ungehalten und sagte in strengem Tone: »Tue, was ich dir sage, Mutter, und halte dich und mich nicht mit solch nutzlosen Reden auf.«

Was sollte die Mutter tun? Hat sie doch die Pflicht, dem Sohne zu gehorchen, wenn ihr Ehemann verstarb. So ging die reiche Frau über die Straße und erbat von der



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Ehefrau des Armen die Tochter zur Frau ihres Sohnes, gab auch das Brautgeschenk, wie ihr aufgetragen, ab. Welche Freude im Hause des armen Mannes! Wie eifrig lief die Mutter die schmale Stiege hinauf in ihrer Tochter Zimmer, begann aufgeregt zu reden vom reichen Bey, von der herrlichen Zukunft, die der Tochter winke, und ließ die blitzenden Edelsteine der Ohrgehänge vor des Mädchens Augen hin und her tanzen. »Für mich sind sie? Diese wunderbaren Ohrgehänge sind für mich? Oh Mutter, gib sie mir, gib sie mir schnell!«

Nichts hatte sie gehört vom Bey, von der Heirat, von der Zukunft.. . nichts, gar nichts! Sie nahm nur das Blitzen der Edelsteine wahr und das unglaubliche Wunder, daß sie ihr gehören sollten. »Sind die Löcher in meinen Ohren noch offen, Mutter? Hilf mir doch diese Herrlichkeit anlegen . . . es tut nichts, wenn es auch zuerst schmerzt. O Mutter, sieh nur, sie reichen mir fast bis zur Schulter... ach, wie bin ich so glücklich! Ist mir doch, als habest du ein Stück ganz blankes Kupfer, Mutter, darin könnte ich mich vielleicht sehen . . . willst du es mir bringen? Oder nein, warte, ich komme mit dir es suchen!« Und eilig trippelte sie die steile Stiege hinunter, fand jenes Stück Kupfer und tat von nun nichts anderes mehr, als sich zu spiegeln, die Ohrgehänge blitzen zu lassen, sich von rechts nach links und wieder anders herum zu drehen und von Morgen bis Abend mit den Ohrgehängen zu spielen.

Keiner ihrer Gedanken ging zum Geber der blitzenden Dinger hin, und niemals sagte sie sich, daß ein Mann nur schenke, wenn er für die Gabe etwas zu erhalten hoffe. Zeit verging, und die Mutter des Bey hatte noch nicht den Tag für die Hochzeit festgesetzt, wohl aber schaffte sie täglich an dem, was ihr am Herzen lag; sie war eine kluge und viel erfahrene Frau, die wußte, daß von einem



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Manne fast alles zu erreichen ist, wenn man ihm eine einzige Forderung immer und immer unermüdlich wiederholt. So sagte sie nicht einmal am Tage, nein, so oft sie ihres Sohnes ansichtig wurde: »Mein Sohn, du tust nicht gut, das arme Mädchen von gegenüber zu ehelichen. Die Reichen sollen zusammenbleiben und die Armen auch. Da ist die Tochter des reichen Fehim Bey. Die, mein Sohn, wäre das Weib für dich.«

Und es kam ein Tag, da vermochte der Bey die wortgleiche Wiederholung im stets gleichen Ton nicht mehr zu ertragen. Er hielt sich die Ohren zu und schrie verzweifelt: »Mutter, hast du mich dafür geboren, mich in den Irrsinn zu treiben?! So lasse es denn sein, wie du es erdacht hast . . . hole mir diese Fehim-Tochter oder irgendeine andere, nur, um der Barmherzigkeit Allahs willen, sage nicht immer die gleichen Worte . . . ich beschwöre dich!« Glücklich und zufrieden stimmte die Mutter zu und wollte eben den Raum verlassen, als der Sohn sie zurückrief und wie nebensächlich sagte: »Wenn du drüben die Heirat absagst, Mutter, so vergiß nicht, die Ohrgehänge zurückzuholen.« War er doch reich und somit geiziger und kleinlicher Gesinnung.

So kam es, daß dem schönen Mädchen die Ohrgehänge fortgenommen wurden. Welch ein Schmerz war das! Nicht ein Gedanke ging auch jetzt zu dem Bey, zum Verlust der glänzenden Zukunft . . . nein, nur um die Ohrgehänge, um dieses schöne blitzende Spielzeug, darum weinte das Mädchen. Als der Vater um Sonnenuntergang vom Bazar heimkam, hörte er schon beim Eintritt das Schluchzen des Mädchens, und er fragte voll Sorge und Bangen, was dem Kinde sei? Er liebte seine Tochter über alles und ertrug es nicht, daß ihr irgend etwas Kummer bereite. Seine Frau berichtete ihm betrübt und eilig, was geschehen war, und wie die Tochter nicht an



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den Bey dachte, so geschah es dem Vater auch . . . ihm war nur darum zu tun, sein Kind zu trösten. So kam er in ihre Kammer, nahm sie in den Arm und sagte irgend etwas, das sie trösten könnte.

»Weine nicht, mein geliebtes Kind, weine nicht, denn du wirst dein schönes Spielzeug nur eine Nacht lang entbehren. Wenn ich in der Frühe wieder in die Werkstatt im Bazar gehe, treffe ich einen Mann und der gibt mir für dich viel, viel schönere Ohrgehänge, als diese waren, die ein Elender dir nicht gönnte. So sei nun zufrieden, schlafe ein und träume von den herrlichen Dingen, die dich mit dem morgigen Tage erwarten.« Das Mädchen schmiegte sich an den Vater, lächelte getröstet, glaubte ihm jedes Wort und schlief ermüdet vom Weinen allsogleich ein. Seiner Frau, die ihn befragte, wie er denn das Kind so schnell habe beruhigen können, sagte der Mann: »Ich weiß es selbst nicht, was ich ihr erzählt habe, aber sie glaubt mir, daß sie morgen schönere Schmuckstücke erhält als die, die sie besaß.« Die Frau machte ihm einige leichte Vorwürfe, daß es Unrecht sei, das Kind so zu belügen, er aber zuckte nur die Schultern und murmelte: »Allah bilir«. Und mit diesem »Gott weiß es« gab er es auf, noch weiter über seine eigenen Worte nachzudenken. Wie oft aber geschieht doch dergleichen! Wie oft sagt ein Mensch Dinge, die aus ihm gesprochen werden von einer Macht, die er nicht kennt und die seine Zunge, seinen Atem benutzt, um das mitzuteilen, was sie bekanntgeben will! Weiß das nicht auch der, der Märchen erzählt und sich geheim verwundert über das, was seine Lippen sprechen? Maschallah . . . wir sind von Wundern umgeben und wissen es nicht!

Am nächsten Morgen also begab sich der Mann wie stets zum Bazar. Er hatte in der großen Umfassungsmauer nahe dem Nordeingang eine kleine Werkstatt und Verkauf-



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stelle der Kupferarbeit, die er herstellte. Alle geringsten Verkäufer und Handwerker des Bazars hatten ihre Werkstätten dort im Norden, wohin auch die armen Käufer kamen. Diese Nordmauer war deshalb besonders dick, weil die heftigen Stürme von dieser Seite her wehten, und in die Mauerdicke waren die Werkstätten so eingebaut, daß sie wie eine kleine Höhle im Gestein schienen; sie hatten keine Fenster, nur eine schwere Holztür, die mittels eines großen Schlosses verschließbar war, und allein durch diese Tür drang das matte Tageslicht in das Gewölbe. Der Mann nun, dieser Kupfer-Schlager, kam daher, ein wenig bekümmert, weil er am Abend sein Kind würde enttäuschen müssen, und schloß gedankenvoll und umständlich die schwere Tür aus Cedernholz mit seinem großen Schlüssel auf. Doch als er nun wie immer in seine Werkstatt eintreten wollte, kam ihm aus dem dämmerigen Gewölbe ein Mann entgegen, ein hochgewachsener Derwisch in der dunklen Gewandung seines frommen Ordens. Er schritt auf den Handwerker zu, der immer weiter zurückwich, und hielt ihm in jeder seiner Hände etwas Blitzendes entgegen. »Nimm dieses«, sagte er, »und bringe es deiner Tochter . . . « Aber der Handwerker rührte sich nicht, stammelte nur erschreckt: »Herr . . . Herr . . . wie konntest du in meiner Werkstatt sein? Wie war das möglich, Herr? Am Abend warst du nicht darin, und heute war alles fest verschlossen . . . wie konnte es geschehen, Herr?« Der Derwisch sagte ruhig und befehlend: »Rede nicht so viel, frage nicht so viel, nimm dieses . . . es sind die Ohrgehänge für deine Tochter. Nimm sie . . . so nimm sie!«

Erschreckt von dem Befehlston der ruhigen Stimme, griff der Mann zu, hielt die blitzenden Dinge, als seien sie zehrendes Feuer, wollte noch weiterfragen, schwieg aber, als er die Worte vernahm: »Gib die Ohrgehänge deiner



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Tochter, wie du ihr versprachst, und sage ihr, heute nach dem Azan komme ich und werde ihr Gemahl.«

Als der Derwisch das gesagt hatte, war urplötzlich von ihm nichts mehr zu sehen. Dort, wo er gestanden hatte, war leere Luft. Der Handwerker, bis ins Tiefste seiner Seele erschreckt und entsetzt, verwahrte die Ohrgehänge achtlos in seinem Gürtel, schloß eiligst die Werkstatt wieder zu und lief in nahezu unziemlicher Eile zurück zu seinem Weibe. Die Frau starrte ihn erschreckt an, als er so unerwartet vor ihr stand, geschah es doch sonst niemals, daß der fleißige Mann vor dem späten Abend heimkam. »Aman, bhodjam, was ist geschehen? Erkranktest du, da du so bleich und angstvoll erscheinst?« Statt der Antwort nahm der Mann die Juwelen aus seinem Gurt, legte sie vor die Frau hin und sagte scheu: »Ich bekam sie von einem Derwisch, aber ich bin gewiß, er war ein Djin, denn er drang durch verschlossene Tore in meine Werkstatt ein. Dieses, sagte er, sei für unsere Tochter und er komme nach dem Azan, ihr Gemahl zu werden. Frau, sage mir, was sollen wir nur tun?«

Die Frau hielt, während er so sprach, die Juwelen in der Hand und drehte die Ohrgehänge hin und her. Nach Art der Frauen, die das Faßbare sehen und nicht, was vielleicht dahinter sich verbirgt, sagte sie mit Verachtung in der Stimme: »Mein Eheherr, du sprichst Torheit. Deiner Tochter, so erfuhr ich von ihr, versprachst du heute schönere Ohrgehänge zu bringen, als die von dem elenden Bey waren. Nun hast du sie, denn sie sind in Wahrheit wunderbar schön, und nun redest du von Djinnen und solcher Torheit! Nur ein Mann kann so töricht sein. Ich gehe jetzt und bringe dieses schöne Spielzeug unserer Tochter, und was sich nach dem Abendgebetruf begibt, das werden wir zur Zeit des Abends erleben. Du aber, so rate ich dir, gehe zurück zum Bazar und fertige jene



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Kupferschale, die morgen geholt wird. Allah ismagladih.« Und mit diesem Gottbefohlen begab sie sich hinauf zu ihrer Tochter und sagte in ruhigster Selbstverständlichkeit: »Mein Kind, wie dir dein Vater versprach, hat er dir Ohrgehänge gebracht, die weitaus schöner sind als die verlorenen . . . sieh her und freue dich!« Die Frau erlabte sich an der Tochter Freudenausbrüchen und sagte ihr nichts davon, daß — o Torheit! — sich ihr ein Gemahl nach dem Azan nahen würde. Wozu dergleichen wiederholen? Es war des Atems nicht wert, den das Aussprechen der Worte verlangte!

So saß das schöne Mädchen den ganzen Tag lang dort und spielte mit den herrlichen Ohrgehängen, die ihr dieses Mal wirklich bis auf die Schultern reichten. Immer wieder putzte sie das spiegelnde Kupferstück blank und betrachtete sich und den glänzenden Schmuck. Sie wußte auch nicht, daß ihr Vater nochmals zu ungewohnter Stunde aus dem Bazar heimgekehrt war und daß dieses Mal auch die Mutter tief beunruhigt seinem Bericht lauschte. Der Mann hatte einen Beutel voll von Metallstücken mitgebracht, breitete sie vor der Frau aus und sagte leise: »Du hast mich vorhin verlacht, Weib, als ich dir von Djinnen sprach. Was sagst du jetzt? Sieh her . alles dieses war Kupfer, und nun ist es Gold. Es sind meine Stücke, die für meine Arbeit bestimmt waren, und um sie mir unbrauchbar zu machen, befand sich jener Derwisch in meiner Werkstatt. Denn was soll ich damit tun? Ich bin kein Goldschmied. Was soll ich damit tun?«

Die Frau schwieg eine Weile, und wie sie es vorhin mit den Ohrgehängen getan hatte, so drehte sie jetzt die feinen Goldplatten hin und her. Dann sagte sie endlich: »Verkaufen. Können wir es nicht wahrhaft gut brauchen? Da ist das Dach, da sind die Mouscharabieh, da ist so vieles schadhaft. Verkaufen, Mann!« Der Handwerker



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schüttelte bekümmert den Kopf, sagte bedrückt: »Das geht nicht, Weib. Ich würde des Diebstahls geziehen werden, denn niemals kann ich sagen, woher mir dieses Gold kam. Nein, wir sind verloren, denn ich habe nun auch kein Kupfer mehr, um die Schale zu fertigen . . . es ist aus, ganz aus!« Und der Mann, zum ersten Male in seinem Leben der Arbeit und der Armut ganz entmutigt, barg den Kopf in den Armen und wiegte sich klagend hin und her. Die Frau rückte am Boden nahe zu ihm hin und gab ihm Trost und die Kraft, die allein Frauen dem zu geben vermögen, mit dem sie den grauen Alltag und den strahlenden Festtag teilen. So saßen diese zwei und erwarteten voll Bangen um ihr Kind den Ruf des Abendgebets. Sie vergaßen Essen und Trinken über dieses Warten, wie ihr Kind es tat um der blitzenden Steine willen, und schraken zusammen, als die Stimme des Imams ertönte, die Gläubigen zum Gebet rufend, die Güte und Barmherzigkeit des einzigen Gottes preisend, dessen Prophet Mohamed ist.

Kaum waren die letzten schwingenden Worte des Azan verklungen, als die hohe Gestalt des Derwischs in der niederen Tür stand. Sie hatten ihn nicht kommen hören... da stand er. Er sagte ruhig und ernst: »Salaam aleik.« Und ohne zu bedenken, antwortete der Kupferschmied: »Aleikum salaam«. Aber die Frau, dieses Grußes, der besagte: »Friede mit dir«, »Und mit dir Frieden«, nicht eingedenk, da der Mann dort stand, der einen geschädigt hatte, der ihres Lebens Freund und Gefährte war, sagte heftig, sich vor ihn stellend: »Du hast uns arm gemacht, wer du auch seist und woher auch deine Macht stamme. Du hast uns arm gemacht und kommst und wünscht hier Frieden? Wie deucht dich das? Ist es gerecht?« Der Derwisch schlug den dunklen Schleier zurück, der von seiner hohen Filzkappe herabhing, und die Frau sah in zwei unergründlich



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tiefe wunderbar friedvolle Augen. Der Derwisch fragte erstaunt: »Ich habe euch arm gemacht? Ließ ich nicht als Spur meines Eindringens in das Gewölbe im Bazar Gold zurück, reines Gold? Wie denn arm gemacht?« Langsam kam jetzt der Mann näher, verneigte sich tief vor der hohen Gestalt und sagte leise: »Du magst es nicht verstehen, Herr, und die Wandlung ist dir wohl als ein Geschenk erschienen . . . aber es ist dieses: Kupfer ist meine Arbeit, nur Kupfer. Ich bin kein Goldschmied, und ich kann dein Gold nicht verkaufen. Sieh, Herr, ich habe einiges davon hier, ich bitte dich, nimm es zurück. Wir sind arm, wenn wir nur Gold und kein Kupfer haben! Herr, du nahmst mir meine Arbeit . . . verstehst du jetzt, Herr?«

Der Derwisch stand und sah den Mann an, blickte auf die Frau, die in der Erregung vergaß sich zu verschleiern, schaute, als sähe er etwas Wunderbares. Leise und voller Ehrfurcht sagte er: »Ich danke dir, mein Freund. Du gabst mir mehr als alle Kostbarkeiten der Welt, da du mich lehrtest, daß Gold arm machen kann. Sorge dich nicht. Wenn du morgen zur Arbeit gehst, wird alles wieder Kupfer sein. Vergib mir auch, ich bitte dich, denn ich wußte nicht, daß ich es mit Menschen zu tun habe, die mehr sind als alle, die mir noch begegneten. Und habt keinen Gram und Kummer mehr, was auch geschehe, denn alle Sorgen sind für euch Vergangenheit. Jetzt aber gehe ich zu Eurer Tochter. Laßt nur, ich kenne den Weg . . . Allah ismagladih.« Und ging die schmale Treppe hinauf. Sie standen regungslos, unfähig sich zu rühren und lauschten. Dann erklang ein leichter Aufschrei, und danach Stille, tiefe vollkommene Stille. Die Frau wandte sich zu ihrem Mann, sagte leise: »Ein Djin? Dieser ein Djin? 0 du armer Tor! Gesegnet ist unser Haus.«



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Droben aber das Mädchen war aufgesprungen und hatte voll Schreck gerufen, als die hohe Gestalt urplötzlich in ihrem kleinen Gemach stand. Der Derwisch hob die Hand, lächelte sehr ernst ein wenig, und ihr Schreck war gestillt. Dann sprach er. Er sprach Worte, die ihr Welt und Leben wandelten, die sie alles vergessen ließen, was vorher gewesen war. Er sagte: »Du Traum auf meiner Stirne, du Kleinod in meinem Herzen, du Durst auf meinen Lippen, komm, daß ich dich beschütze!«

Die tiefe ruhige Stimme verbannte alle Angst; die wundervollen Worte ließen das Herz erbeben; die ausgebreiteten Arme, davon die weiten dunklen Arme! wie Flügel herabhingen, waren Zuflucht. Mit einem kleinen Laut, wie ihn ein junger Vogel flatternd ausstößt, eilte das schöne Mädchen in diese ausgebreiteten Arme. Die dunklen Derwisch-Armel schlossen sich um sie. Die Welt versank, das Leben hielt den Atem an, und glückselig wurde das Mädchen des Mannes Weib.

Von da an war ihr alles gewandelt. Den Tag gab es nicht mehr, galt er doch nur dem traumgleichen sehnsuchtsvollen Erwarten des Abends. Glitzernden Schmuck gab es nicht mehr, nichts als nur das Lauschen auf den Ruf zum Abend-Azan. Klangen dann die letzten Worte, tönte das langgezogene »Allah. . . huh. . . Allah. . . hih.. . «, dann erwachte das Mädchen zum Leben, und dann stand der Derwisch wieder dort, obgleich ihn niemand kommen hörte. Die dunklen Derwisch-Armel, diese weichen Flügel des Entschwebens zum Glück, breiteten sich aus, und die tiefe Stimme sprach die wundergleichen Worte. Wenn aber der Morgen-Azan gerufen wurde, war der Mann fort, wie ein Traum, wie ein Schatten. Und halbes Vergessen senkte sich auf des Mädchens Lider.

All dieses aber war Kismet, war unentrinnbar, so schien es den Eltern. Was war zu tun gegen ein solches Geschehen?



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Man ergab sich in das Unvermeidliche und wartete in Geduld, was weiter geschehen würde, zumal auch für den Kupferschmied das Gewerbe blühte und die Aufträge sich häuften. Kein lästiges Gold verirrte sich mehr in seine Werkstatt, und es ging ihm so gut wie noch nie, konnte er sich doch auch immer wieder davon überzeugen, daß sein Kind blühte unter der Flut des Glücks gleich einer Blume unter der Fülle des Lichtes und dem Tau. So war im Hause des Armen alles friedevoll und gut . . . nicht so in dem des Reichen, denn der Bey verging nahezu vor Eifersucht. Seine Mutter hatte Vorsorge getragen, daß er rechtzeitig davon erfuhr, wie allabendlich ein Derwisch das Haus des Handwerkers beträte, um es erst im Morgengrauen zu verlassen, denn sie konnte ihre Freude kaum verbergen an dieser Entwicklung. Doch war sie nicht auf den Ausbruch wilder Leidenschaft gefaßt, der ihr wie ein Schimum entgegenbrauste. Der Bey schrie wutverzerrt: »Solche Schande soll unserem Viertel widerfahren und wir uns nicht dagegen wehren? Ach diese Elende! So schön zu sein und so verdorben bis ins Herz! Doch warte, du sollst es noch bereuen, du Verlorene, ich werde dich beim Kadi verklagen, und wir werden sehen, was dir geschieht . . . Elende, Ehrvergessene, Verworfene!« und schluchzte die letzten Worte hervor, den Kopf in den Armen verbergend, sich wiegend vor Schmerz und Wut. Erschreckt sah und hörte ihm die Mutter zu, ging dann leise fort, denn es war unziemlich mit anzusehen und zu hören, wie ein Mann die gebotene Fassung verlor.

Wenige Tage danach sagte das Mädchen halblaut und beschämt zu dem Derwisch: »Herr, mein Vater ließ mich wissen, daß eine Klage gegen mich läuft beim Kadi und daß ich gezwungen sein werde, morgen vor ihm zu erscheinen. Die Anschuldigungen wollte der Vater mir



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nicht nennen, sagte aber, sie seien schmachvoll. Bin ich nun der Schande preisgegeben, Herr?« Der Derwisch lachte leise, sagte heiter: »Du preisgegeben? Weißt du nicht, daß du beschützt bist? Warte ein wenig, laß mich nachdenken.« Sie schwieg und sah vertrauend zu ihm auf. Was auch konnte ihr geschehen, wenn er sie beschützte?

Der Derwisch nahm aus seinem Gürtel das Schreibgerät, das schmal wie eines Schwertes Scheide darin steckte; ein jeder weiß, wie solch Schreibgerät beschaffen ist, gefertigt je nach des Besitzers Stand und Mitteln aus Messing, Silber oder Gold, flach und breit, darin das Schreibrohr und das Pergament sich befinden, zusammen mit dem scharfen Messer, das Papier zu schneiden; gleich einer Krönung an einem Ende dann das Behältnis für den Tintensaft, eingesogen von Seidenfäden. Der Derwisch schnitt einen kleinen Streifen des Papiers ab, schrieb einige Worte darauf, es haltend mit der Linken, faltete das winzige Stück zu einem Streifen zusammen, reichte ihn dem Mädchen, sagte: »Wenn du morgen zum Kadi gebracht wirst, so reiche dieses aus dem Vorhang der Sänfte heraus dem Diener am Eingang, und nichts wird dir geschehen.«

Das Mädchen sah ihn erstaunt an, fragte: »Herr, wovon sprichst du? Eine Sänfte und der Vorhang an ihrem Fenster? Wie käme denn ich dazu, o Herr?« Der Derwisch lachte wieder sein leises, sein unwiderstehlich frohes Lachen, nahm die vor ihm stehende zierliche Lieblichkeit in die Arme, wiegte sie wie ein Kind hin und her. »Ich vergaß, vergib mir, du Schönste der Schönen, dir zu sagen, daß dich eine Sänfte abholen wird und dich zum Kadi tragen . . . bist du zufrieden? Auch eine Dienerin wird dich geleiten, du Kleinod!« Sie sah ihn beunruhigt an, fragte zweifelnd: »Wie kann das denn



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sein, o Herr? Du, ein Derwisch, besitzlos und arm wie wir, du willst eine Sänfte senden mit einer Dienerin? Oh, mir fällt ein, auch jene Ohrgehänge waren von dir. Wie kann das alles sein, Herr?« Deutliche Angst klang in der jungen Stimme, aber der Derwisch konnte nur wieder lachen und leise mahnen: »Niemals fragen, mein Kleinod, nur glauben, nie fragen! Vermagst du es dennoch nicht, wie ich hoffte, so sage es mir ... kannst du nicht glauben?« Sie sah eine ganze Weile lang schweigend zu ihm auf, der sie vielfach überragte, blickte tief in seine dunklen Augen, bis ein Leuchten auf ihrem schönen Gesicht entstand und sie hauchleise sagte: »Ich kann es, Herr! Ich werde niemals mehr fragen, dir in allem glauben und tun, was du befiehlst.« Der Mann beugte sich herab, küßte sie auf die Stirn und sagte kaum vernehmbar: »Allah Kerim . und wie er barmherzig ist, so bist du wahr und rein, gleich deinem Vater, der das Gold mißachtet. Wer bin ich, der diese Gnade verdiente? Allahu Akbar!«

Am nächsten Morgen erschien dann, wie angekündigt, eine Dienerin, die wortlos das Mädchen in einen Mantel und langen Schleier hüllte, ebenso wortlos es hinunter geleitete, wo eine Sänfte stand; die beiden Träger sahen ehrfurchtsvoll zur Seite, wie es sich gebührt, wenn Frauen kommen, und dann setzte sich die Sänfte in Bewegung. Kurz danach stand sie still, und das Mädchen hob, wie ihr anbefohlen worden war, ein weniges den Vorhang an der Seite ihres Fensters, sah den Türhüter herbeikommen, sich der Tür der Sänfte nähern, um sie zu öffnen, wobei er grob und laut rief: »Komm heraus, du Elende, die sich erkühnt, in einer Sänfte zu erscheinen ... Schamlose, komm!« Doch die Träger standen vor der Tür, wiesen schweigend zum Fenster hin, unter dessen Vorhang eine Hand einen fein zusammengefalteten Zettel heraushielt.



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Der Türhüter rief in seiner groben Art wiederum einige Schimpfworte, doch einer der Träger flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Gröbling verstummte, mit scheuen Fingern den Zettel in Empfang nahm und sich eilends entfernte. Die Träger, die Dienerin, das Mädchen, sie alle warteten schweigend; es dauerte nicht lange, da kam ein kleiner fetter Mann dahergewatschelt, verneigte sich tief vor der geschlossenen Sänfte, murmelte kaum vernehmbar: »Wer du auch seist, o Herrin, niemals gab es gegen dich eine Anklage, niemals! Lege auch für deinen armen Diener ein Wort ein, und ziehe deines Weges in Frieden, o Herrin.« Der kleine Mann trat zurück, die Dienerin sprach zum ersten Male und flüsterte: »Es war der Kadi, o Herrin.«

Die Sänfte wurde gehoben und brachte das schöne Mädchen, das zum ersten Male in ihrem jungen Leben »Herrin« genannt worden war, zurück in das ärmliche Holzhäuschen der Eltern. Aber sie hatte geschworen zu glauben und so fragte sie nichts, als der Derwisch wieder bei ihr war, berichtete auch nichts. Es schien, als betrachte er sie einige Male forschend, doch wurde sein Ausdruck immer befreiter und freudiger, je länger ihr Schweigen anhielt. Unmittelbar bevor er sie verließ aber sagte sie scheu: »Ich hätte eine Bitte an dich, Herr. Wann immer etwas ist, das ein wenig Mut verlangt oder den allerstärksten Glauben, willst du dann die wunderbaren Worte sagen, die ersten, die du zu mir sprachst? Höre ich sie, gibt es nichts, das mir schwer würde, was immer es auch sei.«

Der Derwisch neigte sich tief zu ihr, und seine Augen glänzten wie Sterne in der Sommernacht. Leise, so leise wie der Windhauch, der die Rose streift, sprach er in ihr wartendes Antlitz hinein: »Du Traum auf meiner Stirne, du Kleinod in meinem Herzen, du Durst auf meinen



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Lippen, komm, daß ich dich beschütze . . . « Sie neigte sich sehr tief und küßte ihm die Hände. Er verließ sie.

Der Bey drüben in dem großen Hause war wieder voll des wildesten Zornes. »So gibt es keine Gerechtigkeit mehr bei uns?« schrie er und rannte vor seiner Mutter hin und her in dem weiten Gemach, wo sie geruhsam saß. »Eine Verlorene, eine Schändliche läßt man ungestraft wieder heimkehren? Oh, Mutter, ich beschwöre dich, du, die Frauen versteht und weiß, wie sie fühlen und denken, sage mir, was gibt es, das eine Frau am tiefsten trifft und demütigt? Erdachtest du es, so werden wir es an dieser Schlechten dort drüben zur Tat werden lassen. Sprich, Mutter!«

Die kluge Frau überlegte nicht lange, zumal sie immer noch nicht am Ziel ihrer Wünsche angelangt war. Sie sagte: »Mein Sohn, da du mich fragst: nichts trifft eine Frau tiefer, beugt sie schwerer nieder, als wenn sie eine andere an dem Ehrenplatz sieht, der ihr zugedacht war, und zudem dieser anderen dann noch Ehrfurcht erweisen muß.« Das alles wurde ganz ruhig gesprochen, und darum machte es Eindruck auf den zornigen Mann. Er blieb vor der Mutter stehen, sagte gedankenvoll, wie suchend und fragend: »Du meinst, so ich es richtig verstehe, den Ehrenplatz des Brautthrones und das Verneigen vor der Braut . . . ist es so?« Die Mutter neigte bejahend den Kopf, sagte ernst: »So ist es, mein Sohn. Wenn diese sich vor deiner Braut verneigen müßte, das wäre grausame Bitternis für sie.«

Ein spähender Blick flog zu dem Sohn hin, doch dieser hatte den Haken schon geschluckt. »Ein guter Gedanke, Mutter! So richte denn die Hochzeit mit dieser Fehim-Tochter, die du mir aussuchtest, und lasse in Kürze alles bereit sein. Vor allem aber vergiß nicht diese Elende von drüben einzuladen. Nur das vergiß nicht und achte gut



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auf, ob sie sich gebührend verhält!« Die Mutter lächelte verstohlen, sagte das übliche »Du befiehlst, mein Sohn!« und dachte sich dabei das gleiche, was unzählige Frauen denken, wenn sie diese altehrwürdigen Worte sprechen, nämlich: »du befiehlst, wie du glaubst, und in Wahrheit tust du nur, was ich will«. Es ist dies der geheime Ausgleich.

Wenige Tage später sagte das Mädchen: »Herr, man hat mich für morgen eingeladen zur Hochzeit des Bey im Hause gegenüber. Befiehlst du, daß ich gehe?« Der Derwisch sah seine schöne Geliebte gedankenvoll an, fragte leise: »Ist es der gleiche Bey, der dich ehemals zum Weibe begehrte?« Das Mädchen nickte nur. »Das ist gut«, sagte er, »und du sollst gehen. Ich sende dir dieselbe Dienerin wie damals und Kleider mit ihr. Schön sollst du sein, strahlen sollst du dort, du Kleinod in meinem Herzen, wie du mir strahlst und mich Tag und Nacht durchglühst . .

Dann zog er aus seinem breiten Gurt ein Tesbieh hervor, eine jener Ketten, deren Kugeln man durch die Finger gleiten läßt, wenn man sich der Betrachtung ergibt und an das Gebet denkt. Sie bestehen aus Holz, aus Bernstein oder Edelsteinen, je nach des Besitzers Vermögen, doch hat, wie man weiß, jeder Moslim einen solchen Rosenkranz. Dieses Tesbieh aber bestand aus großen schimmernden Perlen. »Nimm es, mein Kleinod«, sagte der Derwisch, »und bringe es drüben der Braut. Wenn du vor der Braut stehst, dann zerreiße die Schnur, die die Perlen hält, sage einige Worte guter Wünsche und gehe deiner Wege. Du verstehst mich?« Sie lächelte. »Ich verstehe dich, Herr, und gehorche.«Leise sagte er, wie seine Stimme immer leise war: »Traum meiner Tage, lebewohl.«

Und wie er gesagt hatte, kam die schweigsame Dienerin am nächsten Tage zur Mittagsstunde, brachte noch zwei



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weitere Skiavinnen mit, die große Körbe trugen, und Diener dazu, welche einen Teppich schleppten. Das Mädchen, ganz durchdrungen von Glück und dem Gehorsam der glaubenden Liebe, stand und ließ sich schmücken und kleiden, als sei sie ein Opferbaum, achtete auch allen Schmuckes nicht, sie, die einstmals ihre Tage damit verbrachte, mit einem Ohrgehänge zu tändeln. Dann wurde ihr ein Schleier übergeworfen, der sie ganz einhüllte und von unzähligen kleinen Splittern der Edelsteine glänzte und glitzerte wie Spinnweb im Tau bei Mondeslicht.

Als sie die schmale Stiege hinabgegangen war, sah sie, daß die Diener von ihrer bescheidenen niederen Haustür, über die Straße fort, bis hin zum hohen Tore des reichen Hauses einen langen weichen Teppich gebreitet hatten, auf dessen Grund unzählige kunstvoll gebildete Blumen zu blühen schienen. Für eines Herzschlags Länge zauderte sie, das schöne Gebilde zu betreten; da flüsterte neben ihr die Stimme der schweigsamen Dienerin: »Es wurde befohlen, daß dein Fuß nicht den Staub der Straße berühre, o Herrin . . . « Ein heißes Rot huschte über das schöne Antlitz des Mädchens, und es war ihr, als höre sie eine tiefe leise Stimme sagen: »Komm, daß ich dich beschütze . . . « Mit dieser Stimme in Ohr und Herz schritt sie auf das Haus des Feindes zu und wußte nicht einmal, daß ihr tiefe Demütigung zugedacht worden war.

Von den drei Dienerinnen gefolgt, betrat sie das Gemach, in dem die Braut, jene Fehim-Tochter, auf ihrem kostbaren Brautthron saß, umhüllt von Pracht und glitzernd von Juwelen. Der hohe Raum war angefüllt mit Frauen, die alle der Braut ihre Ehrfurcht erwiesen hatten und ihr Geschenke gebracht. Das schöne Mädchen schritt durch sie hindurch, als sähe sie niemand und nichts, wie es auch wirklich war. Die Frauen aber wichen zur Seite, betroffen



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von so viel Jugend, Schönheit und Pracht, und schauten schweigend ihrem Schreiten zu. Sie trat vor den Brautthron, und wie ihr befohlen worden, zog sie das Tesbieh aus Perlen unter ihrem Schleier hervor, stand vor der Braut und sagte: »Herrin, deine Tage mögen voll Ehre und Freude sein bis in weite Ferne, wie es dir der heutige Tag ist, und jedes Leid zerreiße vor dir, wie ich diese Seidenschnur zerreiße.« Damit zerriß sie die Perlenschnur, und die Perlen rollten nach allen Seiten auseinander. Die Frauen stürzten sich darauf wie Hühner auf die Futterkörner, und das Mädchen wandte sich ab, den Raum zu verlassen. Niemand hielt sie zurück. Sie langte in ihrer stillen Kammer wieder an und schmiegte sich in die Enge ein wie in das Glück. Hier klang seine Stimme, hier war er bei ihr, auch wenn er sie verlassen hatte. Alle Pracht, die von den Dienerinnen wieder fortgenommen wurde, galt ihr nichts, nur seine Nähe, seine Liebkosungen, seine Stimme.

An diesem Abend achtete der Bey nicht des ihm angetrauten Weibes, nur dessen, was ihm vom Kommen und Gehen des schönen Mädchens berichtet wurde, deren Pracht und Herrlichkeit und den von ihr verstreuten Perlen. Er hielt deren einige in der Hand, schaute sie prüfend an und erklärte: »Sie sind die schönsten, die ich jemals sah! Eine von ihnen würde zum Kauf eines Pferdes genügen, wie es auch der Padischah nicht edler besitzt. Ali diese Schändliche! Ist sie das Eigentum eines Räubers und Schänders geworden, eines Derwisch auch, der ohne Weib und Reichtum leben sollte? Ali die Schlechte! Nun aber ist meine Geduld erschöpft, und ich werde sie verklagen, wo es noch Gerechtigkeit geben sollte . . . beim Padischah!

Tage vergingen, und wieder eines Abends sagte das Mädchen scheu und voll Bangen: »Herr, nun ist es um



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mich geschehen! Man hat mich beim Padischah verklagt und vieler Schändlichkeiten beschuldigt. Jetzt, Herr, so ist es doch, bin ich verloren?« Aber wieder klang das leise Lachen als Antwort, und die tiefe Stimme sagte mahnend: »Weißt du nicht mehr, daß du beschützt bist? Holde Törin, du bist niemals verloren! Achte auf: ich schicke dir wieder Dienerinnen und Diener, die dich zum Serail bringen. Du sei ohne Sorge, du glaube mir auch jetzt.« Sie bat leise: »Die Worte, Herr, die wunderbaren Worte . . . « Er sagte sie, und seine Stimme war nicht ganz so ruhig wie bisher immer. Dann verließ er sie, doch wandte er sich im Hinausgehen noch einmal um, und sein Blick schweifte durch den kleinen Raum, der so viel Glück umschlossen hatte . . . schweifte abschiednehmend umher. Dann war er fort.

Am Morgen kam wieder die schweigsame Dienerin und mit ihr kamen die zwei Skiavinnen. Das Mädchen wurde gekleidet wie eine Sultana. Weiße Seide stand um sie gleich einer Schutzwehr und leuchtete von kunstvoller Goldstickerei. Ehe der glitzernde Schleier sie umhüllte, war eine Rosenranke aus Rubinen in ihre dunklen Haare gelegt worden und strahlte durch das zarte Gewebe hindurch. Wieder lag ein Teppich vor der niederen Tür des Häuschens, wieder stand eine Sänfte bereit, doch dieses Mal war sie von edelster Machart, weiß mit Gold-Verzierungen. Das Mädchen aber, ganz eingesponnen in ihren Traum von Glück und Seltsamkeit, achtete nicht darauf, wie zahlreich die Begleitung ihres Zuges war, wie Läufer Warnungen riefen, wie Reiter neben der Sänfte daherzogen. Sie sagte sich die wunderbaren Worte in ihrem Herzen vor, damit keine Angst in ihr aufkäme. Und dann wurde die Sänfte niedergesetzt, die Hand einer Frau öffnete die schmale Tür, und die erste Dienerin des Serails verneigte sich tief. »Sei die Stunde gesegnet, da



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dein Fuß, Herrin, den Boden des Harems betritt, und sei jeder Schritt dir Freude und Heil! Komm, Herrin, folge mir, ich bitte dich.«

Sie gingen weite Gänge entlang, darin nichts zu hören war als das Rauschen des schweren Seidengewandes, und gelangten an Vorhänge, die eine Säulenhalle umgaben. »Sieh, Herrin«, flüsterte die Dienerin, »die Säulengänge dieses größten Saales sind alle mit kostbaren Stoffen verhängt. Es geschah aus Ehrfurcht vor dir, Herrin, damit kein Blick dich treffe. Tritt nun ein und gehe dorthin in die Mitte. Hinter jenem Vorhang weit hinten befindet sich der Padischah, dort an der Seite, auch verdeckt, der elende Ankläger. Du stehe hier, Herrin, und sei ohne Scheu.« Die Dienerin ging. Das Mädchen stand allein in dem hohen großen Saale, und ihre weißen Seidenfalten berührten den lichten Marmorboden, daß ihr war, als stünde sie in klarem Wasser, so leuchtete alles rings und auch sie selbst. Dann klang von dort her, wo sich der rückwärtige Vorhang befand, eine laute, starke Stimme, der es anzuhören war, daß sie Befehle zu erteilen wußte. Die kalte Stimme sagte: »Rede, Bey, wir hören«. Und nun wurden hinter dem Vorhang in der rückwärtigen Säulenreihe die Worte des Bey hörbar; Haß und Zorn gaben ihm Kraft, und eine Flut von Schmähungen ergoß sich aus seinem Munde, steigend mit jeder Silbe. Dem Mädchen war es, als ströme diese Flut wie etwas Beschmutzendes um sie herum, und sie zog die weißen Seidenfalten fest an sich, daß nichts von den Anklagen sie berühre. Eine Weile so, dann klang wieder die befehlende Stimme: »Genug jetzt. Wir haben alles vernommen. Bringt ihn fort.« Unruhe entstand hinter dem Vorhang, Waffen klirrten, dann ward es still.

Unsichtbare Hände hoben den Vorhang, hinter dem hervor die befehlende Stimme geklungen hatte, und heraus schritt



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der Padischah in all seiner Pracht. Seine seidenen edelsteingeschmückten Schuhe machten seinen Schritt geräuschlos, nur die schwere Seide seiner Gewänder rauschte weich. Er kam auf das Mädchen zu, streckte die Hände aus und sagte mit der leisen Stimme des Derwisch, aus tiefster Bewegung, kaum vernehmbar dem Ohr, wenn auch im Herzen verstanden, sagte: «Du Traum auf meiner Stirne, du Kleinod in meinem Herzen, du Durst auf meinen Lippen, komm, daß ich dich beschütze . . » Und die edelsteinbeschwerten langen Ärmel des Padischah schlossen sich um sie, wie es die dunklen des Derwisch getan hatten.

Um diese zwei aber blühte hinfort das wunderbare Märchen des Glücks, hinter dessen Schleier kein Menschenauge schauen und forschen darf. El harnd üllülah . .


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