Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



Alt-Tuerkische Maerchen-004 Flip arpa

BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


Ali, der Meisterdieb

Ein Knabe war Ali und Sohn seiner Mutter. Einen Vater hatte er nicht und anscheinend auch niemals gehabt, so daß es begreiflich war, daß die Mutter versuchte, aus diesem ihrem Sohn eine Quelle des Erwerbs zu machen, kaum daß er laufen und reden konnte.

Es erwies sich aber bald, daß die Quelle nicht bereit war so reichlich zu fließen, wie die Mutter es erwartet hatte, denn wohin immer sie Ali in die Lehre gab, sie bekam ihn baldigst mit dem Bemerken zurück, daß die Handwerker es schwer genug hätten, aus ihrer Arbeit Verdienst zu ziehen, und sich nicht außerdem noch einen Zerstörer wie diesen Knaben Ali in ihrer Werkstatt halten könnten. Wenn die Mutter den Sohn dann verzweifelt fragte, was das zu bedeuten habe, dann antwortete er mit frohem Lachen, es sei doch so unterhaltend gewesen, bei dem Schneider die vielen bunten Stoffe in kleine Stücke zu zerschneiden, und mehr noch, bei dem Glaser das Klirren der herumstehenden Gefäße zu hören, und, ach, erst bei dem Bäcker den Teig auf den Boden aufklatschen zu lassen . . »verstehst du das nicht, ehrwürdige Mutter?« Er sah sie von unten herauf listig blinzelnd an, und in Wahrheit wäre es schwer gewesen, seinem lachenden Bubengesicht zu widerstehen, wenn man eben . . . ja, wenn man nicht die Mutter war! Mütter haben für solches listige Lachen ihrer Kinder seltsam wenig Verständnis,



Alt-Tuerkische Maerchen-064 Flip arpa

und um ehrlich zu sein - kann man es ihnen verdenken? Ist es nicht so, daß ein jeder Lebende viele verschiedene Gesichter hat, je nach den Augen, die ihn betrachten? Was dem einen erheiternd erscheint, macht des anderen Hand zucken vor Verlangen, sie in das lachende Gesicht zu schlagen.

So auch geschah es mit der Hand von Aus Mutter, und zudem ward ihre Sprache heftig, was immer ein Zeichen ist, daß der, der die Stimme erhebt, sehr bald im Unrecht sein wird. Und auch hier war es so, denn die treffliche Mutter schrie mit größtem Stimmaufwand: »Elender Vernichter du, du Kummer meiner Tage und Nächte jetzt und ehe du geboren wurdest, wenn du so weitermachst, werde ich dich zum Meisterdieb in die Lehre geben, und dann erst wirst du erkennen, was das Leben ist, du Last meiner Vergehen!« Ali sah sie ruhig an, ließ sie reden und schreien und bewies, wie sehr viel älter als seine Jahre er war, denn es ist immer eines männlichen Geschöpfes beste Waffe gegen den Zorn der Frauen, sie schreien zu lassen und ihnen erheitert in Ruhe zuzuschauen, nicht aber zuzuhören.

Als die Mutter des Ali aus Mangel an Atem nicht mehr weiterkam, sagte der Knabe in aller Ruhe und Heiterkeit: »Verehrungswürdige Mutter, das eben ist es, was ich seit langem anstrebe, und du hättest dir vieles erspart, wenn du es sogleich mit mir so gemacht hättest.« Die Mutter starrte den Knaben ratlos an, fragte mit ermüdeter Stimme: »Wovon in aller bösen Geister Namen sprichst du, oh mein Kummer?« Ruhig wie vorher erwiderte Ah: »Von dem Meisterdieb, oh meine Mutter, zu dem du mich in die Lehre geben willst.« Die Mutter, die bis dahin erregt vor dem kleinen Sohne gestanden hatte, sah sich jetzt nach einem Schemel um, auf dem sie sich niederlassen konnte, um ihrer völligen Vernichtung dadurch



Alt-Tuerkische Maerchen-065 Flip arpa

Ausdruck zu geben. Da kein Eskemleh in ihrer Nähe war, beeilte sich Ali einen herbeizuholen, welche Handlung der Höflichkeit nicht einmal mit einem Dank bedacht wurde. »Du willst zum Meisterdieb in die Lehre gehen, Ali du Sohn eines krummen Djin?« Ali sah die Mutter nachdenklich an, fragte ehrerbietig: »So war er ein krummer Djin?« Die Mutter rief wild: »Wer . . . was . . . ? Wovon sprichst du?« Ali sagte höflich: »Von meinem Vater, ehrwürdige Mutter. Sagtest du nicht soeben, er sei ein krummer Djin gewesen? Es ist das erste Mal, daß du mir von ihm sprichst, und es muß begreiflich erscheinen, daß ich dich darum befrage, verehrungswürdige Mutter.«

Hier aber war die Grenze dessen erreicht, was die beklagenswerte Mutter dieses unzerstörbaren Erwiderers zu ertragen vermochte. Sie senkte das Gesicht in die Hände und murmelte kaum verständlich, diese ihr zur Prüfung auferlegte Plage möge sich hinbegeben, wo immer sie ihr nicht mehr sichtbar sei. Ali verbeugte sich höflich, obwohl die Mutter das nicht sehen konnte, und sagte ernsthaft: »Der ehrwürdigen Mutter danke ich ehrfurchtsvoll für ihre Erlaubnis, mich zu entfernen. Ich gehe, wie ich bin, zu meinem neuen Meister, und der Sohn eines krummen Djin wird der Ehrwürdigen nicht mehr zur Prüfung dienen.« Eine letzte Verneigung, auch diese unbemerkt, und Ali hatte das Haus seiner Mutter verlassen, um niemals dorthin zurückzukehren. Es ist auch nicht verwunderlich, daß er zu keiner Zeit irgendein Verlangen danach verspürte, hatte er doch von dem Tage an, da er die Sprache der Menschen zu verstehen vermochte, nur harte und böse Worte vernommen, gegen die er sich auf seine Art verwahrte.

Als er jetzt seines Weges ging, war ihm, als schüttle er eine Last ab, die ihn, seit er denken konnte, bedrückt



Alt-Tuerkische Maerchen-066 Flip arpa

hatte, und mit dem Ausdruck eines, der hohe Freude fühlt, trat er kurz danach bei dem hochberühmten Meisterdieb ein. Dieser nun, muß man wissen, übte seit einigen Jahren seinen Beruf nicht mehr aus, denn er war nicht so schlank und geschmeidig wie einstmals, und er liebte die Süßigkeiten allzu sehr. So hatte er seinen Ruhm, der weit über die Grenzen des Landes ging, dazu verwendet, Schüler in seiner Kunst zu unterrichten, und damit erwarb er sich reichlich seinen Lebensunterhalt. Wie viele große Diebe hatte er sich von seinem früheren reichen Erwerb nichts zurückgelegt, denn diejenigen, welche sich auf die Geschicklichkeit ihrer Finger, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder und die Schnelligkeit ihres Geistes verlassen, sind nicht bestrebt, braven Bürgern gleich von Ersparnissen zu leben. Sie vertrauen vielmehr auf den Glücksfall, der ihnen schon so oftmals treulich half, und wie recht dieser berühmte Meisterdieb damit hatte, das bewies das Eintreten des Knaben Ali in seine Behausung.

An einem schönen, friedlichen und nicht zu heißen Tage saß der Meisterdieb auf seinem Diwan und genoß seine Lieblingsspeise, den Ekmek-Kadaïf. Es ist kein Wunder, wenn die Liebhaber dieser unübertreiflich guten Speise an Leibesumfang zunehmen, denn was an Honig, Sesamöl, Pistazien und fadenfein gezogenem jasminweißen Teig darin vermischt ist, könnte einen dunklen Ifrit bewegen, der Geist einer duftenden Hyazinthe zu werden. Ali roch sogleich den unverkennbaren Hauch dieser wunderbaren Speise, von deren Vorhandensein er zwar wußte, die er aber noch niemals gekostet hatte. Er bemühte sich jedoch, kein unziemliches Begehren zu zeigen, trat ruhig vor den Diwan, verneigte sich vor dem Meister, wodurch er mit der Nase dem Ekmek-Kadaïf noch näher kam, und wartete geziemend auf die Anrede des



Alt-Tuerkische Maerchen-067 Flip arpa

Ehrwürdigen. Der Meister leckte seine Finger ab, spülte sie dann in der Schale mit Melissenwasser, die neben ihm stand, trocknete sie an einem seidenen Tuch und schien nach dieser langwierigen und umständlichen Tätigkeit sich erst ganz zufällig und nebensächlich des Vorhandenseins eines Lebewesens bewußt zu werden. Aber auch jetzt sah er nur flüchtig zu Ali hin, der reglos wartend dort stand, die Hände über dem Gürtel gekreuzt, wie es die Sitte verlangt, und sagte freundlich: »Du hast Geduld, du weißt zu warten und zu schweigen. Wer immer du auch seist, das sind wertvolle Eigenschaften. Rede nun und sage mir so kurz wie du es vermagst, wer du bist und was du willst.« Ali befolgte diesen Befehl, indem er sagte: »Ich bin Ali Ich will bei dem ehrwürdigen Meister lernen.« Dann schwieg er und sog den Duft der köstlichen Speise verstohlen ein.

Der Meister, der sich seinen Ruhm nicht dadurch verdient hatte, daß er ohne zu sehen und zu verstehen seinen Tag verbrachte, lächelte ein wenig und sagte dann: »Komm her, Ali setze dich neben mich und nimm Ekmek-Kadaïf. Ich bin gesättigt, iß du dein Genüge.« Ali traute seinen Ohren nicht, blickte scheu und nicht verstehend zu diesem ersten Menschen hin, der ihn nicht forttrieb, ihn nicht beschimpfte und ihm auch noch etwas Köstliches anbot. Das gab es? Solche Menschen der Gütigkeit lebten? Wenn auch sein Begehren nach der Speise groß war, viel größer war sein tiefes Staunen, dieses Fühlen, das sein Herz sich zusammenziehen ließ. Der Meister, der im Begriff gewesen war, sich eine Zigarette zu drehen, blickte nun erstaunt auf, als der kleine Mensch sich nicht rührte und immer noch abseits stand. »Was ist, Ali mein Sohn? Magst du keinen Ekmek-Kadaïf? Er ist gut, glaube mir. Komm und koste.« Ali kam einen Schritt näher und fragte leise: »Wenn ich nun von



Alt-Tuerkische Maerchen-068 Flip arpa

dieser Speise gekostet haben werde, wirst du dann, o Meister, die Diener rufen und mich des Diebstahls zeihen, vertreiben und schlagen lassen?«

Der Meisterdieb legte den Tabak beiseite, auch das feine Reispapier, und streckte die Hand aus. »Komm her zu mir, Kind der Angst, komm her, und schau mich an. Hast du noch nie davon gehört, daß ein Dieb nicht lügt und betrügt? Weißt du nicht, daß das nur die ehrlichen Leute tun, Ali mein Sohn? Komm zu mir, setze dich neben mich und iß nach deinem Begehr.« Ali fragte nicht mehr, denn ihm wurde so warm und froh, wie er es noch niemals erfahren hatte. Er kam nahe zu dem Meister, so nahe, wie es nur ging, sah ihm lächelnd in das Gesicht, und als ihm nun sogar die Köstlichkeit auf ihrer silbernen Schüssel gereicht wurde, da begann er zu glauben, daß das Leben eine herrliche Sache sei und nicht nur Bosheit und Beschimpfung. Er wußte auch nicht, wie forschend ihn der Meister betrachtete und wie dieser vielerfahrene Mann bemerkte, daß bei aller Freude am Genuß doch Zurückhaltung geübt wurde von diesem kleinen, mit einer seltsam einsamen Würde umgebenen Knaben.

Es gelang Ali in dieser kurzen Zeit des Meisters Herz zu rühren, und das Herz des großen Diebes war sehr warm, weit und stark. Die kärgliche Kleidung, das schmale, kluge Gesicht, die Traurigkeit der Augen, die Scheu der Haltung, alles das bemerkte der Meister, und er fragte sich, was es wohl mit dem seltsamen kleinen Menschen auf sich habe. Als Ali ganz fertig war, reichte ihm der Meister das Melissenwasser und Ali der gesehen hatte, wie es verwendet wurde, tat ein Gleiches wie der Meister vorher. Scharfe Beobachtung, dachte der Meister. Da sah Ali zu ihm auf, und nun war es nur ein zufriedenes Kind, das ihn anschaute, das glücklich sagte: »Es war



Alt-Tuerkische Maerchen-069 Flip arpa

wunderbar! Ich habe es von weitem gesehen und auch gerochen, aber gegessen noch nie. Oh, es war gut, und ich sage dir vielfach Dank dafür, ehrwürdiger Meister. Doch nun lasse mich wissen, was ich dafür tun muß?« Der Meister schüttelte den Kopf, sagte bekümmert: »Armes Kind, welche Art Menschen hast du denn kennengelernt? Tun dafür? Bestraft werden dafür? Bist du denn ganz allein, Ah?«

Ali fühlte sich, so neben dem Meister sitzend, wohl wie noch nie; er sah auf und sagte in seiner eigenartig ernsten Art: »Nein, Herr, ich habe eine Mutter, sie aber ist froh, wenn sie mich niemals mehr sieht. Einen Vater habe ich nicht. Heute sagte ich meiner Mutter, ich wolle zu Euch, Herr, in die Lehre gegeben, und ihr ist es recht, so sie mich nur niemals mehr sieht. So ist es, Herr.« Der Meister wiederholte leise: »So ist es«, und dachte, daß der Knabe nicht ahne, was er alles mit den wenigen Worten gesagt habe. Er nahm sich vor, der Wahrheit nachzuforschen, aber den Knaben bei sich zu behalten, da er gegenwärtig keine Schüler hatte und zudem das Kind nicht mehr entbehren mochte. Daß er an Geld nichts verdienen würde für die Ausbildung, hatte er schon begriffen; aber würde es nicht möglich sein, daß er sich in diesem seltsamen Knaben den Nachfolger erzöge, nach dem ihn schon immer verlangte? Ein ganz großer Dieb, einer, der sich nicht mit Spielereien begnügte, sondern es verstand, das Eigentum so zu verschieben, daß es sich gleich dem Regen verteile? Welch ein Traum, und wie sehr war er wert, geträumt zu werden!

»Höre mich an, Ah«, sagte der Meister jetzt so ernsthaft, als spräche er zu einem Mann und nicht zu einem Knaben, »du sagtest, du wollest bei mir in die Lehre gehen. Weißt du aber auch, was das bedeutet? Wer ein guter Dieb werden will, ein ganz großer, der größte aller, der



Alt-Tuerkische Maerchen-070 Flip arpa

muß viel lernen und wissen. Er muß fechten können wie ein Ifrit, reiten wie ein Krieger, mit dem Pfeil schießen wie ein Blitz, schwimmen wie ein Fisch und klettern wie ein Affe. Auf das er das alles könne, muß er schlank bleiben gleich der Cypresse und biegsam von Körper und Gliedern wie die Schlange, denn es darf keine Maueröffnung geben, die zu eng für ihn sei, kein Minareh, das zu hoch wäre, keine Mauer zu glatt. Um das zu erreichen, darf er nur wenig essen, besonders aber keinen Ekmek-Kadaïf, Ali mein Sohn!« Und der Meister lachte herzlich über sich selbst, als er diese lange Rede beendet hatte.

Ali hatte ihm atemlos zugehört, fragte nun ganz ängstlich: »Aber du, Herr, du hast doch soeben . . .« Noch mehr lachte der Meister, griff nach Ali stellte ihn vor sich hin, sagte: »Nun sieh mich an, Ali bin ich schlank wie die Cypresse, sage?« Ali wurde verlegen, sagte leise: »Ich vermag es nicht zu erkennen, Herr, da du sitzest und nicht stehst.« Der lachende Meister zog den Knaben an sich. »Du bist recht, du kannst bleiben, wie du bist, mein Sohn, denn du weißt dich auch aus der Schlinge einer Frage zu befreien. Wisse denn, daß ich meinen Beruf aufgegeben habe und nur noch einen einzigen Diebstahl begehe, einen allein, diesen«, und er wies auf die geleerte Silberschüssel. »Den Ekmek-Kadaïf?« fragte Ali erstaunt. »Ja, eben den. Die Nachbarin, Kereneh Hanoum, bereitet ihn zur Vollendung, und sie stellt ihn, ist er fertig, auf ihr Dach zum Ausdörren. Dann steige ich, nachdem ich den köstlichen Duft verspürt habe, hinauf auf das flache Dach der Nachbarin und hole mir meinen Genuß herab. «

Ali sah zweifelnd aus, dachte eine Weile nach, fragte halblaut: »Wie aber, Herr, wenn sie es bemerkt, daß ihr Gebäck verschwand, was geschieht dann?« Der Meister



Alt-Tuerkische Maerchen-071 Flip arpa

rauchte friedlich, schüttelte den Kopf, lächelte und sagte leise: »Nichts geschieht, gar nichts.« »Dann weiß sie also, daß du es holst, diese Kereneh Hanoum?« »Gewiß weiß sie es.« »Und läßt es geschehen?« »Und läßt es geschehen.« Ali strahlte auf. »Oh, also ein Geschenk von ihr zu dir, Herr, so ist es?« »Auf dem Wege über das Dach, ja.« Ali lachte, rief: »Ich verstehe, ich verstehe, Herr! Du tust, als würdest du stehlen, sie tut, als würde sie schenken, und alles ist, wie es war!« Bedächtig sagte der Meister: »Nicht ganz, mein Sohn, nicht ganz. Es besteht die Tat des Diebstahls, aber es besteht nicht die Gabe des Geschenks, dennoch wissen wir beide darum, sie und ich. Es ist nur um des geheimen Lachens willen.«

Diese Äußerung gab Ali noch oft zu denken, aber er hatte bald so viel zu tun, daß er für lange Gespräche solcher Art zu müde war. Das stete Üben für die Geschmeidigkeit, das geringe Essen, um niemals das Gefühl der Schwere zu haben, die Fechtübungen mit dem Meister, die Reitübungen mit einem ihm bestellten Lehrer, all dieses nahm alle Kraft in Anspruch, die Ali besaß. Aber er war glücklich bei diesem Leben, und wenn er zu Beginn seiner Lehrzeit auch hie und da einmal gefragt hatte, wie es denn geschähe, daß der Meister das alles umsonst für ihn tue, nach und nach verstummten auch diese Fragen, und Ali nahm alles als Geschenk des Kismet hin. »Einmal wird der Tag anbrechen, da du mir alles heimzahlst, oh du Schüler nach meinem Herzen. Ich trage darum keine Sorge«, hatte der Meister gesagt, und damit schien diese Frage erledigt zu sein.

Ali wuchs zu einem schönen, schlanken Jüngling heran, und die strenge Zucht, unter der er körperlich stand, verbunden mit der heiteren Güte, die ihn umgab, machten aus ihm einen lebhaften, niemals ermüdenden, immer zu allem bereiten jungen Menschen.



Alt-Tuerkische Maerchen-072 Flip arpa

Allmonatlich einmal, wenn der Mond nicht am Himmel stand, wurde das Unternehmen Ekmek-Kadaïf in Angriff genommen und dabei eine ganz bestimmte Art des Vorgehens entwickelt, davon nie abgewichen wurde. Bis zum Ansatz des flachen Daches benutzte der Meister eine kleine, kurze Leiter, die er solcherart vor sich hertrug, daß der Schatten seines Körpers sie verhüllte. Wenn er sie ansetzte, schnallte er seine Hose fester und kletterte mit erstaunlicher Schnelligkeit und Gewandtheit hinauf, was nicht wundernimmt, gibt es doch keinen Moslim, der fünfmal täglich die Gebete verrichtet und nicht gewandt und gelenkig bliebe bis ins hohe Alter.

Ali mußte dann unten stehen, die Leiter verstecken und aufpassen, daß keine Störung sich bemerkbar mache. In dieser Hinsicht hatte er allerdings seine ganz eigene Meinung, denn mehrfach schon hatten ihn gleichaltrige Jünglinge lachend gefragt: »Hast du nicht Angst, wenn der Meister sich den Kadaïf holt, könnte ihn einmal ein Sabtieh auf frischer Tat ergreifen, heh, du schlimmer Lehrling eines schlimmen Meisters?« Ali zuckte dann nur die Schultern, und sie lachten zusammen. Sie mochten ihn alle gern, die seines Alters waren und früher ihn nicht einmal im Vorbeigehen beachtet hätten, denn er zeigte ihnen immer wieder einmal kleine Kunststückchen, die ihm der Meister zur Unterhaltung beibrachte. Wie man schnell eine Zigarette verschwinden lassen konnte; oder wie das Fez plötzlich vom Kopfe fiel; oder wie die vor der Tür abgestellten Schuhe nicht zu finden waren und sich dann im Gürtel des Nebenmannes fanden.

Bei einer solchen Gelegenheit war es, daß einige von ihnen mit Ali an einem warmen Tage vor dem Kaweh saßen und plötzlich alle Heiterkeit verstummte und schwand, als habe ein Sturm sie fortgeweht. Alles schaute stumm zu Boden und schien nichts mehr von dem zu



Alt-Tuerkische Maerchen-073 Flip arpa

bemerken, was sich auf der Straße abspielte. Und doch war es der Mühe wert, darauf achtzugeben, denn ein Mann kam daher, hatte einen Diener, der ihm nachfolgte, und ein Dritter ging nebenher, nach allen Seiten hin rufend: »Im Namen des Padischah, gebt, gebt, gebt!« Alle Türen schlossen sich, alle Dächer leerten sich, alle Blicke wandten sich ab, und der Raum vor dem Kaweh war, schneller als man dreimal seufzen konnte, verlassen. Drinnen sah Ali von einem zum anderen seiner neuen Freunde, fragte erstaunt: »Aman, was war es? Was wollen sie?« Wieder wurden die Achseln gezuckt, und leise, vorsichtig kam die Antwort: »Abgaben für den Padischah, frage nicht weiter.«Ali fragte nicht weiter, aber so oft das wieder geschah, und es kam mehrmals im Jahre vor, so oft festigte sich bei Ali ein ganz bestimmter Vorsatz.

Als er nun allmählich ein erwachsener Jüngling wurde, fragte er eines Tages den Meister: »Chyrssys Baschi Effendim«, was besagt »Herr Oberdieb« und die übliche höfliche Anrede bedeutet, »sage mir, wann werde ich ausgelernt haben?« Der Meister sagte geruhig mit seinem eigenartigen Lächeln: »Wenn du mir etwas gestohlen haben wirst, und ich habe es nicht gemerkt.« Ali nickte. »Das ist gerecht, Herr; aber lasse mich noch fragen: diese Männer, die im Namen des Padischah Geld holen kommen, tun sie es zu Recht?« »Man fragt so etwas nicht, mein Sohn, denn Worte können leicht Recht in Unrecht wandeln und umgekehrt.« »Ich verstehe, Herr. Und es ist demnach so, daß dieses Geld zum Padischah geht und er davon lebt?« »Du sagst es, mein Sohn; er und seine Veziere. Mehr wurde darüber nicht gesprochen.

Wieder war die mondlose Zeit gekommen, und eines Abends stieg der Duft des Ekmek-Kadaïf hockend vom Nachbardach hernieder. »Du holst ihn dir, Herr, wie immer?« fragte Ali unbefangen. »Wie immer, mein Sohn,



Alt-Tuerkische Maerchen-074 Flip arpa

hole ich ihn mir«, antwortete der Meister. Und nach dem Azan gingen sie fort, der Meister wie stets die Leiter tragend, Ali hinter ihm gehend, und von beider Schritt war nichts zu hören. Der Meister setzte die Leiter an, und Ali hielt sie mit einem Fuß fest, doch als der Meister sich anschickte, von der letzten Leitersprosse - wie immer - den Rand des flachen Daches zu erreichen, war Ali unmittelbar hinter ihm, ohne daß er, ganz vom Duft der köstlichen Speise eingenommen, etwas bemerkte. Nach kurzem kam der Meister wieder, setzte rückwärtsgehend den Fuß vorsichtig tastend auf die Leitersprosse, sorgfältig bedacht, die in beiden Händen gehaltene Speise nicht zu verlieren. Unten stand Ali sagte hauchleise: »Herr, laß mich den Kadaïf nehmen.« Der Meister sah zu ihm herunter, bemerkte flüsternd: »Ich verstehe nicht, warum mir an einem hauen Abend wie diesem so kühl ist. Ich will mich einhüllen, nimm den Kadaïf.«

Er reichte das Gebäck hinunter, wobei er an sich herabsah und beinahe von der Leiter gefallen wäre vor Staunen, denn er hatte keine Hose an! »Maschallah«, murmelte er bestürzt, »wie kann so etwas geschehen? Kein Wunder, daß mir kühl ist!« Jetzt aber war er unten angelangt, wo Ali stand, in der einen Hand die Schale mit Gebäck, in der anderen des Meisters Hose. »Nimm, oh mein Herr und Meister, hier deine Hose zurück.« Der Meister starrte Ali an, dann seine Hose, mußte lachen, so sehr lachen, daß er Mühe hatte, ungehört zu bleiben. »Maschallah, Yah Maschallah«, hauchte er zwischen dem Lachen heraus, »du hast sie mir gestohlen, und ich habe nichts gemerkt. Mein Sohn Ali du bist in Wahrheit ein Meister geworden, oh du mein Stolz und meine Freude!« Ali sagte nichts, half nur beim Anziehen der Hose, und sie gingen schweigend heim ins Nebenhaus.



Alt-Tuerkische Maerchen-075 Flip arpa

Dort angelangt, fragte Ali bescheiden: »Habe ich jetzt ausgelernt, Herr? Du sagtest mir einmal, wenn ich dich unbemerkt bestehle, sei es an dem?« Der Meister hatte die Speise in die bereitgestellte Silberschüssel getan, kam nun und umarmte Ali küßte ihn auf beide Wangen. »Frei bist du, ein Meister gleich mir, ein Chyrssys Baschi, und danke mir nicht, denn du hast es deinem Fleiß und deinem klugen Kopf zu verdanken, daß du, ein Jüngling, schon ein Mann wurdest. Doch sage mir nun, was gedenkst du zu tun? Daß du nicht hier an diesem kleinen Platz bleiben willst, sehe ich ein, und wenn ich dich auch ungern ziehen sehe, der du mir wie ein Sohn meiner Lenden geworden bist, so werde ich doch stolz sein, zu hören von allem, was der große Chyrssys Baschi Ali vollbringt!«

Ali mußte lachen über diese Verleihung einer ehrenden Benennung und begann nun alles darzulegen, was er sich erdacht hatte in den Jahren seiner Lehrzeit. Während sie saßen und den Ekmek-Kadaïf verzehrten wie damals am ersten Abend seines Kommens, sagte er: »Ich will, mein Herr und Lehrer, zu unser aller großem Meister hinziehen, dem Meisterdieb der Meisterdiebe.« Der Meister hörte zu essen auf, sah sehr beunruhigt auf Ali fragte voll Eifersucht und Kummer: »So siehst du mich nicht als einen großen Meisterdieb an? So gehst du von hier zu einem anderen in die Lehre? Und was, oh Ali der mir Schmerz bereitet, kann er dich lehren? Und wo ist er? Wie nennt man ihn? Sprich und tue es gleich.« Wie ernst es dem Meister mit dieser Frage war, wurde daran kenntlich, daß er seinen geliebten Ekmek-Kadaïf unbeachtet stehen ließ und nur gespannt auf Aus Antwort wartete.

Ali aber lächelte, sagte ruhig: »Herr, er ist nicht als Meisterdieb bekannt, und ich gehe auch nicht zu ihm in



Alt-Tuerkische Maerchen-076 Flip arpa

die Lehre.« »Wer und was also ist's? So rede doch!« »Gern, Herr, so du geneigt bist, mir zuzuhören.« Eine Handbewegung forderte zum Weitersprechen auf, und Ali sagte nichts als dieses: »Der Padischah.« Voll Erstaunen starrte ihn der Meister an, rief: »Erdreistest du dich, mich zu verhöhnen, mein Schüler Ah?« Schnell erhob sich Ali legte die Stirn zum Zeichen der Ergebenheit auf des Meisters Schulter, murmelte: »Wie könnte ich, Herr? Du, der erste und einzige Mensch, der mir Gutes erwies, und ich dich verhöhnen? Oh, sage so Schmachvolles nicht!«

Schnell versöhnt, legte der Meister die Hand auf die Locken, die sich an seine Schulter schmiegten, sagte leise: »Es war Torheit, mein Sohn Ali und ich verstand nicht, was du meintest. Erkläre es mir nun, ich bitte dich. Was ist's mit dem Padischah?« Ali richtete sich auf, setzte sich an die gewohnte Stelle neben den Meister, sagte ernsthaft: »Herr, viele Male das Jahr kommen die Männer und fordern Geld für den Padischah; oftmals reitet ein Vezier daher, umgeben von seinen Dienern, oder, was schlimmer ist, läßt sich in der Sänfte tragen, weil er zum Reiten zu fett ward; der Padischah lebt vom Gelde, das ihm gegeben wird, weil man es geben muß; die Veziere leben auch davon. Wir alle aber werden bestohlen. Von wem? Vom Padischah. Ist er ein großer Dieb, o Herr, oder ist er es nicht?« Der Meister hatte zugehört, und sein Blick hatte ohne Unterbrechung auf Alis Zügen geruht, die von Geist und Leben sprühten. Leise sagte er jetzt, tief beeindruckt: »Ah, mein Sohn, du wirst weit gehen, sehr weit! Und ich bitte dich: vergiß deinen Lehrer nicht, lasse ihn teilnehmen an allem, was dir geschieht. Solcherart erst werde ich wissen, daß ich noch für anderes lebe als für Ekmek-Kadaïf!« Ali mußte lachen, versprach alles und meinte es ernst.



Alt-Tuerkische Maerchen-077 Flip arpa

Bis spät in die Nacht saßen sie noch zusammen, und der Meister bestand darauf, er werde Ali ausstatten, so daß er seines Zieles würdig in der Fremde erscheine. »Und das Pferd, darauf du reiten lerntest, schenke ich dir auch. Wenn du hinkommst zum Serail des Padischah, sollen sie dort sagen: Maschallah, hier kommt der große Dieb, Schüler des großen Diebes, um den größten Dieb aufzusuchen - unseren Herrn! So sollen sie sprechen, und sie werden einen schönen Jüngling sehen, der wert ist, in den Spiegel der Djinnen zu schauen!« Und nach dieser trefflichen Rede konnte das Verzehren von Kadaïf weitergehen.

Ali blieb nur noch kurze Zeit an diesem seinem Geburtsort. Es war ein frischer Morgen zum Sommerbeginn, als er stolz auf seinem edlen Pferde die Straße dahinzog, die in die Weite und das Erleben der Welt führte, zum großen Meisterdieb aller Meisterdiebe. Seine reichen Gewänder hatte er in Satteltaschen bei sich, ein Schwert trug er an der Seite, und wie er so dahinritt, dachte er voll Stolz an das dunkle Seidengewand, das sich wie seine eigene Haut um seinen Körper legte und das seine Berufskleidung darstellte; jede kleinste Falte hatte die Hand des Meisters selbst geglättet, denn er sagte, daran könne Leben und Freiheit hängen, an einem solch elenden Fältchen, daß sich irgendwo verfinge. »Wirklich, wie eine dunkle Schlange siehst du darin aus, mein Sohn Ali hatte er dann freudig ausgerufen und das Zehrgeld für den Anfang, ehe sich Ali etwas erwerben könnte, noch verdoppelt.

Gegen Abend wurden die Minarehs und Kuppeln der Hauptstadt sichtbar, und Ali beeilte sich, vor dem Azan einzutreffen, wurden doch dann die Tore geschlossen. Er hatte sich ersonnen, wie er am besten beginne, und wollte sich gleich zum Bazar begeben. Dort würde er



Alt-Tuerkische Maerchen-078 Flip arpa

alles erfahren, was für ihn wissenswert war, denn im Bazar war stets bekannt, was geschehen war, ja oftmals sogar, was noch bevorstand. Es ist auch nie schwer, den Bazar zu finden, man muß sich nur nach dem Gehör fortbewegen, denn dort, wo am meisten Lärm ist, dort ist auch der Bazar. Und so fand Ali bald sein Ziel, gab sein Pferd einem der Knaben zu halten, die immer an den Eingängen auf solche kleinen Verdienstmöglichkeiten warten, und suchte das größte Kaweh auf, das meist dort liegt, wo sich die Straßen des Bazars kreuzen.

Er ließ sich nieder, trank seinen Kaweh, rauchte und hörte nach allen Seiten zu, eine Fähigkeit, die er sorgfältig ausgebildet hatte. Bald konnte er aus den vielen Gesprächen rings immer wieder eines Namens Wiederholung erhaschen, es war »Bekir«. Sagte einer: »Wer immer mir widersprechen will, tue es, aber ich behaupte, Bekir war ein anständiger Mann. Wie oft hat er mir verraten, wo etwas zu holen sei, und wie oft hat er mir Waren gebracht, die ich gut verkaufen konnte, ohne daß er viel Anteil daran verlangte!« Sagte ein anderer: »Bekir hat mir geholfen, als es mir sehr schlecht ging. Nur durch ihn und seine Hilfe konnte ich mein Geschäft behalten. Wer etwas gegen Bekir sagen will, der komme zu mir.« Sagte ein Dritter: »Aber wer will denn etwas gegen Bekir sagen? Wir alle wollen doch nur, daß einem ehrlichen Diebe Gerechtigkeit widerfahre.«

Hier war es, daß Ali aufhorchte und sich blitzschnell einmischte, denn diese Schnelligkeit seines Erfassens war es, die ihn zu etwas machte, das es nicht jeden Tag gibt. »Es ist nicht zu glauben«, sagte er, obgleich er keine Ahnung hatte, worum es ging, und nur das Stichwort »Dieb« gehört hatte, »wie man es sich herausnimmt, einen ehrlichen Menschen zu behandeln, der als Beruf das Stehlen hat. Ist denn Stehlen etwas so Neues? Und kennt nicht



Alt-Tuerkische Maerchen-079 Flip arpa

ein jeder die, die es betreiben und denen nichts geschieht?« Da hatte er schon alle, die zufällig dort saßen, auf seiner Seite. Da beugte man sich vor, da sprach man auf ihn ein, da war Ali der Mittelpunkt, wie es immer geschah, wenn er nur den Mund auftat. Sie redeten rings um ihn herum, sie sprachen von Gerechtigkeit, sie sprachen vom Sterben und von einem ehrlichen Begräbnis, und langsam, ganz langsam und mühsam begann Ali zu verstehen, worum es eigentlich ging. Sagte wieder einer, der sich bisher nur mit dem Rauchen des Nargileh beschäftigt hatte: »Strafe hin, Strafe her, aber wer ein Moslim ist, hat ein Recht auf die ehrfürchtige Behandlung, die dem Toten gebührt. Und Bekir, diesen Freund der Armen, dort draußen hängen zu lassen, bis das Fleisch ihm in Fetzen von den Knochen fällt, ist eine Beleidigung des Islam, so sage ich!«

Jetzt wußte Ali worum es ging. Daß man Verbrecher aufhing und sie so lange hängen ließ, bis sie nahezu am Galgen verwesten, das war nichts Neues und bezweckte lediglich die Abschreckung; daß es diesem Bekir offenbar ebenso ergangen war, ergab sich aus den Gesprächen. Hauptsache blieb, wie das Ganze zu nutzen wäre. Ali behielt die Miene eines stillen und mitleidsvoll Verstehenden bei, und als eine kleine Zwischenstille eintrat, in die man mit gebührender Vorsicht ein schmales kleines Wörtchen einschieben konnte, sagte er: »Und die Seinen? die unglücklichen Seinen, wer hilft ihnen?« Da ergoß sich wieder eine Flut von Worten über Ali und er hatte alle Mühe, aus dieser heißen erstickenden Welle unbeschädigt aufzutauchen. »Die Seinen?« rief einer, »da gibt es nur seine beklagenswerte Witwe, deren sich niemand annimmt.« Schrie ein anderer: »Sein Haus werden sie ihr auch bald fortnehmen, diese elenden Eintreiber von Schulden, die sich Sabtiehs nennen und in



Alt-Tuerkische Maerchen-080 Flip arpa

die letzte Djehenna gehören!« Ali wartete, lauschte. Schrie noch einer: »Keinen Sohn, der ihn rächt, keinen!«

Und hier war es, daß Ali den höchsten Punkt erreichte, daß er der Eingebung derer gehorchte, die man zu nennen vermag Djinnen, Ifrits, Peris oder wie immer, die aber ohne jeden Zweifel die Schutzgeister der Diebe und Dichter sind. Diese Geister wußten Ali zu bewegen, sein Antlitz in seinem Arme! zu bergen und seinen Körper zucken zu lassen, als schluchze er. Sogleich ward Stille. Eine Stille, die man durch den Lärm des Bazars zu hören vermochte, eine Stille, die schrie, viel lauter, als es ein Schrei vermocht hätte. Die Männer, die dort in dem größten Kaweh des Bazars saßen und deren Anzahl sich stets noch vermehrte durch diejenigen, die ihre Verkaufsstände nunmehr geschlossen hatten, diese Männer wußten und fühlten oder glaubten es doch, hier einem großen Geschehen begegnet zu sein. Denn auf das Wort »keinen Sohn« war dieses geschehen, was selten und schrecklich war, daß ein Jüngling seinen Schmerz im Arme! verborgen hatte. Wer konnte es sein, wenn nicht der Sohn dieses trefflichen Bekir?

Es geziemt sich nicht, Zuschauer zu sein, wenn ein Mann die Beherrschung über seine Gefühle verliert, so es sich aber nicht vermeiden läßt, so ist doch der Anschein zu wahren, als habe niemand etwas bemerkt. In diesem besonderen Falle aber schien es angebracht, weiterhin das Lob des so schmählich gestorbenen Bekir anzustimmen, und Ali in der Verborgenheit hinter seinem Arme!, hatte Zeit, sich sein weiteres Verhalten zurechtzulegen.

Als den Männern wohl nichts mehr einfallen wollte über Bekir auszusagen, richtete Ali sich auf und sagte freudig: »Wie gut und freundlich ist das Kismet, das mich gleich nach meiner Rückkehr aus der Fremde zu Freunden meines Vaterbruders führt, der mir mehr war als ein



Alt-Tuerkische Maerchen-081 Flip arpa

Vater! Euch danke ich und dem Kismet zugleich. Wollet mir jetzt angeben, wo sich die Wohnung Bekirs befindet, denn ich erinnere mich der Wege nicht mehr genau, war ich doch ein Knabe, als ich diesen Platz verließ. Ehe wir gehen aber verspreche ich euch, die ihr seine Freunde wart, dieses: nicht nur wird er gerächt werden, nein, auch geehrt sein. Und nun gehen wir.«

Dieser eindrucksvolle Beginn seines Aufenthaltes in der Stadt des größten aller Meisterdiebe gab Ali das Gefühl, daß er hier gewiß große Erfolge haben werde, und er mußte sich alle Mühe geben, ein gebührend ernstes Gesicht zu zeigen, als die zahlreichen Freunde Bekirs ihn zu dessen Haus geleiteten, nachdem das Pferd abgeholt worden war. An der Straße angelangt, auf der das kleine rote Holzhaus stand, wandte sich Ali an die Begleiter und sagte geheimnisvoll: »Es ist besser, meine Freunde, daß ihr mich hier verlaßt, denn die Aufmerksamkeit darf nicht auf dieses Haus gerichtet werden, wo gewißlich nur die Witwe Bekirs sich aufhält, denn so ist es doch?« Als die Bestätigung dieser Annahme von allen Seiten erfolgte, fühlte sich Ali sehr erleichtert, denn er hatte schon gefürchtet, noch mit anderen Anverwandten zusammenzutreffen; handelte es sich aber nur um eine ältliche Frau, so war wohl alles in Ordnung. Als er noch anfügte, daß es sich kaum gezieme, in so zahlreicher Gesellschaft vor einem Hause der Trauer und der Schande zu erscheinen, hatte er seines ehrfürchtigen Verhaltens halber bei den Begleitern völlig gewonnenes Spiel, und sie versicherten sich, ehe sie ihn verließen, daß er in das Bazar-Kaweh zurückkehren werde, um alles Weitere mit ihnen zu beraten.

Ali atmete auf, als er sie alle endlich los war bis auf den Knaben, der sein Pferd führte, und begab sich nun zu der grün gestrichenen Tür des kleinen roten Hauses, das er



Alt-Tuerkische Maerchen-082 Flip arpa

recht bescheiden fand für die Wohnung eines bedeutenden Diebes. Er setzte den Klopfer in Bewegung, und während er es tat, entsann er sich gerade noch rechtzeitig, daß ihm der Meister gesagt hatte, es gäbe Klangfolgen, die von allen Dieben im ganzen Lande verstanden würden und die in hoher Not anzuwenden seien, um Hilfe zu erhalten. So betätigte Ali diese Klangfolge mit dem Klopfer an der Haustür des Bekir, und es geschah, daß die Tür mit größter Schnelligkeit geöffnet wurde; ein verhüllter Frauenkopf spähte heraus, und eine leise Stimme sagte: »Tritt ein, Bote meines Herrn.« Ali tat, wie ihm geheißen wurde, verneigte sich geziemend und sagte leise, noch in der Niederbeugung verharrend: »Begrüße mich als Anverwandten um Bekirs willen. Draußen mein Pferd.«

Die Frau des Diebes mußte ihm eine gute Gehilfin gewesen sein, denn sie verstand augenblicks und handelte ebenso; die Tür wurde wieder geöffnet, sie rief: »Komm her, Saïs, führe das Pferd dort rechts durch den Garten, ich öffne die Tür zum Stall. Beeile dich, denn mich drängt es, mit diesem, der mir nahe verwandt ist, allein zu bleiben.« Diese laut gerufenen Worte vernahmen auch noch einige derer, die am Eingang der kleinen Straße stehengeblieben waren, um zu beobachten, wie der, den sie geleitet hatten, im Hause des Bekir empfangen würde, und sie zogen sich nun ganz befriedigt zurück, überzeugt, daß die in Aussicht gestellte Rechtfertigung des Bekir nicht auf sich warten lassen würde, nun dieser hilfsbereite nahe Angehörige eingetroffen war.

Im Hause indessen entlohnte Ali den Pferdejungen reichlich und wandte sich dann an die Frau, die in seiner Nähe geblieben war und mit kaum verhehlter Ungeduld auf Erklärungen wartete. Dennoch vergaß sie die gute Sitte nicht, forderte den Fremden auf, im großen Gemach beim



Alt-Tuerkische Maerchen-083 Flip arpa

Eingang ihrer zu warten, die sogleich einen Kaweh bringen werde. Ali ließ sich nieder und wartete gerne, hatte er doch auf diese Art Muße, sich zu überlegen, was zu tun sei. Die Frau kam bald zurück, und er betrachtete ihren Gang prüfend, fand, daß ihre Gestalt noch üppig und beweglich sei, und baute darauf seinen Plan. Sie reichte ihm den Kaweh und sagte kurz: »Rede.«

Ali trank ein wenig des heißen süßen braunen Saftes, sagte: »Lasse dich nieder nahe bei mir, Hanoum, und antworte leise auf meine Fragen: Wer ist hier noch im Hause?« Kurz, schnell kam die Auskunft: »Eine Dienerin, die bald zurückkehrt von einigen Einkäufen.« »Wir sind also allein, und es hört uns niemand?« »Niemand.« »Gut. Seit wieviel Tagen ist Bekir tot?« »Drei.« »Wo? Weit von hier?« »Nicht sehr weit, über den Platz vor dem Serail hinaus, nahe dem Nordtor.« »Er allein?« »Allein.« »Wie bewacht?« »Zwei Sabtiehs Tag und Nacht, Ablösung alle zwei Stunden.« »Waren die Tage heiß, diese letzten drei?« »Sehr.« »Gut. Du höre mir zu: Morgen in der Frühe wirst du in den Bazar gehen, Hanoum, und wirst dort dieses kaufen: ein Stück rosenfarbene beste, glänzende Seide, genügend für einen schönen Feredjeh; einen ganz leichten weißen Schleier, genügend für einen doppelten Yaschmak; Schminken und schwere, gute, starke Duftwässer. Lasse dich nicht erkennen bei diesen Käufen, du eines Diebes Weib wirst es verstehen, dich zu verstellen. Bringe die Dinge her, und am Abend werden wir Bekir hier im Garten seines Hauses in die Erde senken, ich verspreche es dir.«

Ali schwieg. Die Frau erhob sich vom Boden, wo sie gesessen hatte, und legte ihre verschleierte Stirn auf Aus Schulter. »Ich gehorche, Herr. Dieses Haus ist dein Haus, befiehl.« Ging und ließ Ali allein, der in tiefe Gedanken versunken das Vergehen der Zeit nicht bemerkte und



Alt-Tuerkische Maerchen-084 Flip arpa

erschreckt zusammenfuhr, als eine dunkelhäutige Sklavin ihm Speise und Trank brachte und ihm den Raum wies, wo er nächtigen sollte. Da er seinen Plan fertig hatte, schlief er ruhig und tief und wurde erst geweckt, als die Sklavin kam, ihm zu melden, die Herrin bitte um seine Anwesenheit. Sie zeigte ihm den Baderaum, und Ali mußte sich eingestehen, daß der tote Bekir klug gehandelt hatte, wenn er ein scheinbar kleines Holzhaus der Straße zu erbaute, nach dem Garten aber groß und weitläufig.

Erfrischt begab sich Ali zu der Hanoum, die ihm schweigend ihre Einkäufe wies. »Gut«, sagte er befriedigt, nachdem er alles geprüft hatte, »nun vernimm, was zu tun ist: Du wirst dir diesen Feredjeh bis heute abend fertigen und ihn anlegen, nachdem du dich reichlich mit Duftwässern begossen hast, so daß man dich schon von weitem riecht. Du wirst dich stark schminken, aber den Yaschmak doppelt anlegen. Alles dieses soll geschehen, um die Sabtiehs, die auf Wache sind, anzulocken. Den ganzen Tag über mußt du den Gang üben, wie du ihn als junge Frau gehabt haben magst, so mit den Hüften wiegen, verstehst du, Hanoum?« Und Ali begann im Raum auf und ab zu gehen, hüftenwiegend, hüftenschwingend, daß es eine Lust anzuschauen war. Hinter dem verhüllenden Schleier kam ein Laut hervor, der ein Lachen hätte sein können, aber schnell unterdrückt wurde. »Es ist genug«, sagte die Hanoum, etwas mühsam sprechend, »es bedarf deiner nicht, um mir zu zeigen, wie Frauen sich bewegen, ich verstehe es schon. Aber sage mir, was soll all dieses helfen?«

Ali sah erstaunt aus, sagte tadelnd: »Ich hatte dich bisher für klug gehalten, Hanoum, es war ein Irrtum, sehe ich, denn dies ist doch einfach: Die Sabtiehs, gelangweilt von ihrem Wachdienst, gestört durch den Geruch, den die



Alt-Tuerkische Maerchen-085 Flip arpa

Hitze verursacht, werden sich freuen, wenn an jener Stelle, wo wohl gegen Abend keine Frau gerne gehen wird, sie eine rosenfarbene Erscheinung gewahr werden, deren süßer Duft sie jenen anderen Geruch vergessen macht. Ist ihr Gang und ihr Hüftenwiegen verführerisch genug, so werden sie der Erscheinung folgen - außer Sichtweite jenes anderen Anblicks. Wenn die rosenfarbene Erscheinung es versteht, die zwei Sabtiehs eine Zeitlang so festzuhalten, daß der eine nicht weiß, wie es mit dem anderen steht, und umgekehrt, dann wird es möglich, daß ein alter, mühsam unter der Last einer Leiter daherschreitender Mann sich dem Platz nähert, den die Sabtiehs verließen, und dort von einem Gestell das herabnimmt, was nicht dort sein sollte, und es, unter der Leiter verhüllt, dorthin bringt, wo es sein sollte. Hast du endlich verstanden, oh Hanoum?«

Die verhüllte Frau sagte leise: »Ich habe schon lange verstanden, oh du Geist eines Ifrit, und werde die Leiter prüfen, auf daß nicht eine Sprosse dem Tritt des alten Mannes nachgäbe. Zudem wird mein Gebieter in seinem Gemach elende Kleider vorfinden und eine alte Kufieh, die seine Locken verdeckt. Auch wird die duftende Erscheinung unter der rosenfarbenen Bedeckung einen dunklen Burnus verbergen, um zur rechten Zeit zu verschwinden vor den Augen der Sabtiehs. Des weiteren werde ich den Tag über im Garten graben, liebe ich es doch, die Erde zu bewegen. Bleibt nur noch eine Frage, so es mein Gebieter erlaubt?« Ali lächelte still vor sich hin, lauschte der Stimme nach, fragte sich immer wieder, ob er sich täusche oder ob dieser Klang nicht aus einer jungen Kehle komme? Aber er antwortete ruhig: »Rede, oh du Verstehende.« »In welcher Art wird der gebrechliche Alte mit der Leiter der duftbegossenen Rosenfarbenen ankünden, daß er den Rückweg antritt?«



Alt-Tuerkische Maerchen-086 Flip arpa

Ali lachte so leise, wie es sich gebührte bei dem, was hier besprochen wurde, antwortete dann beschämt: »Der Geist des Ifrit, wie du ihn benanntest, hat sich als der Geist jenes armen Leiterbettlers erwiesen, oh Rosenduftende. Und es wird darum am besten sein, dünkt mich, ihn auch so zu belassen und ihn das alte Bettlerlied singen zu lassen, wenn er mit seiner Last heimwärts zieht. Du kennst es, Rosenfarbene?« Ganz ernst antwortete die verhüllte Frau: »Ich kenne es, und es geziemt sich gut als Geleit für . . . für . . . die Last. So gehe ich denn an die Arbeit. Gehab dich wohl, oh mein Gebieter.« Ali erhob sich, grüßte feierlich und sah der Davongehenden aufmerksam nach. Üppig? Ja. Alt? Nein. Nur müde vielleicht, bedrückt. Dem konnte abgeholfen werden, Inschallah.

Ali begann nun alle seine sorgfältig hergestellten Kleidungsstücke einzuordnen, übergab vieles den Händen der dunklen Sklavin zum Glätten, kleidete sich unauffällig und ging, nach seinem Pferde zu sehen, es zu versorgen und aufzuzäumen. Kurz danach ritt ein schöner junger stolzer Krieger mit hochmütigem Geschau durch die Straßen der Hauptstadt und verschmähte es nicht, sogar an dem Platz vorbeizureiten, wo zwei gelangweilte Sabtiehs Wache hielten und wo der Reiter sich sorgfältig die Kufieh um die Nase schlang. Ein Blick und noch einer galt danach dem Serail, wobei es in den dunklen Augen aufblitzte und die Lippen kaum hörbar murmelten: »Salaam, Chyrssys Baschi!« Sei gegrüßt, Oberster der Diebe! Und danach wußte Ali in dieser Stadt Bescheid, als sei er in ihr aufgewachsen.

Er kehrte zurück zu dem roten Holzhaus, das so trügerisch klein schien, und fand in dem ihm zugewiesenen Gemach in einem Winkel allerlei Lumpenzeug bereitgelegt, in der Nähe des Diwans aber Speisen von besonderer



Alt-Tuerkische Maerchen-087 Flip arpa

Köstlichkeit auf dem niederen runden großen Kupferbehälter, daneben ein Nargileh, dessen Holzkohlen schon glühten. Ali sah sich um, lächelte für sich, sagte für sich: »Alt . . .? Nein!« und bereitete sich in behaglicher Ruhe darauf vor, ein alter, singender, belasteter Bettler zu werden.

Es ist selten, daß wirklich sorgfältig durchdachte Pläne, bei denen Dummheit und Torheit des Gegners mit in Rechnung gestellt werden, fehlgehen, besonders aber dann nicht, wenn als helfende Kraft ein Weib eingesetzt wird, ein kluges noch dazu, das es versteht, die Begehrlichkeit zu reizen. Der mühsam dahinschreitende Bettler, der einige Male wegen der langen und schweren Leiter, die er trug, mitleidig angerufen wurde, nahm sich so viel Zeit auf seinem Wege, daß er das Glänzen eines rosenfarbenen Feredjeh unter einem dunklen Burnus erhaschen konnte, das sich hob und senkte im schnellen leisen Schreiten einer Frau, und er spürte die Duftwolke, die sie umgab, sogar von dem Platze aus, wo er auf einem Stein rastete, die Leiter neben sich. Der verschleierte Kopf der Frau wandte sich nach seiner Seite zu, und aus ihrer Hand, die blitzend von Edelsteinen aus dem dunklen Burnus hervorschoß, flog zu ihm ein Geldstück hin. »Bete um ein gutes Kismet, Babadjim«, rief eine helle Stimme, die zweifellos jung war. Unter seinem schmutzigen Kopftuch grinste der Bettler und freute sich der kecken Kühnheit dieser Handlung, während er mit gemurmelten Dankesworten die gut vor seine Füße gezielte Münze aufhob. »Talisman«, sagte er leise und verwahrte sie sorgfältig im seidenen Gürtel unter dem Bettlergewand.

Dann stapfte er mit seiner Leiter weiter und erreichte den Platz, wo die Sabtiehs Wache hielten, solcherart, daß er ihn von einem Mauerwinkel aus überblicken konnte,



Alt-Tuerkische Maerchen-088 Flip arpa

ohne doch selbst gesehen zu werden. Und plötzlich tat dieses ruhige Herz unter dem Bettlerkleid einen schnellen Schlag, denn in das Blickfeld war der rosenfarbene Feredjeh gekommen, und eine ganz leise vor sich hinsingende Frauenstimme wurde hörbar. Sie sang, oder vielmehr sie summte ein wohlbekanntes Lied der Zigeunerfrauen, dessen Lockung von unmißverständlicher Deutlichkeit war, und wenn doch keine volle Klarheit über den Sinn geherrscht hätte, so wurde diese durch das Wiegen der üppigen Hüften unter der rosenfarben glänzenden Seide ergänzt. »Maschallah!« murmelte der Bettler mit der Leiter vor sich hin, und es wurde ihm heiß unter seinen Lumpen, als er daran dachte, wie er dieser Meisterin auf ihrem Gebiet sein lächerliches Hüftenwiegen vorgemacht hatte. War er denn wirklich so wenig ein Mann, daß er nicht einmal zu unterscheiden vermochte, ob sich ein altes, ob ein junges Weib unter entstellenden Hüllen verberge? Genug damit, jetzt galt es aufzupassen — alles das für späterhin.

Die Sabtiehs hatten zuerst erstaunt, dann lächelnd das Gebaren dieser Frau beobachtet, die sich vor der grausigen Nähe dessen, das einstmals ein Mann gewesen war und das sie zu bewachen hatten, nicht abschrecken ließ, ja, es gar nicht zu bemerken schien. Als dann das leise Summen des wohlbekannten Liedes begann und die Frau, deren Wohlgeruch die zwei Männer gierig einatmeten, sich solcherart bewegte, wie es ein jeder Mann verstand, da sagte der jüngere Sabtieh zu dem älteren: »Warte du ein wenig hier für dich allein, ich gehe mir die zweite Strophe dieses Liedes anhören.« Und lachend ging er der rosenfarbenen Erscheinung nach. Verblüfft schaute ihm der andere nach, wie er in der kleinen krummen Seitenstraße verschwand. Einmal den Platz hinauf und herab blickte er, murmelte dann vor sich hin: »Dummer junger



Alt-Tuerkische Maerchen-089 Flip arpa

Kerl, glaubt, alles gehöre ihm, weil er jung ist . . . Sehen wir einmal!« und verschwand eilig in derselben Seitengasse, die Duftwolke suchend.

Mit einer Schnelligkeit, die fast erschreckend wirkte, bewegte sich Ali jetzt lautlos vorwärts, schien das Gewicht der langen Leiter nicht zu fühlen, lehnte sie, als sei sie ein leichter Stecken, an den Galgen, war oben, ehe das Herz viermal schlug, und hatte mit schnellen, hackenden Bewegungen seines brennend scharfen Messers die Stricke durchschnitten, die den Leichnam am Galgen festhielten. Die schaurige Last glitt weich und schwer hinab auf den Boden, Ali rutschte die Leiter hinab, ohne die Sprossen zu berühren, hatte den Leichnam mit Gedankenschnelle in das mitgebrachte dunkle Tuch gehüllt, ihn sich mit einem Schwung über die Schulter gelegt, die Leiter darübergeschoben und begann den Platz zu verlassen, nunmehr wirklich unter seiner Last langsamer schreitend. Kaum war er im Bereich des Raumes angelangt, wo die Mauer des Serail begann, als er das Bettlerlied anstimmte, und er versuchte dabei seiner hellen Stimme einen dunklen, heiseren Klang zu geben. Das uralte Lied aber hat diesen Wortlaut:

»Gebt, gebt dem, der von Allah bestimmt ward, euch barmherzig zu machen, oh Herzen der Söhne Mohameds! Hört, hört die Stimme der Armut und werdet reich, indem ihr schenkt, oh Söhne Mohameds! Heute ein Reicher, ein Armer morgen, alle sind wir im Kismet verbunden. Schenkt eurer eigenen Armut aus flüchtigem Reichtum! Hört, hört! Gebt, gebt!«

Ali sang und fand, er könne so im Singen seine Last leichter tragen. Mit der einen Hand hielt er die Leiter fest über der Schulterlast, mit der anderen streckte er eine Bettelschale aus, die sich im Mantel des Gewandes befunden hatte. Aber er mied die belebten Straßen, denn



Alt-Tuerkische Maerchen-090 Flip arpa

der furchtbare Geruch seiner Last durfte nicht die Aufmerksamkeit erregen. Der Weg dünkte ihm lang, sehr lang, und es bedurfte aller seiner geschmeidigen Kraft, um die Aufgabe erfüllen zu können. Endlich, ach endlich sah er das rote Haus, bog er seitwärts ab zu der Hinterpforte, die in den Garten führte, da wurde diese Tür schon geöffnet, eine Stimme flüsterte: »Schnell, es ist alles bereit.« Die Tür schloß sich hinter ihm und der langen Leiter, und helfende Hände griffen zu, ihm seine Last abzunehmen. »Schon zurück?« flüsterte Ali erstaunt, hatte aber für Weiteres keine Zeit, denn die Frau hauchte ihm zu: »Das Grab ist links, komm, komm schnell!« Sie hoben und schoben den toten Körper, senkten ihn gemeinsam in das Grab, und die Frau murmelte: »Hierher seinen Kopf, daß er nach Mekka schaut, und Allah vergebe ihm.« Sie schaufelten die Erde über den Toten, und während er es tat, sagte Ali leise: »Allah wird ihm vergeben, denn weiser als alles ist Allah und gütiger. «

Unter dieser Grabrede wurde Bekir bestattet, und die zwei, die ihm dieses ehrliche Begräbnis bereiteten, sein Weib und der junge Meisterdieb, gingen erschöpft ins Haus, wo Ali sich sogleich ins Bad begab, um den schrecklichen Geruch von sich abzuwaschen. Als er erfrischt in den großen Raum nahe dem Eingang kam, voll Begier auf den Bericht der Frau, sah er sie bereits dort am Boden sitzen, damit beschäftigt, durch einen Schleierstoff Goldfaden zu ziehen. Sie erhob sich, als er eintrat, stand in der für die Frauen vor einen Mann gebotenen demütigen Haltung wartend da. Ali kam auf sie zu, die ein leichtes Hausgewand trug und den Schleier nur lose um den Kopf geschlungen hatte, so daß ihr braunes Haar zu erkennen war.

»Hanoum«, sagte er, »du warst sehr mutig und sehr geschickt,



Alt-Tuerkische Maerchen-091 Flip arpa

und ich bitte dich, mir zu verzeihen, daß ich in überheblicher Art dich etwas lehren wollte. Sei nun so gütig, mir zu sagen, was geschah und wie es möglich wurde, daß du schon vor mir zurück warst?« Ein leises Lachen antwortete ihm, und er sah rote weiche Lippen unter dem Schleier sich bewegen. »Ich ließ den beiden Männern meinen schönen rosenfarbenen Feredjeh, da sie glaubten, mich gefaßt zu haben, und entfloh in dem dunklen Burnus - das war alles. So war ich vor dir hier, denn ich wußte, wie schwer du zu tragen hattest. Und jetzt, Herr und Freund, bin ich dir zu Diensten in allem und dir voll Dank ergeben bis in den Tod, nahmst du doch die Schande von mir, so daß ich mein Haupt wieder heben darf . . . so!« Und mit einer schnellen freien Bewegung schlug die Frau den Schleier zurück, stand und schaute Ali an, als blicke sie ungeblendet in die Sonne. "Aman, Hanoum Effendim, was tust du? Wieviel Vertrauen schenkst du mir, und wie reich gibst du mir Dank! Ich tat es um der Ehre derer willen, die wir zum gleichen Beruf gehören, das ist alles.« Die Frau sah ihn immer noch an, lachte leise, sagte: »Das weiß ich wohl. Ich weiß auch, daß du mich für ein altes Weib ansahst, und das war ich um der Schande willen auch geworden. Doch ich bin jung, und du bist jung, und Bekir schuldet dir Dank. Willst du seinen Dank nicht annehmen, o mein Gebieter, diesen Dank, der hier vor dir steht?«

Es muß hier etwas gesagt werden, das Beachtung verdient, wenn auch die Stelle, an der wir stillstehen, gewißlich nicht solcherart ist, daß man Betrachtungen anstellen möchte. Aber dieses ist doch zu wissen wert: Der Lehrer Aus, der ihm das Süße und das Behagen verbat um der geschmeidigen Schlankheit willen, dieser freundliche, weise und strenge Mann, verbat ihm auch das



Alt-Tuerkische Maerchen-092 Flip arpa

Weib. Er hatte gesagt: »Es ist eine Sache der Selbstverständlichkeit, daß ein Jüngling ein Mädchen genießt, ein Mann ein Weib. Aber es ist besser, wenn ein Dieb frei bleibt von Weibern, solange er es irgend vermag, ohne immer an sie denken zu müssen und was sie zu geben vermögen. Denn Weiber sind die größten Gefahren, die es für einen Mann gibt, der Geheimnisse hat und der zudem für niemanden fürchten darf, um unbehindert seine Arbeit zu tun. Darum meide sie, solange du es vermagst, mein Sohn Ali und der Tag wird kommen, da du mir Dank weißt.« Das waren des Lehrers Worte gewesen, und sie hatte Ali bisher solcherart befolgt, daß er noch kein Weib sich zu eigen nahm. Sein Wille, etwas Großes zu werden, und die Scheu, er könne daran gehindert werden durch eine Frau, die sich an ihn hängte, hatten ihn so sehr beherrscht, daß er dieses Derwisch-Leben nicht als Entbehrung empfunden hatte.

In dem Augenblick, als Leila, die Witwe des Bekir, den Schleier fallen ließ und er in ein schönes, kluges, junges Gesicht schaute, schoß all dieses blitzgleich durch Aus Sinn, zugleich auch mit einer jubelnden Erkenntnis, denn hier war das ein Weib, das für ihn richtig war, diese, die schon eines Diebes Gefährtin gewesen war. Hoch brauste in ihm eine Welle des Entzückens auf, und er griff nach der Frau, stammelte: »Du schönes, du gesegnetes Kismet, tritt ein in mein Leben und bleibe darin!« Und beide genossen des Glückes der Liebe und der Erfüllung, während in seinem frischen Grabe Bekir den Schlaf des Friedens schlief. — —

Der nächste Tag brach an mit viel Unruhe, denn schon in aller Morgenfrühe, ehe noch die Sonne zu heiß schlug, kam ein Bote aus dem Serail daher, blieb alle zehn Schritte stehen und rief mit gewaltiger Stimme: »Der Dieb, der den Dieb gestohlen hat, wolle sich



Alt-Tuerkische Maerchen-093 Flip arpa

melden. Der Vezier gibt ihm Straffreiheit, so er sich meldet. «

Ali hörte den Rufer, begab sich zum Fenster, lehnte dort und schaute hinaus, geruhig betrachtend, wie viele immer wieder stehenblieben und Meinungen miteinander austauschten, auch mehrfach zum Hause des toten Bekir hinüberschauten. Ohne sich in das Zimmer zurückzuwenden, sagte Ali heiter: »Der Vezier hat nicht viel Meinung von der Klugheit eines Diebes, wenn er glaubt, auf diese Lockung hin werde der sich melden. Warten wir weiter.« Leises Frauenlachen antwortete ihm, und er war sicher, daß die Wartezeit ihm nicht lang werden würde. Doch als der Tag sich zum Abend hin senkte, fand Ali es an der Zeit, das Versprechen, das er seinen Bazar-Freunden gegeben hatte, einzulösen, und so machte er sich auf den Weg zu jenem Kaweh. Er wurde nicht enttäuscht, denn sie waren vollzählig dort, und es waren noch mehr hinzugekommen.

Er wurde begrüßt wie ein siegreicher Krieger, der ruhmgekrönt zurückkehrt, und es fehlte nicht viel, so hätten sie ihn mit Geschenken kostbarster Art überhäuft. Aber er war zu klug, alle diese Gaben anzunehmen, blieb auch verschlossen und gab keinen Bericht über sein Tun und Lassen, sagte nur bittend: »Ich weiß, meine Freunde, ihr werdet es auch so nicht tun, aber verratet nichts von allem, was wir wissen, ehe ich nicht vollbracht habe, was ich beabsichtige. Wollt ihr mir helfen durch eure Verschwiegenheit?« Sie wurde ihm zugesichert, und er glaubte diesen Bazarhändlern, weil er wußte, daß sie nur zu gewinnen hatten, wenn sie mit einem ehrlichen und geschickten Diebe zusammenhielten. So begab er sich dorthin zurück, wo ihn alle Freuden dieser Erde erwarteten, und harrte dessen, was der Vezier weiter unternehmen werde, um seinen begehrten Fang zu tun.



Alt-Tuerkische Maerchen-094 Flip arpa

Zwei Tage später war es, daß die nun schon wohlbekannte laute Stimme des Rufers wieder erscholl, doch hatte sich dieses Mal der Vezier etwas Besseres erdacht. Der Ausrufer sagte zwar die gleichen Worte wie das erste Mal, aber er hatte jetzt einen Korb bei sich, und der war schadhaft, solcherart, daß aus ihm, der offenbar mit Goldstücken gefüllt war, immer wieder eines dieser goldenen Lockmittel - scheinbar unbemerkt - zu Boden fiel.

Ali lehnte wieder am Fenster, schaute aber aufmerksamer hinaus. Er sprach auch dieses Mal nach rückwärts in das Zimmer, doch waren seine Worte drängend, nicht lässig wie vorher.

»Leila, höre: schicke die Sklavin sogleich in den Bazar, sie soll sehen, mir zehn, zwölf lebende Tauben zu kaufen, und sie möge sich eilen; du aber kehre sogleich zu mir zurück. Nein, warte! Ist etwas Pech oder Teer im Hause? Wenn nicht, bringe sie auch davon einiges mit. Und sie soll keine Zeit verlieren.« Er wandte sich nicht um, hörte leises Huschen und wußte, ihm wurde gehorcht.

Dann verfolgte er so lange wie nur möglich den Weg des Ausrufers mit den Blicken, und als er die Frau zurückkommen hörte, fragte er eifrig: »Hast du irgendwelche alte Schuhe im Hause, Leila, meine Schöne? Solche, die mir passen könnten, wenn auch ein wenig reichlich? Dann bringe sie her, und wir werden an ihnen einiges zu tun haben.«

So begann dieser Tag mit Lachen und Geschäftigkeit, und als die Sklavin zurückkehrte, wurden die zuvor sorgfältig in den Sohlen der Schuhe angebrachten Löcher reichlich mit Pech verschmiert, worauf dann über dieses einige Blätter aus dem Garten geklebt wurden. Bald danach verließ durch die schmale Tür an



Alt-Tuerkische Maerchen-095 Flip arpa

der Rückseite des Besitzes ein Mann den Garten, der einem geringen Händler glich, zumal er einen jener Körbe trug, darinnen man Tauben herumzutragen pflegt, die zum Verkauf geboten werden. Dieser Mann, der die Kufieh der Wüstenreiter solcherart umgelegt hatte, daß sie einen Teil seines Gesichtes verdeckte, folgte der immer noch hörbaren Stimme des Ausrufers und fand sich leicht auf dessen Spuren, die unmißverständlich kenntlich wurden, durch die hie und da herumliegenden Goldstücke. Sah der Mann ein solches, so blieb er kurze Zeit stehen, und es schien fast, als hinke er ein wenig, so fest drückte er dann den Fuß auf den Boden.

Dann erreichte er den Ausrufer selbst und blieb bei ihm stehen, der soeben, um sich eine Zigarette zu drehen, den Korb mit Gold auf den Boden gestellt hatte. Der Taubenverkäufer setzte seinen Korb neben den des Ausrufers, nahm seine Lunte aus dem Gürtel, rieb den Stahl und entzündete ein Flämmchen, das er dem Ausrufer zu der fertig gedrehten Zigarette hinhielt. Unglücklicherweise bekam der Korb mit dem Gold bei diesem Vorgang versehentlich einen Tritt, und die Münzen verstreuten sich nach allen Seiten. Laut waren die Ausdrücke des Bedauerns, die der Taubenverkäufer ausstieß, und er bemühte sich, beim Aufsammeln des Goldes behilflich zu sein, ließ aber bald lachend davon ab und erklärte: »Besser ist es, dir nicht zu helfen, da dieses alles ja Diebeslockung sein soll, denn du könntest glauben, ich wolle dich bestehlen.«

Immer noch lachend, beugte sich der Händler nieder, um seinen Taubenkorb aufzunehmen, da löste sich der Verschluß, und die Tiere suchten flatternd die Freiheit. Laut jammernd versuchte der Händler sie einzufangen, wobei er unausgesetzt hin und her hüpfte, in die Luft sprang, nach oben griff, schrie: »Ach, meine Tauben,



Alt-Tuerkische Maerchen-096 Flip arpa

meine Tauben!« Der Ausrufer war von diesem Kummer tief betroffen und versuchte, ein oder zwei Tiere zu fangen, wobei der Goldkorb nochmals umfiel. Vergeblich! Die Tauben waren fort, und der Goldkorb war nahezu leer. »Hilf mir suchen, Freund, und ich werde dir ein Goldstück für deine Mühe schenken, du, der du auch Verluste erlitten hast«, sagte großmütig der Ausrufer, hatte aber dann nur noch vier bis fünf Goldstücke beisammen und wandte sich brummend ab.

»Viel zu klug ist dieser Dieb für den Vezier, viel zu klug!« sprach er vor sich hin, steckte die wenigen Goldstücke in die eigene Tasche, schenkte eines dem Taubenverkäufer und ging zurück zu seinem Auftraggeber. Der Taubenverkäufer sah ihm eine Weile nach, bis er sicher war, der Mann kehrte nicht zurück, blickte sich suchend um und entdeckte, was er brauchte, den tiefen Toreingang zu einem Stall. Er drückte sich dort in den Schatten, hob einen Fuß, kratzte behutsam von der Schuhsohle Teer, Blätter und Goldstücke ab, hob den anderen und tat ein Gleiches. Dann warf er den leeren Taubenkorb in einen Winkel, wickelte seine Beute in den Zipfel der Kufieh und ging geruhig zurück zu der schmalen Nebenpforte des roten Hauses.

»Sieh, meine Schöne«, sagte Ali »hier sind einige Goldstücke, die der Vezier mir schickte, für die ich ein Schmuckstück erstehen werde, das deines Reizes würdig ist. Ein kleiner goldener Springbrunnen... sieh her!« Und Ali ließ die Goldstücke aus seiner Hand auf ein Kissen aus weicher blauer Seide herabfallen, so daß es nur glitzerte, nicht klirrte. Sie lachten beide zusammen über den kleinen Spaß, und der Tag verging wie der frühere im Warten auf neues Geschehen und dem Genuß eines Glückes, auf dem noch der Morgenglanz des Ungewohnten lag.



Alt-Tuerkische Maerchen-097 Flip arpa

Wieder die Stimme des Ausruf ers, und wieder Ali lauschend am Fenster. Dieses Mal aber hatte er für den Vezier keinen Tadel, denn was der Bote kündete, lautete so: »Der Dieb, der den Dieb gestohlen hat, melde sich ohne Scheu vor Strafe beim Vezier im Serail, denn seine Klugheit und seine Schnelligkeit sollen Verwendung finden.« Sich zurückwendend, sagte Ah: »Jetzt, meine Schöne, beginnt es in Wahrheit! Hilf mir, daß ich mich kleide, wie es sich geziemt, wenn man den Vezier im Serail aufsucht, und wünsche mir insgeheim, daß ich meinem großen Meister begegnen möge.« So kleidete ihn Leila mit weichen und liebenden Händen, als sei sie seine Sklavin, die sie in Stille und Verborgenheit sich auch zu werden bereitete; sie wußte wohl, daß diese drei Tage und Nächte, da ihr der schöne Jüngling allein gehört hatte, niemals in gleicher Art wiederkehren würden, und wenn sie mit zarten Bewegungen an der Seide seiner Kleidung entlangstrich, so nahm sie Abschied von einem Traum, dem nun schon das Erwachen folgte.

Ali aber, den das geheime Lachen niemals ganz verließ, gedachte seinen ersten Besuch im Serail in vollem Schmuck abzustatten, und so beschloß er, nicht wie ein Bettler zu Fuß zu gehen, nein, wie ein Sieger hoch zu Roß anzulangen. Er holte sein Pferd aus dem Stall und legte ihm eine grüne Satteldecke auf, die Leila hervorgeholt hatte aus ihrer reichen Schatztruhe. Als er dann hinausritt in den strahlenden Tag, ein schöner geschmückter Jüngling, auf einem edlen Pferd, das tänzelnd schritt, um Tage der erzwungenen Ruhe zu vergessen, da folgte ihm mancher Blick, nicht nur verstohlen unter Schleiern hervor, nein, billigend auch von Männern.

Am Tor des Serails angelangt, sprang ein Diener herbei, um das Pferd zu halten, während der Effendi abstieg,



Alt-Tuerkische Maerchen-098 Flip arpa

und Ali sagte: »Der Vezier hat mich herbefohlen. Ich bin der Dieb, der den Dieb gestohlen hat. Hab acht, daß du mein Pferd nicht fortlaufen läßt!« Denn der Diener hatte vor ungläubigem Schreck den Zügel des Pferdes losgelassen. »Führe mich zum Pförtner und eile ein wenig, Freund!« Der Diener, völlig verschreckt und diese strahlende Erscheinung ratlos anstarrend, stammelte: »Dort links, Herr«, stand und schaute sprachlos dem leicht und schnell dahinschreitenden schönen Jüngling nach. Ali immer mit dem geheimen Lachen im Herzen, schritt zu dem kleinen Eingangs-Kiösk, darin er eine behäbige Gestalt sitzen sah, und sagte wieder sein Sprüchlein auf. Der oberste Türhüter sah ihn strafend an, bemerkte ernst: »Es geziemt sich nicht, Effendim, mit solchen Dingen Spaß zu treiben, besonders nicht, da du ein Jüngling bist und ich dein Vater sein könnte. Nenne dein Begehr und spaße nicht länger mit mir«.

Ali neigte sich ein wenig vor, sah den Obersten Türhüter lächelnd an, flüsterte geheimnisvoll, während er ihm über den Arme! strich: »Du glaubst, Verehrungswürdiger, daß ich mit dir ungeziemend Spaß treibe? Daß ich kein Dieb bin, ja? Und was, o Herr, ist dieses?« Dabei hielt Ali dem völlig Verblüfften einen Ring vor die Augen, der soeben noch am kleinen Finger der rechten Hand des Obersten Türhüters gesessen hatte. »Mein Ring? Woher? Wie?« fragte der würdige Mann ratlos, und Ali machte eine schnelle leichte Bewegung über den niederen Tisch hin, vor dem der Türhüter saß. »So!« sagte er und hielt dem Erstaunten dessen Tabaksbeutel und die Feuerlunte hin. Jetzt aber sprang das heimliche Lachen auf den Türhüter über, und schon auch waren zwei Diener herbeigekommen, um zu sehen, was es denn da gäbe, langweilt sich doch niemand so ausreichend wie die Türhüter am Serail und ihre Gehilfen.



Alt-Tuerkische Maerchen-099 Flip arpa

»Er will mir nicht glauben, daß ich ein Dieb bin«, sagte Ali und lachte die zwei strahlend an, »und so muß ich es eben beweisen. Seht ihr, so und so, und dann noch einmal so . wollt ihr nehmen? Es ist euer.« Er hielt ihnen lachend allerlei hin, das er von ihnen genommen hatte, so wie einer trockene Blätter von einem Baume pflücken würde, und der Zuschauer bei dieser seltenen und heiteren Begebenheit wurden es immer mehr.

So viel Lachen hatte von dem hohen Gewölbe dieses Serails noch niemals widergehallt, und endlich sagte der Oberste Türhüter, der sich den Bauch vor Freude hielt: »Wir glauben dir, du Zauberer, wir glauben, daß du der beste Dieb aller Zeiten seist. Aber nenne mir deinen Namen, Sohn, denn du bist von jetzt an einer meiner Freunde, und ihr alle sollt nie vergessen, daß ich es war, der ihn hier einließ, diesen Strahlenden, der uns das Lachen brachte. Wie heißt du, sage?« Klar und schnell wie ein Ruf kam als Antwort das kurze »Ah«. »Sei dein Weg weiter der eines Freien, Ali Ihr, geleitet ihn hin zum Vezier und gebt mir Nachricht, was weiter geschah. Geht.«

Sie gingen zu viert mit Ali und was sonst in den breiten, stillen Gängen des Serails niemals geschah, hier und jetzt wurde es Wahrheit: es wurde gelacht, leise zwar, aber desto heiterer. Erstaunt kamen den fünf Männern andere Diener entgegen, fragten, erhielten Auskunft, mußten auch staunend lachen. »Zum Vezier? Aber er ist beim Padischah, dort drinnen, man darf nicht stören.« Von allen Worten vernahm Ali nur »dort drinnen«, sah das Hinweisen auf den mit einem Vorhang verhüllten Eingang. Dort drinnen! Nur durch einen Vorhang getrennt war er vom Anblick dessen, den er seinen Meister nannte. Dort war er, der Padischah! Die Diener standen und flüsterten leise miteinander, und während sie für eines Herzschlags Dauer nicht auf ihn achteten, war er



Alt-Tuerkische Maerchen-100 Flip arpa

durch den Vorhang hindurchgeschlüpft, ohne daß die Falten sich auch nur bewegten.

Ali stand in einem großen, weiten Gemach, an dessen anderem Ende sich ein niederer Sitz befand, aus vielen Kissen gebildet. Auf diesen Kissen saß ein Mann, dessen kostbare Gewandung nach allen Seiten herabfiel und auf dessen Turban bei jeder Kopfbewegung ein Edelstein blitzende Lichter sprühte. Vor ihm in gebückter Haltung stand einer, der ganz Ergebenheit zu sein schien und mit leiser Stimme gleichförmig sprach. Ali drückte seine schlanke Gestalt in die Falten des Vorhangs und bemühte sich, etwas von dem zu verstehen, was jener, der wohl der Vezier war, vorbrachte, aber es gelang ihm nicht. Er bewunderte still für sich die ruhige und edle Haltung des Mannes auf dem Kissenthron, gewißlich der Padischah, der von Langeweile oder Ermüdung nichts erkennen ließ. Das Gesicht war das eines noch nicht alten Mannes, der Bart wies kein Grau auf, die Augen sahen gleichgültig geradeaus.

Da aber fuhr Ali so heftig zusammen, daß er seine Anwesenheit beinahe vorzeitig verraten hätte, denn in diese feierliche Gedämpftheit hinein rief urplötzlich eine helle, heftige, gebieterische Frauenstimme: »Erhabener Vater, ich beschwöre dich, befiehl endlich diesem traurigen Truthahn, zu schweigen! Hat er dich noch nicht lange genug gelangweilt?« Ali sah sich nach allen Seiten um, konnte aber keine weibliche Anwesenheit entdecken, vermochte zudem seine Entrüstung über diese Ungeziemlichkeit kaum zu zügeln. Wo verbarg sie sich, diese freche Quelle des Unerlaubten? Wo entsprang sie?

Da sahen seine scharfen Augen hinter dem Kissenhaufen, den man vielleicht einen Thron hätte nennen können, das leichte Wehen eines Spinnwebs, nein, eines Schleiers, etwas, das wie ein Sonnenschatten sogleich wieder unsichtbar



Alt-Tuerkische Maerchen-101 Flip arpa

wurde. Aber daß er recht gesehen hatte, erkannte Ali daran, daß der Herrscher seinen Kopf rückwärts wandte und leise sagte: »Schweig, Zahirah, meine Tochter! Vergebt mir, Vezier, mein Freund, sprecht weiter! Was ist's mit jenem Dieb, von dem Ihr soeben spracht?« Der Vezier begann wieder zu murmeln, aber Ali fand, dieses sei für ihn der rechte Augenblick. Nicht weiter der Bewegung hinter dem Vorhang achtend, die gewiß die Unruhe seiner Freunde, der Diener, anzeigte, trat er mit drei, vier leichten sprungartigen Schritten vor, stand schon vor dem Thron, ließ sich auf die Knie nieder, berührte mit der Stirn den Boden, sagte aus ehrlicher Freude und Hingabe: »Mein Herr und Meister, endlich bei dir«, verharrte regungslos, sah auch nicht auf.

Ali wußte, daß der Vezier an sein Schwert gegriffen hatte, war aber auch gewiß, daß der Padischah abgewehrt hatte. Er glaubte an das Kismet und war bereit, in diesem Augenblicke durch herbeigerufene Wachen zu sterben, wenn sein Glaube ihn tröge. Die wenigen Herzschläge lang, die er dort vor den Füßen des Padischahs am Boden lag, zeigten ihm die Bilder dessen, was er war, was er suchte und was ihm bestimmt sein konnte. In ihm sagte es: Wenn es das Ende ist, oh Allah, so danke ich dir! Ich hatte Streben, Hoffnung und ich fand Frauenliebe, oh Allah, ich danke dir!

Aber daß Allah mit Ali noch lange nicht am Ende seiner Absichten angelangt war, das erwiesen die nächsten Minuten. Denn wieder erklang die helle, die gebieterische junge Frauenstimme, und sie klang jubelnd, als sie rief: »Erhabener Vater, endlich ein Geschehen! Oh, laß ihn aufstehen, er scheint mir jung zu sein, denn wie hätte er sonst so schnell vor dich hingleiten können? Heiße ihn aufstehen, erhabener Vater!« Ali bewies seine Klugheit zugleich mit seinem Mut dadurch, daß er reglos liegenblieb,



Alt-Tuerkische Maerchen-102 Flip arpa

und beides wurde sogleich belohnt. Er fühlte die Berührung einer Hand an seiner Schulter und hörte eine ruhige, tiefe Stimme sagen: »Erhebe dich, mein Sohn, und lasse mich wissen, warum du mich deinen Herrn und Meister nanntest. Steh auf. Rede.« Ali erhob sich.

Dieses eben jetzt war von allem das Schwierigste gewesen, nun konnte er wieder sprechen, will sagen, der Befehlende sein. Ist nicht der, der spricht, immer der Beherrschende, so er von der Kraft der Worte weiß? Kommt es nicht nur darauf an, die Schärfe und die Milde so zu nützen, wie man es mit der Schärfe und der Schnelle seines Schwertes tut? War es nicht ein Sultan der Moslim, der in alten Zeiten die Schärfe eines Schwertes danach erzeigte, ob es vermöge, leichtesten Flaum zu durchteilen? So auch das Wort, die gefahrvollste Waffe, deren sich Ali wohl bewußt war. Er erhob sich, stand in seiner jungen Mannesschönheit aufrecht vor dem Kissenthron, und die schweren Seiden seines Gewandes fielen an seiner schlanken Gestalt rauschend herab. »Herr und Meister habe ich dich genannt, Erhabener Padischah, weil ich seit meiner Knabenzeit es ersehnt habe, vor dir zu stehen, deiner würdig, Erhabener. «

Ali sah deutlich, wie sich die Schleier hinter dem Throne bewegten, und es gelang ihm nur schwer, sein Lächeln zu verbergen, aber das Lachen in seinem Herzen jauchzte auf, denn dieses war, was er erhofft hatte, und mehr. »Was will das besagen, was du mir wiederholst, mein Sohn? Rede klarer.« Ali verneigte sich, die Hände über den Gürtel verschränkt, sagte ernst und ruhig: »Erhabener, ich bin ein Dieb. Du bist ein Dieb, aber der größte von allen, und so bist du mein Herr und Meister, Erhabener, Ersehnter.«

Schweigen. Völliges Schweigen für drei Herzschläge und



Alt-Tuerkische Maerchen-103 Flip arpa

dann das helle, unwiderstehliche junge Lachen einer Frauenstimme. Ali hatte es schwer, denn ihm war es immer mühsam gewesen, der Lachlust zu widerstehen, aber er wußte, hier galt es, ganz ernst zu bleiben, ja noch viel, viel ernster als jemals. So hielt er sein Gesicht in Falten, als sei es aus Leder gemacht, und schaute gradeaus, um niemandes Auge zu begegnen und dann vielleicht doch lachen zu müssen. Nach unendlich langer Zeit endlich klang die ruhige, ernste Stimme wieder auf und sagte: »Warum denn, mein Sohn, nennst du mich einen Dieb?« Ali verneigte sich, sagte feierlich: »Weil ich glaube, Erhabener, daß ein Herrscher immer der größte Dieb sein muß, er kann nicht anders. Ich aber bin noch ein kleiner Dieb, nur der, der den Dieb gestohlen hat und den dieser hier« — eine nebensächliche Bewegung zu dem Vezier hin - »rufen und suchen ließ.«

Ehe der Padischah auf diese Worte hin etwas sagen konnte, klang wieder die helle Stimme hinter dem Kissenthron auf und rief: »Dieser ein Dieb? Ich glaube es nicht! Diebe sind schmutzige Leute mit Haar im Gesicht wie bresthafte Bettler. Dieser aber ist ein schöner, ein junger und ein mutiger Mann, und er ist endlich etwas Neues in diesem Stall voll beschnittener Puter. Oh mein Vater, strafe ihn seiner Lüge halber nicht, denn er wollte auf diese Art nur vor uns gelangen. Lasse ihn leben!« War nun schon alle Ordnung zerstört und galt es nur noch, die Ehre der Diebe zu beweisen, so entschloß sich Ali zu den Schleierfetzen hinter dem Thron zu sprechen, jedoch erst, nachdem er einen Blick auf den völlig zusammengebrochenen Vezier geworfen hatte.

»0 du, die sich erdreistet, nahe dem Throne des großen Meisters deine krähende Stimme zu erheben, armes beklagenswertes Geschöpf, die du keine Tochter Allahs bist, höre mich sagen, daß ich in Wahrheit ein Dieb bin.



Alt-Tuerkische Maerchen-104 Flip arpa

Nicht alle Diebe sind Elende, wie du sie nennst, du ehrfurchtslose Stimme, nicht alle Diebe zeigen sich deinem armen Verstehen sogleich an. Nennt mir eine Aufgabe, die dir beweist, daß ich in Wahrheit ein Dieb bin, und ich werde sie erfüllen.«

Ehe die Schleierfetzen hinter dem Kissenthron antworten konnten, sagte die ruhige Stimme des Padischah: »Vezier, sprich: riefst du einen Dieb auf? Erkläre es mir, schnell.« Der Vezier verneigte sich, sagte halblaut mit ängstlichen Seitenblicken auf Ah: »Ich tat es, Erhabener. Es war so, daß ein Dieb gehenkt wurde und seine Leiche bewacht, daß sie nicht bestattet werden könne. Doch wurde sie geraubt, wir wissen nicht wie. Die Aufrufe waren fruchtlos, das als Lockung ausgestreute Gold wurde auch genommen, und ich erließ neue Aufrufe, der Dieb solle sich furchtlos melden. Was du hier vor dir siehst, wurde nun Wirklichkeit.« Der Vezier, ein kleiner alter Mann, wurde noch kleiner und der Padischah noch ein weniges größer. Hinter dem Kissenthron aber erscholl ein hoher weiblicher Lockruf: »Er soll beweisen, daß er ein Dieb ist, er soll es beweisen!«

Da geschah das Seltsame, daß der Padischah diesem, der sich nicht nur als Dieb bezeichnete, sondern ihn selbst auch so genannt hatte, einen Blick zuwarf, der fast wie ein Blinzeln wirkte; zugleich rief er, nach rückwärts zu der hellen Stimme gewandt: »Warum sollte ich ihn nicht leben lassen, der mir die kostbare Gabe des Lachens bringt, törichte Tochter? Aber da du verlangst, er solle sein Können beweisen, so stelle ihm denn die Aufgabe.« Schweigend warteten sie, der Herrscher, der Vezier und der Dieb, bis die helle Stimme befahl: »Er soll aus dem Schatzturm die kleine grüne Krone holen, nach der mich so lange schon verlangt.« Der Padischah erschrak, sagte hastig: »Törichte du, wie kannst du so Unsinniges



Alt-Tuerkische Maerchen-105 Flip arpa

erdenken! Der Schatzturm ist unerklimmbar, und niemand weiß, wo die kleine Krone zu finden wäre. Lasse die Torheit, ersinne etwas anderes.« Der Vezier mischte sich auch ein, sagte besorgt: »Niemand weiß, was sich im Schatzturm befindet, niemand betrat ihn seit Menschengedenken, und sein glattes schwarzes Gestein bietet keinen Halt für Hand oder Fuß. Das ist ein unsinniges Begehren, das vollbringt niemand.«

Ehe die helle Stimme sich wieder melden konnte, sagte Ali hastig, denn diese Sache mit dem Schatzturm begann ihn zu reizen: »Ist der Schatzturm jener niedere dicke Turm, der in der Sonne dunkel gleißt und den man links sieht, wenn man zum Serail einreitet?« Der Vezier neigte den Kopf, sagte leise: »Er ist es. Lasse ihn sein. Ich kann dich anders verwenden.« Ali lachte wieder, denn die Sorge des Veziers schien ihm darauf hinzudeuten, daß der Schatzturm längst ausgebeutet war, ob zu ersteigen oder nicht. »Wenn du mir erlaubst, Erhabener Herr und Meister, diese Probe meines Könnens abzulegen, so werde ich es tun, so jene, die mich herausgefordert hat, die hinter deinem Throne spricht, Herr, bereit ist, mir den Lohn zu geben, den ich von ihr verlangen werde.«

Der Padischah wandte sich nach rückwärts, fragte streng: »Du hast die Bedingung gehört. Stimmst du zu, Zahirah, meine Tochter?« Sogleich kam die entrüstete Antwort: »Wie kann ich denn zustimmen, da ich nicht weiß, was er verlangen wird? Das ist unbillig.« Der Padischah sagte halblaut zu Ali gewissermaßen überredend: »Hat sie nicht recht, mein Sohn? Es wäre unbillig. Darum nenne zuvor dein Begehren.« Ali fühlte sich in der eigenen Schlinge gefangen, denn er wußte nicht, was er verlangen sollte, hatte nur die anmaßende Sicherheit hinter dem Throne demütigen wollen; es galt, blitzschnell zu



Alt-Tuerkische Maerchen-106 Flip arpa

überlegen und Zeit zu gewinnen. So sagte er denn: »Wenn ich das grüne Krönchen bringe, werde ich mein Begehren nennen. Bringe ich es nicht, habe ich alles verwirkt, Ehre, Leben und also auch jede andere Gabe. Ist es so nicht mehr unbillig?« Der Padischah schnitt weiteres Gerede ab, machte eine abschließende Handbewegung, die offenbar der Tochter galt, entschied ruhig: »Es sei, wie du gesagt hast, mein Sohn. Und wir werden uns nun allesamt dorthin begeben, wo sich der Turm erhebt, um Zeugen zu sein dieses Geschehens. Bedarfst du vieler Zeit für deine Vorbereitungen?«

Auch jetzt galt es, schnell zu überlegen, und Ali gab zur Antwort: »Nur so lange, Herr, wie mein Pferd braucht, um mich dorthin zu bringen, wo ich mein Arbeitszeug verwahre, und zurück. Bis ihr euch alle im Hofe am Turm niederläßt, werde ich auch dort sein. Erhabener Herr, ich bin dein treuer Diener und Sklave.« Sprach's, machte eine tiefe Verneigung und wandte sich auch nicht um, als die helle Stimme hinter ihm irgend etwas rief, was so ähnlich klang wie »grünes Krönchen«.

Als er den Vorhang hob, stoben die Diener auseinander, scharten sich leise lachend um ihn, beklopften und belobten ihn, konnten sich vor Freude kaum fassen. »Laßt mich, meine Freunde, es eilt sehr! Ich brauche noch etwas aus dem Bazar, ihr hörtet, worum es geht, ist es nicht so?« Sie bejahten und erboten sich, ihm zu besorgen, wessen er bedürfe, und dem stimmte Ali zu, sparte es doch Zeit. »Kommt, gehen wir zum Türhüter, er wird es gewißlich für mich erledigen lassen, kommt nur, denn es eilt! Und während wir zu ihm gehen, nennt mir seinen Namen, ich bitte euch.« Vielstimmiges Nennen des Namens Nazir Agha erfolgte, und da waren sie schon angelangt. »Ah, mein Sohn, du Freier, sei gegrüßt!« rief ihm der Agha von weitem zu. Ali kam nahe,



Alt-Tuerkische Maerchen-107 Flip arpa

sagte eindringlich: »Mein Vater und Freund, ich bitte dich, hilf mir bei dem, was mir zu tun obliegt, willst du?« Nazir stimmte sofort zu. »Was es auch sei, ich tue es für dich, rede und befiehl.« Ali sagte bedächtig: »Besorge mir vierzehn Nägel von der Länge meines unteren Armes; stark müssen sie sein, spitz und reines Eisen; dazu einen starken Hammer. Das ist alles, aber es muß schnell gehen, denn ich gehe mir nur die Berufskleidung anlegen, während die anderen alle sich hinausbegeben, mir am Turm zuzuschauen. Diese Diener werden dir alles genau berichten. Wo ist mein Pferd? Ich eile und verlasse mich auf euch, meine Freunde.«

Wie es ihm gelang, träge gewordene Füße zum Laufen zu bringen, müde gewordene Hände zu schnellem Zugreifen, das erzählen alle Diener des Serails wieder und wieder. Schon saß er auf seinem unruhigen Pferde, und Nazir, der Türhüter, ließ seine Boten zu allen Schlössern laufen, versprach Lohn und schreckliche Strafen zugleich, brachte alles in Unruhe und Hast durcheinander. Dann kamen die Befehle des Veziers, Sitze in jenem Hof zu richten, von dem aus der Turm zu sehen war, und das ganze Serail befand sich in Aufruhr. Die Prinzessin Zahirah brachte ihre Skiavinnen noch mehr zur Verzweiflung als sonst, und die träge Ruhe, die sonst in Verbindung mit der Angst hier herrschte, war völlig verbannt, weil ein kecker, lachender Jüngling sich und sein Können gegen eine ganze müde Höflings-Gemeinschaft gestellt hatte.

Ali aber ritt in beschwingter Eile zum roten Hause des Bekir und rief nach der Sklavin, rief nach der Herrin, brachte auch hier alles durcheinander. »Mein dunkles Seidengewand für die Arbeit, schnell, schnell, ich berichte zugleich.« Er riß sich die Kleider vom Leibe und sprach hastig, erregt: »Es geht darum, daß ich den Schatzturm



Alt-Tuerkische Maerchen-108 Flip arpa

besteigen soll und ein Schmuckstück herausholen. Weil sie mir alle nicht glauben wollten, daß ich ein Dieb sei, muß ich es so beweisen. Die Tochter des Padischah, ein schamlos freches Geschöpf, forderte mich heraus. Wenn ich alles erreiche, wie ich glaube, werde ich verlangen, sie zu heiraten.«

Schweigen. Ali bestrebt, sich die dunkle Seide über die Haut zu ziehen und sie glattzustreichen, achtete dieses Schweigens nicht sogleich, sah dann auf und bemerkte einen Haufen seidener Gewänder am Boden. Er stand wie erstarrt, stieß dann einen Ruf des Schreckens aus und hockte im nächsten Augenblicke neben dem Häufchen Leid. »Leila, meine Schöne, meine Seele und meine Freude, ich bitte dich, verstehe mich recht: wenn ich dieses Mädchen eheliche, weil sie die Tochter des Padischah ist und ich sie brauche, wie eine Leitersprosse - verstehe doch! —, wie kannst du ihr dann die Ehre erweisen, um ihretwillen zu leiden? Du bist die, an die der Dieb glaubt, die den Dieb versteht, der der Dieb sein Leben in die Hand gibt. Kann ein Mann mehr tun und sein, oh Leila, meine Schöne?«

Sie hob ihr bleich gewordenes Gesicht, sah ihn an mit einem Blick, der tief in den seinen drang. Leise fragte sie: »Du bleibst mir, Ah?« Er sprang auf, lachte, sagte strahlend: »Du bist meines Lebens erste Frau und wirst - Inschallah - die letzte sein, die Eine. Denn du hast des Diebes Vertrauen. Alle anderen, so es sie gibt, sind Nichtigkeiten, Notwendigkeiten, nicht lebende Frauen. Komm, hilf mir den Mantel anlegen, so daß meine Kleidung nicht gesehen werden kann. Sei gegrüßt, du Blume meines Lebens, ich kehre als Sieger zurück und bade in deinem Vertrauen, meine Schöne!« Fort war er.

Im Hofe des Serails, nahe dem dicken, glatten, schwarzen Turm, hatte der ganze Hof Platz genommen, will sagen



Alt-Tuerkische Maerchen-109 Flip arpa

alles, was es an Männern gab, denn es versteht sich, daß die Frauen niemals teilnehmen können, woran immer es sei. Eine Ausnahme von jedem Gebot der Sitte und des Herkommens bildete auch dieses Mal wie immer die Prinzessin Zahirah. Sie hatte sich in einer Sänfte heraustragen lassen und kauerte nun an ihrem gewohnten Platz, hinter dem Padischah, doch hatte sie ihre Sitzpolster solcherart verschieben lassen, daß sie seitlich an ihrem Vater vorbei auf den Turm hin zu spähen vermochte.

Es war sehr heiß, und die Sonne glänzte auf der glatten Rundung des schwarzen Gesteins, daraus der Turm gebildet war. Klein, dick und behäbig saß er dort, sah böse und unangreifbar aus. Der unserem Volke innewohnende Geist des Glückspiels ließ sich auch jetzt erkennen, denn es wurden hohe Wetten abgeschlossen für und wider das Gelingen des Ersteigens. Geschlossen wie ein Mann wettete die gesamte Dienerschaft für Ali so tat es auch der alte Vezier, aber die Höflinge setzten dagegen. Am erregtesten war der Oberste Türhüter. Er schickte immer wieder junge Diener aus, die spähen sollten, ob diejenigen, welche die Nägel holten, immer noch nicht kämen, und in ausgewählten Worten verfluchte er seine Stellung, die ihn am Platz festhielt, diejenigen, die ihm diese begehrte Stellung gegeben hatten, und am allerherzlichsten die Prinzessin Zahirah, die an der ganzen Sache schuld war, wie er inzwischen von den Dienern gehört hatte, die hinter dem Vorhang begeisterte Zuhörer gewesen waren.

Endlich, endlich kamen die Boten zurück und meldeten das Kommen der Nägelträger, und als diese dann schweißtriefend eintrafen, wußte Nazir nicht, sollte er sie belohnen oder auch verfluchen. Er wählte eine Verbindung beider Möglichkeiten und gab ihnen fluchend eine Belohnung.



Alt-Tuerkische Maerchen-110 Flip arpa

Kaum war das geschehen, kaum stand der auserwählte Diener am Eingang zum Hofe, als auch schon das Nahen Aus zu vernehmen war. Dieses Mal ließ er sein Pferd bis dicht an den Kiösk von Nazir sprengen. Er glitt herab, und sie standen und starrten ihn an, ganz hingenommen von der erstaunlichen Schönheit seines Anblicks. Denn wir lieben des Menschen Schönheit, die nur ein bleiches Abbild derer von Allah ist. Die junge Gestalt, dank der strengen Zucht des Lehrers von vollendetem Ebenmaß, glänzte in der dunklen Seidenhaut, wie es der Schatzturm tat, und der schwere Burnus aus schwarzer Seide wehte wie Schatten um die schlanken Glieder.

Ali sagte nichts, streckte nur die Hand aus, und die Nägel wurden ihm gereicht, wie auch der schwere Hammer. Einmal schwang er ihn prüfend, dann ging er ruhigen Schrittes durch den gewölbten Gang zum Hof des Schatzturmes. Schweigend erwarteten ihn die Männer, schweigend schritt er zum Sitz des Padischah, verneigte sich, ließ den schwarzen Seidenburnus von den Schultern fallen und vor dem Kissenthron liegen und schien das allgemeine scharfe Aufatmen nicht zu hören, das bei dem Anblick der Seidenhaut ausgestoßen wurde.

Vor dem Turm angelangt, reckte Ali sich ein wenig, maß die Entfernung, steckte dreizehn Nägel in seinen festen Gürtelbund und trieb mit sicherer Hand den vierzehnten in das dunkle Gestein. Dann verwahrte er den Hammergriff zu den Nägeln im Gürtelbund, griff nach dem eingeschlagenen Nagel, prüfte dessen Festigkeit, zog sich zusammen und schwang sich solcherart auf den Nagel, daß seine Füße Halt fanden. Atemlos schauten die Männer zu, und wieder ging ein heftiges Aufatmen durch sie alle. Ali stand auf dem Nagel, die Füße in den weichen Seidenschuhen fest um den Halt geschlossen, reckte sich



Alt-Tuerkische Maerchen-111 Flip arpa

hoch und schlug wieder einen Nagel ein. Auch hier geschah das gleiche, und weiter so, bis alle Nägel eingeschlagen waren. Nun stand Ali auf dem letzten und hatte die Finger auf dem Gesims eines kleinen Fensters, das in der Höhe des Turmes fast unmittelbar unter der Bekrönung gelegen war. Es hatte nur eine sehr geringe Öffnung, und Ali zögerte ein wenig, ehe er weiteres tat, stand und schaute prüfend das Gesims an, entfernte vorstehende Teile mit dem Hammer, warf diesen dann in die Offnung hinein, schwang sich hoch und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Die ihm von unten her zugeschaut hatten, Augen von der Sonne geblendet, Nacken schmerzhaft vom Hinaufschauen, schienen einen einzigen gemeinsamen Seufzer auszustoßen, und sogleich erhob sich ein Stimmengewirr, das zwar aus Ehrfurcht vor der Anwesenheit des Padischah gedämpft war, aber wie das Rauschen eines unterirdischen Flusses klang. Die Wetten wurden erhöht, und diejenigen, die gegen Ali gesetzt hatten, konnten nur noch hoffen, er werde nichts im Schatzturm finden, wodurch dann die Aufgabe nicht als gelöst zu betrachten war.

Das Erstaunlichste aber war, daß von der Prinzessin Zahirah kein Laut zu vernehmen war, und mehrmals wandte der Padischah sich nach rückwärts, mußte aber lächelnd feststellen, daß es ein regungsloseres und stilleres Häufchen Schleier als seine sonst so laute Tochter nicht geben konnte. »Maschallah Ah«, hauchte er vor sich hin und wartete gespannt weiter. Jetzt endlich, es wollte scheinen, nach wer weiß wie langer Zeit, ward eine Bewegung an dem kleinen Turmfenster erkennbar, und dann wurde ein schlankes Bein herausgestreckt, ein Fuß tastete nach Halt, und die dunkle Seidengestalt, rückwärts sich herauswindend, wurde wieder sichtbar.



Alt-Tuerkische Maerchen-112 Flip arpa

Aber auf dem Kopf des Herabsteigenden blitzte und glitzerte es, und nun erhob sich ein Ruf, denn der jetzt langsam und sorgfältig, die Nägel wie Leitersprossen verwendend, herabstieg, trug in seinem schwarzen Lockenhaar das grüne Krönchen! Sicher war es Ali als die einfachste Art des Fortbringens erschienen, aber die Wirkung war die eines gelungenen Spaßes und zugleich auch einer Verspottung derer, die diesen Preis begehrt hatte, der lauten Zahirah. Verstohlenes, schnell unterdrücktes Lachen erhob sich von vielen Seiten, besonders aber von denen, die durch ihre Wetten reichlich verdient hatten.

Mit einem letzten Schwung sprang Ali zur Erde herab, kam, das Krönchen immer noch auf dem Kopf, zum Kissenthron des Padischah heran, verneigte sich, nahm das Krönchen ab, warf es mit geschicktem Schwung dorthin, wo das Häufchen Schleier zu erkennen war, sagte leichthin: »Hier ist die begehrte Krone; es befand sich sonst nichts in der Turmkammer, Erhabener Herr. Meinen Auftrag habe ich ausgeführt.« Nochmals verneigte er sich, hob seinen dunklen Seidenburnus vom Boden auf, legte ihn sich um, stand ruhig wartend dort. Der Padischah mußte das Lachen verbergen, drehte sich nach rückwärts, fragte halblaut: »Nun, meine Tochter, du sagst nichts? Hat er nicht getan, was du verlangtest? War es nicht wert, ihm zuzuschauen? Und bist du nun mit deinem begehrten Krönchen zufrieden?«

Im ganzen Land war es bekannt, wie schamlos, alle Sitte mißachtend Zahirah sich verhielt und wie der Padischah ihr alles hingehen ließ. Aber daß eine Frau vor allen Würdenträgern des Hofes laut redete, so daß alle es hörten, wenngleich sie nicht zu sehen war, das war doch so erstaunlich, daß auch die Kühnsten erstarrten. Denn jetzt erhob Zahirah ihre helle Stimme und gab Antwort



Alt-Tuerkische Maerchen-113 Flip arpa

auf des Vaters Frage. Sie sagte: »Ich habe behauptet, er sei kein Dieb, und er hat bewiesen, daß er keiner ist. Hat er nicht vor unser aller Augen, mit deiner Erlaubnis, Erhabener Vater, diesen Turm erstiegen und herausgeholt, was drinnen verborgen war? Stahl er es? Nein, er holte es im Lichte der Sonne heraus. Ist er also ein Dieb oder nur einer, der einen Auftrag ausführte? Ich frage!« Seltsam war nun, daß auf diese Worte hin sich sogleich ein heftiges Hin und Her an Äußerungen ergab und daß viele vermeinten, Zahirah habe vollkommen recht, andere aber sagten, sie zeige nur die gewohnte Art des weiblichen Widerspruches, genugsam ihnen allen verhaßt und bekannt. Der Padischah sah etwas ratlos aus, und der Vezier trat herzu und begann mit ihm zu flüstern. In all diese Verwirrung hinein erklang, einem Ruf gleich, hell und alles übertönend ein Lachen. Da ward ein Schweigen, und ängstlich suchte ein jeder zu ergründen, was diese neue Unmöglichkeit bedeute. Es war aber nicht schwer festzustellen, denn dort stand er, der Lacher, dieser unübertreifliche Kletterer, den nichts zu schrecken schien. Ali trat näher zum Sitz des Padischah, sagte lachend, dabei sorgfältig vermeidend, zu dem Schleierhaufen hinzublicken: »Die, welche gesprochen hat, ist nicht im Unrecht. All dieses war in der Tat kein Diebstahl, nur eine Schaustellung. Darum, da die Forderung noch nicht erfüllt war, erbitte ich mir eine neue Aufgabe. Befehlt ihr, zu sprechen, Erhabener.«

Der Padischah sah heiter aus, sagte leise zu Ah: »Du verstehst es, mein Sohn, aber bei ihr nützt alles nichts, glaube mir.« Dann wandte er sich rückwärts, sagte laut und streng: »Rede, meine Tochter, du hörtest, was dieser sagte. Wir warten.« Blitzschnell kam die Antwort: »Er bringe mir den Ring des Padischah von Tschin, und ich will glauben, daß er ein Dieb ist, dieser Freche.«



Alt-Tuerkische Maerchen-114 Flip arpa

Sie hörten alle die Worte aus dem kecken Munde, und unter ihnen ging ein Fragen hin und her, was das wohl sei, der Ring des Padischah von Tschin? »Weißt du, was es damit auf sich hat, mein Sohn?«fragte der Herrscher. Ali lachte unbekümmert, sagte heiter: »Ich weiß es nicht, Erhabener, aber ich werde es herausfinden, und wenn ich mit dem Ring zurückkehre, werde ich mir die zu eigen machen, die ihn als erste berührt. Ich gehe ihn zu holen, diesen Ring. Bewahrt mir ein gutes Andenken, Erhabenster.« Wandte sich um und schritt davon. Diener liefen und holten sein Pferd, Ali aber begab sich zu dem Kiösk des Ober-Türhüters, beugte sich vor und sagte leise: »Denkt an mich, Babadjim, solange ich fort bin, denn ich kehre zurück, und laßt von der Gewohnheit, Euer Eigentum lose herumliegen zu lassen.« Damit reichte Ali Nazir ernsthaft die goldene Dose für den Tabak, die schwer war von Edelsteinen. Der Türhüter nahm sie, sagte lachend: »Du Unverbesserlicher, du Lachender, kehre zu uns zurück, wie du gingst, als einer, der die ungute Zeit verscheucht. Allah ismagladih.« Ali schwang sich in den Sattel und ritt davon, heiter und zufrieden, da er seinen Meister gesehen und gefunden hatte.

Im roten Hause des Bekir, das jetzt das seine war, berichtete er von allem Geschehen und kündete seinen Aufbruch nach Tschin für den kommenden Morgen an. Dann begab er sich zum Bazar, um dort Auskunft zu holen über die Reiseart nach Tschin. Das Kismet war ihm freundlich gesinnt, so daß er erfuhr, am Tage nach dem kommenden Tage werde eine Gesellschaft von Kaufleuten nach Tschin aufbrechen, mit denen er reisen könne. So hatte er Zeit, sein Pferd zu pflegen, seine Kleidung auszuwählen und vor allem Abschied zu nehmen von der ihm ergebenen Leila, die durch ihre



Alt-Tuerkische Maerchen-115 Flip arpa

Ruhe und Zuversicht bewies, daß sie wert sei, eines großen Diebes Gefährtin zu heißen.

Im zweiten Morgendämmern zog Ali mit den Kaufleuten davon, froh, daß er die vom Taubenkorb her erworbenen Goldstücke noch nicht zu Edelsteinen für Leila verwandelt hatte, denn sie waren ihm bitter notwendig. Wie lange waren sie unterwegs, wie lange nicht? Kann es einer sagen und beschreiben, der sie nicht geleitete? Waren es vierzig Tage, waren es mehr, waren es weniger? Man zählt nicht, man schaut nur zu. Nur dieses weiß man, daß Ali unterwegs alles über diesen Padischah von Tschin und seinen Ring erfuhr und darum schon gleich nach seiner Ankunft sein Tun bestimmen konnte.

Und so erfuhr er dieses: Der Padischah von Tschin war so alt, wie seit Menschengedenken noch niemand geworden war, und dieses hohe Alter verdankte er einem Ring, den er einstmals einem mächtigen Ifrit geraubt hatte. Doch war er, je älter er wurde, immer kleiner und kleiner geworden, und zu dieser Zeit, in der wir miteinander sprechen, war er einem neugeborenen Kinde gleich an Verstand, Größe und Tun. So hatte man ihm denn eine goldene Wiege anfertigen lassen, und in ihr lag er, verbrachte seine Tage und Nächte und ward so verpflegt und gehalten. Als Ali verwundert fragte, warum denn das Volk von Tschin sich einen solchen Herrscher gefallen lasse, der nichts mehr sei als nur eine goldene Wiege, wurde ihm achselzuckend erwidert: »Warum nicht? So weiß man doch, wie alles zugeht, und die Veziere können einer den anderen beobachten und das Tun der Prüfung unterziehen. Kommt aber ein neuer anstelle des alten Padischah, so weiß keiner, was werden wird. Besser beim Alten bleiben, auch wenn es schon wieder in der Wiege liegt, als das neue Unbekannte hoch zu Roß.«



Alt-Tuerkische Maerchen-116 Flip arpa

Ali dachte zwar nicht so, hörte aber alles widerspruchslos an und ersann sich inzwischen sein Tun. Kaum in Tschin angelangt, brachte er sein Pferd zu einem Stall in Pflege, ließ auch seine bessere Gewandung dort und begab sich als einfacher Diener gekleidet zum Serail, wo er dem Oberaufseher des Marstalls seine Dienste anbot. Da er die Prüfung im Reiten bestand und kraftvoll aussah, wurde er angenommen und befand sich solcherart im Inneren der Serailgebäude.

Er benötigte einige Tage, um genau Bescheid zu wissen, und dann wurde es ihm leicht, nachts durch die weiten Gänge des in Schweigen getauchten Serails dahinzuschleichen, eine Gestalt wie ein Schatten, deren Schritte unhörbar blieben. So gelangte er denn endlich auch bis in die Nähe eines Saales, durch dessen von Vorhängen verhüllte Eingänge Licht schimmerte. Ali schob lautlos die Vorhangfalten beiseite und erblickte nun ein seltsames Bild: Inmitten des weiten Raumes, vom farbig milden Glanze vieler hängender Lampen beleuchtet, stand eine goldene Wiege. Ihr zu beiden Seiten saßen auf niederen Hockern Mädchen, eines auf jeder Seite, die zogen mittels eines breiten Seidenbandes, das unter der Wieg hindurchführte, diese hin und her, sie so in steter Bewegung haltend. Die Mädchen sahen müde aus, was auch nicht verwunderlich schien bei dieser einschläfernden Beschäftigung.

Als dann aber Ali mit seinen scharfen Augen genauer hinblickte, bemerkte er, daß diese Mädchen kauten, doch nicht so wie man etwas zerkaut, das man zu essen gedenkt, vielmehr in der gleichmäßigen Art, wie Kühe bereits gegessene Nahrung nochmals kauen. Mit einem Worte, die Mädchen kauten Mastix, um nicht einzuschlafen. Es weiß ja ein jeder, daß das Harz des Mastixstrauches im Munde zu einer festen, zähen und doch



Alt-Tuerkische Maerchen-117 Flip arpa

weichen Masse wird und daß man es viele Tage lang kauen kann, es aufbewahren und dann wieder kauen. Auch ist hinlänglich bekannt, daß man unmöglich einschlafen kann, wenn man solcherart kaut. Warum nicht? Weil es nicht geht. Entweder man schläft oder man kaut, beides zugleich ist unmöglich. Dieses war es, was Ali überlegte, während er dort stand und die beiden Mädchen an der Wiege betrachtete. Ihm kam der sehr einfache Gedanke, daß, wenn es gelänge, die Mädchen am Kauen zu hindern, sie alsbald einschlafen würden und die Wiege dann unbewacht wäre. Es galt also nur ein Mittel zu finden, den Mädchen ihren Mastix aus dem Munde zu nehmen, das war alles. Noch schätzte der scharfe Blick die Länge und Breite der Wiege ab, und dann begab sich Ali ebenso unbemerkt, wie er gekommen war, zurück zum Marstall und zu seiner Schlafstelle.

Am Tage danach erbat er sich einige freie Stunden und verwandte diese, um im Bazar eine feste Kiste zu bestellen, welche genügen würde zur Aufnahme der Wiege; ferner kaufte er ein Maultier mit einem Packsattel, brachte es zu dem Manne, der sein Pferd in Obhut hatte, und ließ wissen, daß bald eine Kiste anlangen werde, die aufzubewahren sei. Dann galt es noch einen oder zwei Tage zu warten, bis alles genau durchdacht war, und am Abend des dritten Tages war es soweit: ein Knabe wartete mit Aus Pferd, dem Maultier, darauf die Kiste lag und zugleich Aus gesamte Habe, im Vorhof einer kleinen Herberge, daran bei einer schadhaften Mauer die Gärten des Serails grenzten.

In dieser Nacht kam Ali mit leisen Schritten zu einem der schönsten Pferde des Marstalls, das seiner besonderen Pflege anvertraut gewesen war. Unter beruhigenden Worten riß er dem edlen Rappen vier seiner langen Schwanzhaare aus, klopfte dem Tier abschiednehmend



Alt-Tuerkische Maerchen-118 Flip arpa

auf die Kruppe und ging mit den Haaren zum niederen Wassertrog. Mit spitzen angefeuchteten Fingern drehte er je zwei Haare zusammen, so daß sie steif und hart wurden, und schlich mit diesen zarten Geräten wieder zu dem großen Raum, darin die Wiege stand. Mit unendlicher Vorsicht arbeitete er sich vom Vorhang aus nah und näher an die Mädchen heran, und in dem Augenblick, als die eine ihren Mund kauend öffnete, schob er ihr die steif gedrehten Pferdehaare hinein; das Mastix blieb daran kleben, und Ali zog es langsam aus des Mädchens Mund fort. Todmüde klappte dieser Mund zu. Das eine Mädchen schlief sogleich ein. Ali schlich wieder hinter den Vorhang, unternahm dann das gleiche schwierige Werk bei dem zweiten Mädchen und sah auch sie in Schlaf verfallen.

Die Wiege stand. Ein leises Wimmern erklang daraus, und Ali ging näher, betrachtete neugierig das winzige Wesen, das darin lag und einmal ein Mann gewesen war. Er sah sogleich den großen blitzenden Ring an der klauenartigen Hand, murmelte einige leise Worte, um das Wimmern zu beruhigen, hob die Wiege aus ihrem Gestell, nahm sie auf die Schultern und schlich durch die stillen Gänge bis zum Stall, verließ ihn durch die Nebentür, war im Freien. Dort stieß er den verabredeten leisen Pfiff aus, und sogleich wurde der Knabe sichtbar, der das Pferd und das Maultier mit der Kiste herbeiführte. Sie hoben und schoben die Wiege in die Kiste, und jetzt ergab es sich, daß Ali einsah, er könne den Knaben nicht zurücklassen, denn der hätte Verrat, ja Einkerkerung und schmählichen Tod fürchten müssen. So entschloß er sich schnell, den Bettlerknaben mitzunehmen, und wußte diesem die bevorstehende Reise so verlockend darzustellen, daß der heimatlose kleine Osman, der von einigen täglich mühsam verdienten Almosen



Alt-Tuerkische Maerchen-119 Flip arpa

lebte und nichts sein eigen nannte, als was er auf dem Leibe trug, begeistert und freudig zustimmte, diesen freigebigen Fremden zu begleiten. Er setzte sich oben auf die Kiste, erfuhr, es sei ein seltenes gefangenes Tier darin, und verließ freudig, neuen Abenteuern entgegenziehend, die Stadt seines einsamen Hungerns.

Ali kannte den Weg nunmehr und bedurfte keiner Führung, wollte auch sein seltsames Reisegepäck niemanden sehen lassen. Er versorgte selbst das arme wimmernde Etwas in der Kiste mit Speise und Trank und warnte Osman vor dem bösartigen Tiere. So gelangten sie ohne Abenteuer zum Ziele, denn ihre ärmliche Ausstattung bot den Wegelagerern keinen Anreiz. Als Ali die Kuppeln und Minarehs der ihm schon heimatlich erscheinenden Stadt aus dem Morgennebel auftauchen sah, schlug ihm das Herz vor freudiger Erwartung höher, und er tadelte sich sogleich selbst, als er bemerkte, daß sein erster Gedanke Leila und nicht dem Padischah galt. Hatte der Lehrer recht: bedeutete jede Frau eine Schwächung des Ehrgeizes im Beruf? Gleichviel, er würde am Abend bei ihr sein; jetzt galt es als erstes, sich seines Auftrages zu entledigen.

Als er durch das sich gerade öffnende Südtor einritt, seine kostbare Kiste mit Maultier und Osman hinter sich, bemerkte er, daß die Stadt festlich geschmückt war mit Teppichen, die von flachen Dächern herabhingen, und ähnlichem. Der Torwächter belehrte Ali der Thronfolger des Nachbarlandes weile zu Besuch beim Padischah und man hege die Hoffnung, daß eine Heirat mit der Prinzessin Zahirah zustande komme, worauf dann die Grenzüberfälle zu Ende wären, Inschallah. Ali lächelte vor sich hin und dachte bei sich, er habe dabei auch noch etwas mitzureden. Aber er entschloß sich, doch zuerst Leila zu begrüßen, sich festlich herzurichten und dann



Alt-Tuerkische Maerchen-120 Flip arpa

die Kiste feierlich zum Serail bringen zu lassen. So wie sein Herz im Takt des Trabens seines Pferdes immer schneller schlug, denn das wegmüde Tier witterte den Stall und Ali das Willkommen, so langten sie mit der Sonne zugleich beim roten Hause an. Ali glaubte, Osman werde lange klopfen müssen, aber schon vernahm er eine rufende Stimme, die jubelnd rief: »Offne das Tor, der Herr kommt, der Herr!« Und kaum war Zeit, vom Pferde zu gleiten, da hing sie schon, aller Sitte zum Trotz, an seinem Halse. Die Sklavin verschloß schnell den Zugang, und Pferd wie Maultier, mitsamt der Kiste, daraus es wimmerte, standen wartend, wie auch der junge Osman. Der Knabe merkte nun erst richtig, daß die Tage des Entbehrens vorbei waren, denn die Sklavin nahm sich seiner an, und er pries das Kismet voller Dank und Glück, warnte aber die freundliche Sklavin vor dem n Tier in der Kiste, das immer wimmere. eben diesem wimmernden Tier berichtete Ali zu her Zeit, während er das Behagen des Bades genoß, Leila hatte mit Lachen so viel zu tun, besonders als je Sache mit den steifen Pferdehaaren erzählt wurde, es aus diesen und anderen Gründen nahezu Mittag le, ehe Ali sich zum Serail aufmachen konnte. Er hatte sich inzwischen mit dem Inhalt der Kiste beschäftigt, Nahrung und Beruhigung verabreicht, und ein Karren war bestellt worden, um sie fortzubringen. Osman wurde schnell trefflich gekleidet und geleitete die Kiste zu Fuß, während sein bewunderter Herr zu Pferde voranzog. Als Ali sich dem Serail näherte, hätte er schwören mögen, man habe von seinem Kommen gewußt. Der Oberste Türhüter geriet in einen wahren Freudentaumel und verkündete nach allen Seiten hin, er habe ja gewußt, daß Ali noch rechtzeitig kommen werde - und habe er



Alt-Tuerkische Maerchen-121 Flip arpa

nicht recht gehabt? »Wo aber, oh meine Freude, ist der Ring, den du bringen sollst?« Ali fragte dagegen: »Wo befindet sich der Padischah? Und ist Zahirah bei ihm?« Der Türhüter lachte und mit ihm die Diener, die Ali erfreut umstanden. »Wie kannst du fragen? Wie immer hinter seinem Thron! Wie wird sie es treiben, wenn sie erst im Nachbarlande ist?« Ali lächelte, sagte leise: »Noch ist sie nicht dort. Und jetzt, meine Freunde, ich bitte euch, helft diese Kiste hereintragen, denn sie enthält den Ring, den ich bringen sollte.« Ausrufe des Erstaunens und hilfsbereite Hände, die die Kiste hoben und schoben bis zum Eingang des Saales, darin sich der Herrscher aufzuhalten pflegte. »Es wimmert darin . . . was ist's?«fragte beunruhigt einer der Diener. »Oh nichts, nur ein seltenes Tier, das ich auch mitbrachte. Ich bitte euch, ruft einen der höheren Diener, daß er mein Kommen melde, und dann tragt mir das da hinein.«

Die Kiste war jetzt offen, und erschreckt fuhren die Diener zurück, als sie das arme kleine Wesen darin erblickten, das in der kostbaren goldenen Wiege lag. Indessen kam der höhere Diener herbei, begrüßte Ali mit einem heimlichen Lachen, wie sie es alle taten, und ging voran, den Vorhang zu heben. Er schritt vor zum Thronsitz, und sie hörten ihn laut und feierlich sagen: »Erhabener Gebieter, wie befohlen brachte Ali den begehrten Ring. Erlaube, daß er ihn überreiche.« Ali wartete, neben ihm die Diener, die die goldene Wiege hielten; sie hörten den Padischah sagen: »Hörst du es, meine Tochter, er kam zurück und bringt den Ring. Auf ihn ist Verlaß! Was wirst du nun tun, wenn er seinen wohlverdienten Lohn verlangt?« Die erregte Stimme der Zahirah gab Antwort: »Aber wie kann er denn den Ring bringen? Ich weiß doch gar nichts davon, hörte nur in einer Erzählung darüber!« Ernsthaft antwortete der Vater: »Hättest



Alt-Tuerkische Maerchen-122 Flip arpa

du dich eben vorgesehen! Ali macht das Unmögliche möglich. Laßt ihn eintreten.«

Gespannt beugte sich der Padischah vor, als nun Ali sichtbar wurde, schön und kostbar gekleidet wie immer, und hinter ihm die Diener, die schwer zu tragen schienen. Voll Freude und Ehrfurcht verneigte sich Ali sagte ernsthaft: »Erhabener Herr und Meister, ich brachte, wie mir befohlen ward, den Ring des Padischah von Tschin.« Da klang die helle Stimme ärgerlich auf, rief: »Aber es gibt ihn doch gar nicht, diesen Ring! Wie kannst du behaupten, du habest ihn gebracht?« Ali verneigte sich noch höflicher als vorher, sagte noch ernster: »0 du, hinter dem Throne, da ich sicher war, du würdest diese Worte sprechen, wenn ich käme, und bei jedem dir gezeigten Ring erklären, dieser sei nicht der von dir verlangte, so brachte ich den Padischah von Tschin selbst. Tretet zurück, meine Freunde, stellt vorher die Wiege hier vor den Thron, und du, Erhabener, wollest gebieten, daß die Prinzessin komme, sich zu überzeugen, hier sei der Ring. Befiehl, Herr!« Das wurde sehr ernst gesagt, und ebenso auch tat der Padischah wie ihm geheißen. »Komm hervor, meine Tochter, verhülle dich gut und komme, ich befehle es dir!«

Ali schaute gespannt hin auf das, was da kommen würde, wandte sich nicht höflich ab, wie es die dienenden Männer in gebotener Ehrfurcht vor der Frau taten. Er sah der Kommenden entgegen und mußte lächeln über die kleine Zierlichkeit, die, in ihre duftenden Schleier gehüllt, zögernd herbeikam. Sie sah zu Ali auf, sie sah zu der Wiege hin, sie wich zurück, fragte voll Scheu und Schrecken: »Was ist das? Oh, was ist es? Warum wimmert es?« Ali trat zur Wiege, nahm die klauenartige Hand des uralten kleinen Wesens, hielt sie hoch, und der herrliche, der unendlich kostbare Zauberring sprühte bunte



Alt-Tuerkische Maerchen-123 Flip arpa

Lichter. »Es ist der Padischah von Tschin, und dieses ist der von dir verlangte Ring, Herrin. Nimm ihn, ich brachte ihn dir.« Der Herrscher mischte sich ein, beugte sich vor, sah in die Wiege, sagte milde, halb lachend: »Das hättest du aber nicht tun sollen, mein Sohn! Was wird nun werden mit diesem armen Geschöpf Allahs?« Ali hielt die klauenartige Hand noch immer hoch, sagte befehlend, er wußte selbst nicht, wie unwiderstehlich dieser Befehl klang: »Nimm den Ring, Herrin, nimm den Ring!« Zahirah kam näher, flüsterte: »Wie schön er ist! Wie er leuchtet und glänzt!« Und sie griff zu, zog ihn von der armen verdorrten Hand. Ein tiefer Seufzer erklang aus der goldenen Wiege, und im nächsten Augenblicke sahen die, die nahe standen, wie sich eine feine rieselnde Staubwolke auf den Boden der Wiege niedersenkte.

Die Prinzessin hielt den Ring noch einen Augenblick lang, starrte dann in die Wiege, stieß einen Schrei aus und ließ den Ring fallen. Da verdunkelte sich das weitoffene Bogenfenster, durch das man die Baumwipfel der Gärten sich wiegen sah, ein großer dunkler Vogel stieß durch den weiten Bogen herein, stürzte sich auf den Ring, packte ihn mit seinem scharf gebogenen Schnabel, erhob sich flügelschlagend, schwebte zum Bogenfenster hinaus, war verschwunden. Ali sah ihm nach, schaute in die Wiege und ihren Staub, sagte leise: »Ich wurde Werkzeug des Kismet, das diesen Armen befreite. El harnd üllülah. Und du, Prinzessin, die du als erste den Ring berührtest, du mußt mir nun eigen sein. Erhabener Herr, du hörtest die Abmachung, du wirst sie einhalten? Ich vertraue dir!« Zahirah hatte sich gefaßt, stand nun vor Ali war ein zierlicher Schleierhaufen voll Zorn, ballte die kleinen Hände, rief: »Noch nicht, nein, noch nicht! Auch dieses Mal hast du nicht gestohlen, hast nur einen Toten hergebracht



Alt-Tuerkische Maerchen-124 Flip arpa

und einen Ring, der mir genommen wurde. Nein, noch nicht! Ehe du mir nicht vierzig Hasen bringst, die einer hinter dem anderen gehen, in langer Reihe hier hereinkommen, eher glaube ich nicht, daß du zu stehlen vermagst, du Betrüger!«

Ali wurde zum ersten Male bleich vor Zorn. Er schluckte ein- und zweimal, weil er die Ehrfurcht vor dem Herrscher nicht verletzen wollte, und sagte dann tonlos: »Weil du seine Tochter bist, die meines Herrn und Meisters, gehorche ich noch einmal, obgleich du dieses Mal meine Ehre trafst, denn Hasen stehlen ist keines ehrlichen Diebes Tun. Dennoch, ich gehe zu gehorchen, aber ich warne dich! Nicht du wirst Siegerin sein, und ich werde dich mir zu eigen nehmen, mögest du es wollen oder nicht. Erhabener Herr, ich gehe!« Ali wandte sich ab und schritt in Eile und hohem Zorn davon. Er achtete auf nichts und niemand, war draußen, ehe noch jemand das Wort an ihn richten konnte, und rief nicht nach seinem Pferde, nicht nach Osman, ging hastig mit langen Schritten weiter und immer weiter, denn er wollte seinen heftigen Zorn durch die schnelle Bewegung bezwingen. Erstaunt erkannte er dann, daß er bereits bis zum Südtor gelangt war, durch das er erst vor wenigen Stunden einritt, und plötzlich fühlte er sich zum Umfallen müde. Er ließ sich nieder an einer Stelle, wo ein wenig Gras und einige Kräuter wuchsen und blühendes Gebüsch Schatten gewährte für kleines Getier.

Als Ali dort saß und immer noch von Zorn bewegt vor sich hinschaute, da bemerkte er lebhafte Bewegung unter den Kräutern, dem Gras, den kleinen Blüten. Er beugte sich vor, um den Grund der Unruhe zu erkennen, und sah, daß sich zwei Schlangen im Kampf umschlungen hatten, doch was ihn in Erstaunen setzte, war, daß die eine tief dunkel war, die andere leuchtend weiß. Eine



Alt-Tuerkische Maerchen-125 Flip arpa

Weile beobachtete Ali dieses Kämpfen der geschmeidigen Tiere, aber als er bemerkte, wie die schwarze Schlange im Begriff war, die weiße zu ersticken, nahm er einen Stecken, der ihm zur Hand lag, und schob die dunkle Schlange von ihrem Opfer fort, was gar nicht einmal so einfach war, weil sich die dunkle heftig wehrte. Aber es gelang doch, und Ali freute sich, weil ihm die weiße Schlange gefiel und er noch niemals eine solche gesehen hatte. Er betrachtete sie, wie sie sich aufrichtete, und fand sie ganz besonders schön, mußte auch lächeln, als sie sich zu ihm hinneigte und voll Anmut vor- und rückwärts bewegte. »Wolltest du mir danken, schöne Silberschlange, weil ich dir half?« sagte Ali lächelnd und wäre beinahe von dem Stein gefallen, auf dem er saß, als eine feine Stimme ihm Antwort gab.

»Du errätst es, oh mein Retter, ich wollte dir danken«, sagte die Stimme der weißen Schlange, zart wie das Streichen des Windes über Grashalme, »denn du hast dem Reich der weißen Perischlangen, deren Königin ich bin, einen großen Dienst geleistet. Sage nun, kann ich dir auch einen erweisen? Willst du Gold, Edelsteine? Ich weiß von vielen verborgenen Schätzen. Sprich, was begehrst du?« Da durchzuckte es Ali heiß, und er neigte sich zu der zierlichen Schlange herab, sagte leise: »Liebliche Peri-Königin, ich hätte den Wunsch nach vierzig Hasen, die ein Mädchen von mir verlangt hat; kannst du mir die Tiere verschaffen? Sie müßten aber auf meinen Befehl in einer graden Reihe gehen können, der eine hinter dem anderen. Ist dir das möglich?« Die Schlange wiegte sich ein wenig vor Ali hin und her, sagte dann: »Manche Torheit vernahm ich schon aus Menschenmund, aber noch niemals vom Verlangen eines Mädchens nach vierzig Hasen. Dennoch, hier sind sie, blicke hin!«



Alt-Tuerkische Maerchen-126 Flip arpa

Sie wand sich einige Male auf dem Boden, und dann ward sich Ali mit Schrecken bewußt, daß er von allen Seiten von Hasen umgeben war, die in den seltsamsten Stellungen sich bewegten oder saßen. Er zog seine Gewänder eng um sich zusammen, denn das behagte ihm gar nicht, und sagte zu der Schlange, die wieder aufrecht vor ihm saß: »Ich danke dir sehr, oh Peri-Königin, aber du vergißt, daß ich sie bannen können muß, wie mache ich das?« Die feine, kleine Stimme antwortete: »Du mußt nur Tschapp sagen, dann kannst du sie bannen und reglos machen, versuche es!« Ali lachte, hatte allen Zorn vergessen, rief lebhaft in die herumhüpfenden Hasen hinein: »Tschapp!« und lachte dann noch mehr, denn die Stellungen, in denen sie erstarrten, waren unbeschreiblich komisch und absonderlich. Ali faßte sich, fragte die Schlange: »Wie aber kann ich sie wieder beweglich machen, damit sie in einer Reihe mit mir gehen?« »Du sagst dann: >Scheker<, und sie bewegen sich. Sage einmal das, einmal jenes, so gehen sie mit dir. Genügt es dir nun, oder hast du noch Fragen?« Ali überlegte ein wenig, fragte dann lächelnd: »Geht das nur mit Hasen oder auch mit Menschen?« Die Schlange sagte: »Mit allen Wesen, die warmes Blut haben, aber nur du allein hast diese Macht. Und jetzt nehme ich Abschied von dir, du törichtes Menschenwesen. Weil du aber nur solche Torheit verlangt hast und keine Schätze... sieh her!« Und die Schlange beugte tief ihren schmalen Kopf, bis daß er den Boden berührte, da lag vor Aus Füßen ein leuchtend weißer Stein, wie ein Tropfen Sonnenlicht im Grün der Gräser.

»Nimm«, sagte die feine, zarte Stimme der Peri-Königin, »es ist ein Stein, der Glück bringt, wenn Liebe ihn trägt. So in deinem Leben ein Weib ist, gib ihn ihr, er ist Treue und Freude. Dank.« Ali wollte etwas sagen, wollte



Alt-Tuerkische Maerchen-127 Flip arpa

Leilas Namen nennen, da hörte er ein leises Rascheln, und als er sich suchend umsah, war sie verschwunden, die weiße, die liebliche Schlange.

»Hasen!« sagte Ali laut, »welche Torheit! Welche Törin auch diese kleine Zahirah! Aber gleich ist's, ich werde sie ehelichen, und sie wird schweigen lernen, die Laute, die Kecke! Ich aber werde meines Herrn und Meisters Freund sein, und meines Herzens Freude bleibt Leila!« Da niemand außer vierzig erstarrten Hasen es sehen konnte, führte Ali den leuchtenden Schlangenstein an die Lippen, murmelte hauchleise »Leila!« und verwahrte das Juwel im Gürtel. Dann machte er sich an die Arbeit mit den Hasen. Er nahm jeden einzelnen auf, setzte ihn hin, so daß eine Reihe gebildet wurde, sagte dann »Scheker!«, und kaum daß sie sich bewegten und wieder Stellungen einnahmen, die für die Reihenbildung günstig waren, hieß es: »Tschapp!« Dann machte sich Ali innerlich wieder ganz mit seinem geheimen Lachen angefüllt, auf den Rückweg zum Serail, hinter sich die vierzig Hasen, die er mit Tschapp und Scheker des Weges führte.

Wer immer den seltsamen Zug sah, blieb stehen und lachte. Ali aber sah sich erstaunt um, denn als er das Serail vor wenigen Stunden so zornig verlassen hatte, waren die Straßen so festlich noch nicht geschmückt gewesen, wenn auch einige Teppiche von den Dächern hingen. Ali fragte ein altes Weib, das des Weges kam und sich mit zahnlosem Lachen an den Hasen erfreute, was diese plötzliche Festlichkeit zu bedeuten habe? Sie gab erstaunt zur Antwort, er müsse wohl von weither kommen, Gaukler mit Tieren, der er offensichtlich sei, daß er nicht wisse, es finde heute die Hochzeit der Prinzessin Zahirah mit dem Sohne des Nachbarfürsten statt. Ali seinerseits, ebenso verblüfft wie aufs neue geärgert, fragte die Alte, wieso denn heute am Dienstag eine



Alt-Tuerkische Maerchen-128 Flip arpa

Hochzeit stattfinde, wo doch üblicherweise der Freitag für solche Feiern gewählt werde. Wieder verzog die Alte ihren zahnlosen Mund zum Hohnlachen, sagte schrill: »Dienstag? Was redest du, Gaukler? Weißt du nicht einmal, daß heute unser geheiligter Tag, der Freitag, ist?«

Noch hatte Ali nicht erkannt, daß die Zeit sich wandelt für den, der mit den Geistern Gemeinschaft hat, seien es Ifrit, Peri oder Djin, und wußte nicht, daß, was er für wenige Stunden gehalten hatte, als er das Spiel mit den Schlangen trieb, Tage gewesen waren. Aber er ärgerte sich über die Alte und ihren verächtlichen Hohn, und so gebrauchte er seine neu erworbene Macht und sagte mitten in ihr schaudererregendes Lachen hinein: »Tschapp!« Da stand sie reglos, mit aufgesperrtem, leerem Munde und konnte grade noch die Augen bewegen; die rollte sie auch erschreckt zu ihm hin, er aber lachte und ging seiner Wege. Köstlich war das, ein wirklich wundervoller Spaß! Und mehrmals noch erprobte er seine Kunst an denen, die ihn und seine Hasen verlachten, hinterließ so eine Spur erstarrter Wesen, die überall, wo sie standen, einen Menschenauflauf veranlaßten. Heimlich nahm sich Ali vor, zur Abendstunde des gleichen Weges zu gehen, um seine Opfer zu enttschappen, aber für jetzt freute es ihn, seinem Arger auf diese Art Ausdruck gegeben zu haben.

Und nun kam er zum Serail, seine vierzig Hasen sauber ausgerichtet hinter ihm. Kaum näherte er sich dem Kiösk des Obertürhüters, als auch schon ein Freudenruf daraus erscholl. »Sagte ich es nicht, daß Ali wiederkommt? Wußte ich es nicht voraus, daß er immer wiederkehrt? Und was wird nun, Ali mein Sohn, da du wieder hier bist? Und alle die Hasen! Oh seht nur, er kam mit den Hasen, wie sie es verlangte, seht nur!« Die Diener sammelten



Alt-Tuerkische Maerchen-129 Flip arpa

sich lachend um ihren Freund Ali der aber brachte nicht einmal ein Lächeln zustande, sagte ernst und leise: »Laßt es sein, meine Freunde; ich will jetzt nur, daß man laut in den Gängen ruft: >Ah und die Hasen sind gekommen, Ali und die Hasen.< Bitte, tut es für mich - und, was ich fragen wollte: ist es so, daß die Hochzeit heute gefeiert wird? Ja? Dann ist also Zahirah im Frauengemach?« Auf diese Frage hin ergoß sich eine Flut von Mitteilungen über Ali und alle besagten, daß es wahrhaft eine Schande sei, aber sie sitze immer noch hinter dem Throne und schlage auch weiterhin aller Sitte und Würde in das Gesicht. »Gut so, das wollte ich nur wissen. Geht nun und ruft, wie ich euch zu tun bat. Kommt, meine Hasen, kommt! Tschapp... scheker. tschapp . . scheker! Ja, so ist es recht.«

Von staunenden Blicken geleitet, folgte die lange Reihe der Hasen dem voranschreitenden Ali Bevor sie zum Saale kamen, hörte Ali schon von weitem das Rufen und das fragende Antworten, und als er die Falten des schweren Vorhangs hob, vernahm er die Stimme des Padischah, die lachend sagte: »Nun hast du es, meine Tochter! Da ist er, und er bringt die Hasen!« Und die Antwort, ängstlich und leise: »Aber es ist doch unmöglich!« — »Weißt du nicht, daß ich dir vor Tagen sagte, Ali sei nichts unmöglich? Auf dein Haupt komme es, Törichte!« Unter diesen Worten trat Ali ein, hielt den Vorhang hoch, bis alle Hasen nach ihm eingetreten waren, und während sie an ihm vorbei sich weiterbewegten, klang immer wieder sein halblautes Tschapp... scheker... tschapp... scheker. So kamen sie herbei, und der Padischah lachte, daß es ihn schüttelte. »Wie befohlen brachte ich die vierzig Hasen, in einer Reihe nach mir gehend, Erhabener Herr. Und ich komme nun, mir meinen Lohn zu holen, auch bin ich nicht gesonnen, eine



Alt-Tuerkische Maerchen-130 Flip arpa

weitere Probe meines Könnens abzulegen. Was sagt dazu mein Herr und Meister?«

Der Padischah beugte sich vor, sprach nun ganz ernsthaft und sehr eindringlich. »Du bist im Recht, mein Sohn Ali und ich hätte dir nichts zu verweigern. Da du mich aber deinen Herrn und Meister nennst, so spreche ich eine Bitte aus. Es ist diese: Seit Jahren haben wir an der Grenze zum Nachbarlande Streitigkeiten, und unser Warenaustausch leidet sehr darunter. Nun gäbe sich durch die Heirat meiner Tochter mit dem Sohne des Sultans die Möglichkeit der Beruhigung und für mein Land viel Gewinn. Willst du, mein Sohn, um einiger törichter Frauenworte willen mir dieses alles zerstören? Willst du mir nicht wohl, sage?« Ali verneigte sich tief, legte die Hände gekreuzt an die Schultern, sagte leise: »Ich bin dir zu Diensten, Herr« und wartete, was geschehen würde. Was er voraussah, trat auch ein. Der Padischah stand auf, küßte Ali auf beide Wangen, rief freudig aus: »Ich danke dir, mein Sohn Ali und ich bitte dich, wähle, welches Amt immer dir an meinem Hofe behagt, denn ich will dich in meiner Nähe behalten, der du mir das Lachen immer wieder schenkst, jetzt sogar vierzig Mal!«, und er wies auf die regungslos in einer Reihe stehenden Hasen. Wieder hatte Ali blitzschnell zu überlegen, denn sein Plan war bereits fertig und harrte nur noch der Ausführung. »Herr, wenn du mir gnädig sein willst, so lasse mich Oberster deiner Palastwache sein.«

Der Padischah rief sogleich nach draußen, man solle ihm den Vezier schicken, und alles ging dann sehr schnell. Feierlich wurde Aus neues Amt verkündet und ihm erklärt, er könne nun unbeschränkt im Serail befehlen. Er weigerte sich, die prächtige Kleidung anzulegen, die seinem Amte zugehörte, verließ den Padischah mit tiefer Verneigung. Dann gab er Anweisung, ihm einen Raum



Alt-Tuerkische Maerchen-131 Flip arpa

zu zeigen, wo er seine Hasen unterbringen könne, und verlangte, der begehrte Raum solle unmittelbar über der Brautkammer gelegen sein. Keiner der Diener des Serail staunte mehr über irgend etwas, was Ali tat, und so auch nicht über diese Forderung oder den folgenden Befehl des neuen Würdenträgers. »Kommt zu zweit her und macht mir ein Loch hier in den Boden. Es soll ein Trinkloch werden für meine Hasen. Nicht so, daß man es von unten sieht, aber gut tief. Sorgt, daß es nicht überall bekannt wird, meine Freunde, und laßt meine Hasen zufrieden. Ich kehre zum Abend hierher zurück, indessen laßt Futter für meine vierzig Tiere holen und einen Krug Wasser herstellen. Gehabt euch wohl.«

Auf keine Fragen gab er mehr Antwort, winkte seinem besonderen Freunde, dem Obertürhüter, nur zu und ging den Weg der Sehnsucht, zu Leila. Er fand diese Gefährtin seiner verschlungenen Wege nicht erregt, nicht voll Sorgen, nur voll Begierde zu erfahren, was sich weiter begeben habe, und konnte mit ihr lachen, so daß vom Arger nichts mehr blieb. »Du wirst einige Tage auf mich warten müssen, Leila, meine Schöne, aber dann werde ich dich immer in meiner Nähe haben. Wenn es so kommt, wie ich es haben will, dann werde ich im Serail leben. Kommst du zu mir, Leila? Oder wird es dir wie ein Gefängnis erscheinen, dort mit vielen Dienerinnen im Harem eingeschlossen zu sein?« Sie lehnte sich an ihn, sie sagte halblaut: »Ah, mein Gebieter und mein Freund, wäre es nicht auch für dich eine Befreiung, so ich hier deiner harrte und du als ein Freier zu mir kommen könntest? Gib mir, wenn du höher steigst, so du es willst, mehr Diener, lasse den Grund erweitern, oder was du sonst planst - aber lasse dir den Platz nicht rauben, an dem du frei bist und wo ein Freund deiner wartet, dir ganz ergeben und vertraut.«



Alt-Tuerkische Maerchen-132 Flip arpa

Aus schnelle Zunge, Aus leichter Witz, sie waren verstummt. Er saß und sah schweigend diese Frau an, die ihm etwas bot, was mancher Mann, möge er so viele Frauen oder Lieben haben wie er wolle, sein Lebelang ersehnt: den Freund, bei dem er frei sein kann und dessen Seele in einem schönen Frauenleibe wohnt. Tief bewegt legte er die Stirn in ihre Hände, murmelte: »Es sei, wie du gesagt hast. Mein Vertrauen ist dein, meine Freude und Freiheit auch. Alles andere ist des Diebes lachendes Spiel, die Wahrheit aber bist du, meine Seele.« Leise ließ er den Edelstein der Perikönigin in Leilas Hände gleiten. Und so hatte Ali der große Dieb, in aller Wirrnis seines Lebens die Zuflucht, die des Mannes wahre Stärke ist, die, bei der sein Lachen verstanden wird.

Gegen Abend dann kehrte Ali in das Serail zurück, befreite unterwegs die getschappten Leute und brachte heimlich einen starken Hammer und einen Meißel mit, die er mit in den Raum nahm, der genau über dem Brautgemach lag. Er erklärte, er wolle nicht mehr gestört werden, sei er doch ermüdet und wünsche inmitten seiner Hasen zu ruhen. Die Diener mußten jetzt dem hohen Würdenträger gegenüber ernst bleiben, aber heimlich lachten sie doch miteinander und waren voll Erwartung, was nun mit Ali und seinen Hasen weiter geschehen würde. Er selbst aber hatte zu tun, denn das Loch im Fußboden, dieses angebliche Hasentrinkloch, mußte solcherart erweitert werden, daß es einen Blick in den unteren Raum gestattete, wenn auch noch so gering und fein. Es mußte sehr leise und sorgfältig gearbeitet werden, damit nicht etwaige Spuren im darunter gelegenen Prunkgemach das Geschehen verrieten. Ali wußte, daß ihm noch Zeit verblieb, denn erst nach dem Azan wurde die Braut in das Gemach geleitet, das bis dahin niemand betrat. Rechtzeitig hatte er die Arbeit



Alt-Tuerkische Maerchen-133 Flip arpa

vollendet und wartete nun auf das Weitere, am Boden liegend und das Auge an die schmale Öffnung gepreßt. Jetzt kamen sie. Jetzt setzten die Dienerinnen die Braut auf das prächtige Bett, warfen einen leichten Schleier über sie, den der Bräutigam zu entfernen haben würde, zogen sich zurück und begannen beim Kommen des Neuvermählten ihre gurgelnden Freudentöne auszustoßen. Ali sah sich den Jüngling prüfend an, fand ihn weder schön noch häßlich aussehend, so wie eben viele, und wartete, bis die Frauen hinter ihm die Vorhänge geschlossen hatten und er sich zu dem Brautlager hinbegab, auf dem das verschleierte Spitzenhäufchen hockte. Jetzt stand der Bräutigam davor, breitete die Arme aus, neigte sich ein weniges und sagte halblaut: »Oh meine Ersehnte, deren Antlitz ich nun begnadet genug sein werde zu erblicken, zeige dich mir . . « Die Braut hob, wie es üblich ist, ein wenig den Schleier, der Bräutigam beugte sich noch ein weniges vor, und in diesem Augenblick sagte Ali von oben her laut und deutlich: »Tschapp!« Noch eine kleine Weile betrachtete er das so geschaffene Bild, lachte vor sich hin und schlief dann tief und friedlich ein.

Er wußte, daß erneutes Freudenrufen der Frauen ihn am Morgen wecken würde, wenn sie das Brautgemach betraten, um dem jungen Ehemann im Brautbecher den wohlverdienten Stärkungstrank zu bringen. Bis dahin war viel Zeit, und zwischen den Hasen ruhte es sich wie im Freien. Schweigen senkte sich auf das Serail bis zum Morgan-Azan. Dann war es damit vorbei. Dann erwachte zuerst Ali von den erwarteten gurgelnden Freudenschreien, setzte sich auf, sah auf die schlafenden Hasen, die er auch vorsorglich getschappt hatte, und spähte durch sein Bodenloch hinab. Da standen und saßen die zwei, reglos wie am Abend vorher, ein köstliches



Alt-Tuerkische Maerchen-134 Flip arpa

Bild für Ali Und nun zerriß ein schriller Schrei den Frieden, denn die älteste Dienerin war mit dem Brautbecher eingetreten, hatte ihn aber sogleich wieder fallen lassen und rannte schreiend davon. Ali schaute und wartete, fand das Schauspiel sehr unterhaltend. Mehr Dienerinnen füllten den Raum, kamen näher, betasteten den reglosen Bräutigam, begannen sich ihrerseits gut und heiter zu unterhalten.

Dann wurde es stiller, denn es war nach einem Hekim geschickt worden, einem Heilkünstier von hohen Graden. Der sah sich die zwei Reglosen an, schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern, ging. Es kam nun ein Imam, sah die zwei an, begann einige Worte aus dem Koran zu sprechen, schüttelte den Kopf, zuckte die Schultern, ging. Jetzt aber kam der, auf den Ali schon die ganze Zeit wartete, der Padischah. Er stand und sah die zwei an, ging um den Bräutigam herum, wie man ein seltenes Kunstwerk von allen Seiten betrachtet, verbarg sein Lachen hinter der Hand und sagte: »Das kann nur Ali sein! Dieses tat Ali Man hole den Obersten der Palastwache.« Ali stand auf, richtete seine Kleidung, sagte leise lachend: »Du kluger Herr und Meister!« und wartete auf das Kommen der Diener.

Tiefernst verneigte er sich dann im Brautgemach vor dem Padischah, der sogleich alle neugierigen Dienerinnen fortschickte und ruhig fragte: »Ist das dein Werk, Ah?« »Es ist es, Herr«, sagte Ali Beide sahen sich an, und in beider Augen stand das Lachen. Ali sah zu Boden fragte leise: »Gefällt dir das Bild, mein Herr und Meister?« Der Padischah antwortete nicht. Möglich, daß er es nicht vermochte, denn es ist schwer, zugleich zu sprechen und zu lachen. »Kannst du etwas dafür tun?« »Du meinst dagegen, Herr? Ich kann es. Doch ehe ich es tue, wollen wir uns verständigen, Herr. Wenn ich diese befreie, so wird



Alt-Tuerkische Maerchen-135 Flip arpa

es gut sein, den Jüngling zu befragen, ob er weiterhin die Ehe führen - oder sagen wir, schließen will. Wenn nicht, so muß doch die Ehe deiner Tochter, Herr, deren Brautgemach ein Fremder, ich, betrat, wiederhergestellt werden. Ist es nicht so?« Der Padischah nickte nur. Ali fuhr fort: »Wenn dem so ist, wird es gut sein, wenn der Imam, der vorhin hier war, wieder gerufen wird. Dann erst vermag ich etwas zu tun.«

Der Padischah ging nahe zu Ali packte ihn am Kragen des Gewandes, schüttelte ihn ein wenig. »Oh, du Betrüger, Dieb, Zauberer, du, der das Lachen brachte.. was tue ich mit dir, du Elender?« Ali neigte seine Stirn auf die Schulter des Padischah, murmelte leise: »Herr?« »Man hole den Imam!« rief laut der Padischah, streifte die Wange Aus mit der Hand: »Du hast rauhe Haut, mein Sohn, gehe dann ins Bad, wenn dieses hier erledigt ist.« Eine Handbewegung wies auf das unveränderte Bild. Da kam schon der Imam. »Ehrwürdiger«, sagte der Herrscher, »wir wollen versuchen, dieses, was du vor dir siehst, zu wandeln, und du mußt Zeuge sein für Lösung und Bindung. Ali beginne.« Ob der Padischah nun große Zauberkünste erwartete, ist ungewiß, aber seine Verblüffung war groß, als nur ein leise gesprochenes Wort den Bann löste.

Der Bräutigam ließ die Arme sinken und richtete sich auf. Er rührte sich schaukelnd und streckend, um steif gewordene Glieder wieder beweglich zu machen. Dann warf er einen haßerfüllten Blick auf das Häufchen Spitzen, das wimmernd zurücksank, sah wütend um sich und schrie zum Bett hingewandt: »Dein Antlitz ist mir wie dein Rücken! Und niemals mehr will ich in diesem Lande weilen... Eure Grenzen werden das büßen!« Er stürzte hinaus und ward nicht mehr gesehen. Er hatte die uralte Scheidungsformel ausgesprochen, und es gab



Alt-Tuerkische Maerchen-136 Flip arpa

keine Ehe mehr. Der Padischah wandte sich an den Imam, bat höflich: »Wolle, ich bitte dich, Ehrwürdiger, die Ehe schließen zwischen dieser meiner Tochter Zahirah und dem Obersten der Palastwache, Ali Wir warten.« Der Imam beeilte sich, die vorgeschriebenen Worte zu sprechen, Ali gab die Antworten, vom Bett her erklang weiterhin nur das Klagen. Die Ehe war geschlossen. »Begrüße als erster, Ehrwürdiger, meinen Sohn Ali der von jetzt ab mein Heer befehligt.« Der Imam verneigte sich schweigend und verließ voll Erstaunen den Raum.

Der Padischah sagte lachend: »Jetzt also, mein Sohn, hast du, was du wolltest, ein Weib, das immer redet, redet, und immer recht hat. Warum hast du dir dein Leben so verderben wollen, dein schönes, dein freies? Ich verstehe dich nicht.« Er wandte sich zum Bett hin, berührte seine Tochter an der Schulter, sagte freundlich: »Zahirah, mein Kind, dieser hier, Ali ist nun dein Gemahl, gehorsame ihm, wie es sich gebührt.« Zahirah richtete sich auf, sah zornentbrannt Ali an und begann mit aller Kraft ihrer hellen Stimme zu schelten, zu schimpfen, zu schmähen. Ali stand still da, hatte die Arme untergeschlagen, sah in das erregte Gesicht, sagte plötzlich mitten in das Gerede hinein freundlich beruhigend: »Tschapp, tschapp!« Das erregte schrille Geschrei verstummte sofort, reglos saß das kleine zierliche Wesen da. Laut lachte der Padischah, schlug sich auf die Schenkel, konnte sich kaum fassen. »Maschallah, mein Sohn, Ali Yah Maschahlah! So kannst du es wagen, so wirst du es zwingen! Und jetzt bin ich auch wegen der Grenze beruhigt, denn wisse, ich machte dich nur zum Obersten des Heeres, um dich zu strafen und dir die Grenzkämpfe zu überlassen. Aber sage, kannst du so auch das Heer bannen?« Ali mußte lachen, meinte, das sei wohl möglich



Alt-Tuerkische Maerchen-137 Flip arpa

und er müsse erst noch Versuche anstellen. »Welch ein Leben wird das werden, nun du bei mir bist, mein Sohn, und dieses Kind zum Schweigen bringen kannst! Eine Weile sehe ich noch zu, dann mußt du mich ersetzen und mit deinem Zauberwort alles leiten. Es gehorcht nur dir, ist es so?« Ali nickte, ging zum Bett, beugte sich nieder, sagte leise: »Höre mich an, Zahirah: ich wecke dich jetzt, wenn du aber wieder schiltst, wirst du wieder gebannt. Gib acht. . . Scheker!« Nun aber darf nicht vergessen werden, daß Scheker Zucker heißt, und Zahirah glaubte, er rede sie kosend so an, bewegte sich, begann zu schelten, wurde sogleich wieder getschappt. Ali verließ sie, der Padischah mit ihm, sie begaben sich beide zum Bade, und des Lachens zwischen ihnen war kein Ende. — —

Mehr und mehr wandelte sich von da alles. Im Serail zuerst, dann in der Stadt und endlich im Lande. Da waren nicht zu vergessen die Bazarfreunde aus den ersten Tagen, die nicht genug des Lobes zu sagen wußten über den Dieb, der den Dieb gestohlen hatte und der nun bald Herrscher sein würde. Da waren aber auch die Diener des Serail, die zwar ehrfurchtsvoll blieben und doch heiter sein konnten. Und unter ihnen allen hoffte Ali nun bald seinen Lehrer zu haben, der ihm Vezier werden sollte. So zog er nach seinem Heimatort aus, ihn zu holen. Auf dem Wege wurden er und seine Begleiter von Wegelagerern überfallen, die sehr wild taten. Die Begleiter wollten sie mit Waffengewalt vertreiben, doch Ali beugte sich vom Pferd und rief in ihren erregten Haufen hinein: »Tschapp!« Da standen sie reglos, wie sie grade eben waren. Seinen Leuten befahl Ah: »Nehmt sie vorsichtig, denn sie sind jetzt wie Holzstücke, stellt sie an der Straße entlang auf: sie mögen zur Warnung dienen.«



Alt-Tuerkische Maerchen-138 Flip arpa

So geschah es, und während Ali weiterzog zu seinem Heimatorte hin, überdachte er mit hoher Freude, daß es von nun sinnlos sein würde, Kriege zu führen. Denn wozu? Eine laute und starke Tschappung genügte vollkommen, und er war schon jetzt davon überzeugt, daß das Nachbarland diese hier sichtbar gewordene Lehre verstehen würde. In diese Gedanken war er so versunken, daß er fast erschrak, als ein Unterführer zu ihm heranritt, halblaut sagte: »Herr, vergib, aber von unsren Leuten sind auch welche bei den Reglosen. Sollen sie so bleiben?« Ali lachte auf, ritt zurück, sagte zu jedem einzelnen seiner Leute »Scheker« und entschuldigte sich vielmals bei ihnen.

So kam es, daß dieser Haufen Bewaffneter, der die Gefolgschaft eines großen Herrn war, in Aus Heimatdorf voll Heiterkeit einzog und die Einwohner, die schon gebangt hatten, es seien wieder die gefürchteten Steuereinnehmer, nicht recht wußten, was sie davon halten sollten. Der dortige Meisterdieb aber, Aus Lehrer, der das so selten zu hörende Lachen vernahm, kam eilig vor sein Haus, murmelte vor sich hin: »Ah?« Denn wer anders als er konnte es sein, wenn Lachen zu vernehmen war? Da hielt der ganze Zug schon vor ihm, und Ali der prächtige Befehlshaber, glitt vom Pferde, war bei ihm, umschlang ihn und legte die Stirn auf seine Schulter: »Chyrssys Baschi Effendim, mein verehrter Lehrer, ich komme, dich zu holen. Du mußt mit mir kommen, mußt mein Vezier werden, und wir werden zusammen lachen können, denn endlich einmal wird ein Vezieriat in den Händen des richtigen Mannes liegen!«

Nun, es versteht sich, daß über diese Fragen noch viel zu sagen war. Wozu auch die Eile? Zeit ist nichts, wenn sie nicht durch Verflechtungen mit Wünschen zu einer Macht wird. So blieb Ali eine Weile dort, entschlossen, nicht



Alt-Tuerkische Maerchen-139 Flip arpa

ohne den Lehrer zu seiner Hauptstadt zurückzukehren: »Verstehst du, mein Lehrer, der Padischah, der mein Vater wurde, will auch ein wenig Freiheit genießen, er, der so lange ein Sklave seines Reiches und auch seiner Tochter war. Da ich ihm nun eine Last abnahm und ihm die andere abnehmen werde, ist er ungeduldig. Du komme mit mir zurück, denn ich versprach, erst dann das Land zu beherrschen, wenn ich meinen Vezier hätte. Mit dir und dem >Tschapp<werden wir Frieden haben und Ruhe. Gefängnisse wird es nicht mehr geben, Galgen wird keiner kennen, denn ich werde die Übeltäter tschappen für länger oder kürzer, und das wird genügen. Ist nicht der Ausblick auf das Kommende des

Lachens wert, mein Lehrer?«

Doch der Meisterdieb blieb ganz ernst, sagte gedankenvoll: »Zwei Dinge gibt es, die mir zu denken geben.« Besorgt fragte Ah: »Und welche sind es? Kann ich nichts dazu tun?« Halb ernst, halb lachend sagte der Lehrer: »Mein Sohn Ali das eine kann gewandelt werden: du mußt eine Gilde schaffen, die der Abstauber. Verstehst du, diese Getschappten können nicht im Lande herumstehen, ohne gesäubert und von der Plage der Kleintiere befreit zu werden. Denkst du nicht auch so?« »Aman«, sagte Ali »du hast mir Angst gemacht, du sahst so ernsthaft aus, wie zu der Zeit, als ich noch dein Schüler war und ich mich ungeschickt zeigte. Gut also, die Gilde der Abstauber wird gleich nach meiner Rückkehr gegründet. Das andere aber, was ist's?« Ganz traurig sah der Lehrer aus, sagte leise: »Der Ekmek-Kadaïf.« Verständnislos starrte Ali ihn an. »Der Kadaïf? Aber von ihm kannst du doch so viel haben, wie du nur willst!« Doch der Lehrer schüttelte betrübt den Kopf. »Du verstehst das nicht mit dem Kadaïf, hast es niemals verstanden. Er schmeckte mir nur so gut, war mir nur deshalb begehrenswert, weil



Alt-Tuerkische Maerchen-140 Flip arpa

ich ihn gestohlen habe! Was ist mir der Kadaïf, wenn ich ihn leicht in beliebiger Menge haben kann? Oh mein Sohn Ali wieviel raubst du mir damit, daß du mir die Köstlichkeit gestohlenen Genusses nimmst!«

Das also war die große Trauer, die der Meisterdieb in seinem Herzen mitnahm auf dem Wege zur Hauptstadt. Im Herzen Aus aber lebte auch eine Trauer, die einzige seines frohen Lebens: die um seine Mutter. Er hatte es nicht über sich gebracht, sie aufzusuchen, wollte ihr den Anblick des Sohnes eines krummen Djin nicht aufzwingen und hinterließ ihr nur das weniger Kostbare, die regelmäßige Zuweisung einer Geldsumme.

Je näher er aber der Hauptstadt und damit dem kleinen roten Hause kam, desto leichter wurde ihm das Herz, und vor dem Tore trennte er sich von seiner Begleitung, übergab den Lehrer der Obhut des Unterführers und sprengte eilends davon. Am roten Hause angelangt, klopfte er im bekannten Abstand der Töne, wie er es das erste Mal getan hatte, hörte allsogleich Rufen, Unruhe, eilende Schritte, und dann wurde die Tür aufgerissen, Schleier umwehten ihn, eine Hand zog ihn herein, und eine Stimme flüsterte atemlos jene Dinge, die nicht der Mund, nein, das Herz spricht und die nur das andere Herz versteht. Gesegnet sind die, die solche Zwiesprache kennen, doch sind sie so selten wie Schnee auf unsren Rosen.

Zeit verging, und es erwies sich, daß die Entfernung vom Serail zum kleinen roten Hause doch zu groß war; das ward ersichtlich, als Leila ihr erstes Kind Ali entgegenhielt, auf daß er sage, wem es gleiche. Wissen Väter so etwas? Niemals. Mütter aber, sie wissen vieles. Und diese wußte auch, daß Ali recht habe, als er sagte, wieviel Raum ungenutzt im Serail sei, besonders dann, wenn der kleine Sohn laufen lerne. »Bedenke doch, die



Alt-Tuerkische Maerchen-141 Flip arpa

vielen weiten Gänge.« Ja, diese weiten Gänge im Serail, durch die einstmals die Angst geschlichen war, die Gier nach Macht, das Begehren nach Geld - wie waren sie gewandelt! Still waren sie zwar geblieben, als Zahirah noch im Serail herrschte, sie, die keinem Kinde das Leben gab und sich fürchtete vor den Hasen, die urplötzlich aus irgendeinem Winkel hervorschossen. Und wie unheimlich war ihr der Mann, der sie immer wieder zum Schweigen verurteilte mit dem gräßlichen Wort! So wurde sie müde, träge und dick. »Ich verstehe dich nicht, oh Zahirah, wolltest du nicht selbst die Hasen haben?« sagte oftmals ihr Gemahl, und wieder hatte er das verhaßte Lächeln im Gesicht. Oh, schöne Zeit, da sie hinter dem Throne saß, wie weit lag das zurück! Und warum sie alle so viel lachten hier im Serail? Früher gab es doch auch nichts zum Lachen, woher denn jetzt? So dachte Zahirah erbittert, wollte nichts hören, nichts wissen, nichts tun, versank mehr und mehr in das Nichts ihres armen sinnlosen Seins.

Leila aber wurde Aus zweite Gemahlin, wie es das Recht gestattet, und herrschte reich an lachender Liebe über die Kinder, die das Serail leben machten. Wenn sie durch die weiten Gänge liefen, ihrem Vater entgegen, sobald sie die Rufe der Wache bei seiner Rückkehr vernommen hatten, so warfen sie sich in seine Arme mit dem vielstimmigen Ruf: »Chryssyslyk, Pederimis«, was bedeutet: Stehlerei, o unser Vater! und dann wurde ihnen von den immer noch geschickten Fingern des großen Diebes Ali allerlei vorgespielt, besonders aber das, was Nazir den Türhüter immer so erheitert hatte, dieses Abpflücken versteckter Dinge von der Gewandung, als ob es trockene Blätter wären. Die Freundschaft Nazirs hatte sich auch auf die Kinder der Leila und des Ali übertragen, und sie hielten sich häufiger bei ihm in dem kleinen Kiösk auf, als ihnen



Alt-Tuerkische Maerchen-142 Flip arpa

eigentlich gestattet war. Nazir klärte sie dann besonders gerne auf über die Bedeutung des Schildzeichens, das sich ihr Vater hatte fertigen lassen. »Seht ihr«, sagte er dann, stolz über sein Wissen, »das ist ein Hase, wie wir deren so viele hier im Serail und den Gärten haben, aber dieser hier ist einer der ersten vierzig; und das hier ist die weiße Schlange, die Perikönigin, die der Herrin Leila den großen Edelstein sandte, den sie am Finger trägt. Und die Schlange spielt mit dem Hasen, seht ihr, wie sie sich um ihn geringelt hat? Gold und Grün, so sind die Farben unsres Herrn Ali der uns das Lachen brachte!« So sprach Nazir Agha, und ähnlich sprachen viele.

Sollte man nun vielleicht denken, daß diese lachende Verehrung des Stehlens im ganzen Lande die Diebe großgezogen hätte, so täuscht man sich. Ali der sich niemals anders nannte als den Chyrssys Baschi, hatte ja in Wahrheit nichts gestohlen als den toten Dieb und einige Goldstücke der Lockung, damals von dem Ausrufer. Was er wirklich stahl, das war der saure Ernst, das war die harte Eigenliebe, das waren Betrug und Hinterlist. Und mit seiner einzigen Strafe des Tschappens stahl er auch dem Richteramte die Härte. Lohnte es in all dieser freien Heiterkeit sich mit Stehlerei zu belasten, die dann nur das lästige Getschapptsein einbrachte? Djanoum, besser man geht daran vorbei, wie es der lachende Ali tat. Nein, zu jener Zeit in jenem Lande machte sich das Stehlen nicht bezahlt, so es um des Gewinnes willen betrieben wurde, allein nur der Erheiterung konnte es noch dienen, und ihr zuliebe wurde manchmal von der Gewandung trockenes Laub gepflückt.

So lachten sie alle mit, die unter der Sonne unseres Landes ihrer Tage froh wurden. Alle? Nein, nicht alle. Denn die einzigen, die mit Ali nicht zufrieden waren, das waren die Ehemänner, die zungenfertige Weiber besaßen.



Alt-Tuerkische Maerchen-143 Flip arpa

Immer wieder schickten sie Botschafter zu Ali er möge doch auf seinen Reisen, die dem Enttschappen derjenigen dienten, deren Strafe abgelaufen war, zu ihnen kommen und ihre Weiber zum Schweigen bringen mit seinem Zauberwort. Doch er tat es nicht, niemals. Nicht ein einziges Mal tat er es! Den Abgesandten pflegte er zu bedeuten, soviel müsse doch ein Mann zu allermindest verstehen, seine Frau auch ohne Zaubermittel zum Schweigen zu bringen.

Hatte er recht, oder hatte er nur gut lachen, der Chyrssys Baschi Ah? Noch heute haben ihm die Ehemänner nicht vergeben, daß er ihnen kein »Tschapp« zurückließ, um ihre Leiden zu lindern!


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt