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Kapitel 

AN NACHTFEUERN DER KARAWAN-SERAIL


MÄRCHEN UND GESCHICHTEN ALTTÜRKISCHER NOMADEN


erzählt von

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER

Erste Folge

CHRISTIAN WEGNER VERLAG HAMBURG



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BUCHAUSSTATTUNG: HANS HERMANN HAGEDORN


ALLAH ßelamet werßin.. . ALLAH emanet...

Diese Worte des Heiles und des grüßenden Verabschiedens sind es, die der Märchenerzähler jeder seiner Geschichten voransendet, sie damit zugleich aus seinem Innern entlassend. Denn das Land, aus dem diese Märchen und Erzählungen stammen, ist eines, das nichts tut ohne Allah, eines, das sich ihm in allem tief verbunden fühlt, so auch in dem, was Geist und Gedanke, gegeben von ihm, zu schenken vermögen.

Uralt sind diese Geschichten, die in Kleinasien seit achthundert Jahren leben und deshalb so jung und lebensvoll bleiben, weil sie niemals niedergeschrieben wurden. Sie gehörten den Nomaden, waren Eigentum weniger Familien, die sich zu Gilden der Mazarlyk-dji, der Märchenerzähler, zusammenschlossen. Die Vielfalt und der gewaltige Reichtum an Märchen war aufgeteilt als Besitz einzelner solcher Gilden-Familien (Familie ist hier als Interessengemeinschaft zu verstehen), denen sie allein gehörten. Scharf wurde dieser Besitz abgegrenzt, nach ungeschriebenem Gesetz, und keiner durfte ein Märchen erzählen, das einer anderen Familie gehörte. Geschah es doch, so galt das als Diebstahl und wurde ähnlich streng beurteilt wie der Pferdediebstahl, der in orientalischen Ländern bekanntlich als das einzige wirklich niedrige



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Verbrechen gilt. Der Dieb wurde geächtet, bekam weder Brot noch Wasser, konnte nur noch auswandern, dorthin, wo er unbekannt war. Dieser strenge Schutz des geistigen Eigentums mag es wohl gewesen sein, der den Märchenschatz Anatoliens so unberührt bewahrte.

Wenn jetzt zum ersten Male diese Erzählungen in fremder Sprache niedergeschrieben erscheinen, solcherart wiedergegeben, daß der Westeuropäer ihre Wesenheit zu erfassen vermag, so geschieht das aus einem tiefen Gefühl der Verpflichtung einem kostbaren Besitz gegenüber, der weitergegeben werden muß. Die sie niederschrieb, tat es nicht leichten Herzens, wird doch mit ihnen ein Schatz verschenkt, der ein halbes Jahrhundert lang nur eigenster Besitz war. Aber man darf sich wohl nicht etwas zu eigen machen, was Volksgut ist.

Gewiß, Märchen sollten nicht geschrieben sein, sie müssen gesprochen werden, immer neu aus dem Augenblick geboren und aus jenen heraus gestaltet, die zuhören. So geschah es auch fünf Jahrzehnte lang mit diesen Märchen, dem Versprechen gemäß, das demjenigen gegeben wurde, der mich in seine Erzählergilde aufnahm. Das war so: Viele Jahre lang ritt, begleitet von zuverlässigen Dienern, ein abenteuerlustiges Mädchen, das ein leidenschaftlicher Reiter war, in Knabenkleidung durch Anatolien. Die Knabenkleidung war eine Sicherheitsmaßnahme und auch zum Reiten erforderlich, sonst nichts; entsprechende Körperlänge machte sie durchaus glaubhaft.

Oftmals nun verbrachte man die Nacht im Karawanserail, diesem Schutzplatz für Herden, Reiter, Getier aller Art und ihre Hirten. Begleitet wurden diese nomadisierenden Hirten fast immer von Erzählern, die dem wandernden Volk die langen Tage der Beschwernis vertrieben und nachts mit ihnen am Feuer saßen, um die Wächter



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des kostbaren Herdengutes durch ihre Märchen und Geschichten am Einschlafen zu hindern.

Man saß am Feuer, das mitten im großen Innenraume zwischen Kamelen, Pferden, Eseln und Herdenvieh brannte, und hörte zu. Immer wieder traf man sich, wieder und wieder hörte man den berühmtesten aller Erzähler, Fehim. Und dann ergab es sich, daß er einmal zu mir als dem »Sohn« des Paschas sagte: »Bey Effendim, du kennst meine Geschichten, ich weiß es; tue mir die Güte an, erzähle statt meiner, denn ich bin heute sehr müde.« Das geschah. Und wiederholte sich. Und so kam es dann, nach Jahren, daß Fehim jenen in seine Gilde aufnahm, den er für einen Jüngling hielt, und auf diese Art unwissentlich ein Unikum schuf: einen vollgültigen türkischen Märchenerzähler, der eine europäische Frau ist.

Die Verpflichtungen, die ich durch Fehims Vertrauen übernahm, waren: die Geschichten niemals niederzuschreiben und nur seine Märchen zu erzählen, keine, die anderen Familiengilden gehören. Ich habe das Versprechen gehalten, aber ich glaube, daß sogar Fehim mir zustimmen und es gutheißen würde, daß ich heute niederschreibe, was durch die Wandlungen, die in der Türkei vor sich gingen, langsam in Vergessenheit gerät. Und es liegt mir sehr daran, diese Erzählungen, die ausschließlich türkisches Eigengut sind und nichts gemein haben mit arabischen oder gar persischen Geschichten, in ihrer besonderen Eigenheit darzustellen.

Es darf auch nicht vergessen werden, daß der Märchenerzähler in der Türkei ehemals der einzige Mensch war, der ungestraft den Mund zur Kritik auftun durfte. Er konnte im Gewande der Märchen vieles sagen, was die geheime Volksmeinung bedeutete. Er zeigte die Sultane, die Veziere, die verachteten Reichen und Mächtigen mit allen ihren Schwächen und verriet so unzweideutig, was



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das Volk dachte. Daher kam es auch, daß die Märchenerzähler gefürchtet waren von den Machthabern und daß man sie während der so häufigen Unruhen in sorgfältig abgesperrte Lager steckte, bis wieder Frieden herrschte.

Zu bedenken ist weiter, daß die Erzählungen alle nur von Männern für Männer berichtet wurden. Damit soll nicht gesagt werden, daß sie anstößige Dinge behandelten, wie das mit Vorliebe in arabischen Märchen geschieht, sondern nur, daß in einer Welt, in der es scheinbar keine Frauen gab, auch die Märchen allein für Männer bestimmt blieben.

Von diesem Blickpunkt aus betrachtet, bedeutet es gewiß eine ausgesuchte feine Rache der Geschehnisse, daß eine Frau in Männerkleidung die Märchen erlauschen durfte! Es war mir auch dann später sehr unterhaltend, wenn ich den Töchtern des Sultans und vielen Frauen meiner Freundschaft die Geschichten erzählen konnte, die seit Jahrhunderten Ruhm und Freude ihres Volkes gewesen waren und den Reichtum seelischer Güter darstellten, der in diesem naturverbundenen Volke so groß ist.

Als höchst bemerkenswert ist endlich zu erwähnen, daß die Märchen eben wegen dieser Naturverbundenheit nach ihrer Artung verschieden sind, je nach den klimatischen Gegebenheiten ihrer allereigensten Bezirke. Es ist ja bekannt, daß es in Kleinasien alle Klimata gibt: strenge, harte Kälte im Karst, mäßiges Wetter im mittleren Kleinasien und mildestes Seeklima in den südlichen Gebieten. Je nach ihrer engerbegrenzten Herkunft sind die Märchen aus dem Karst hart und grausam, die aus den mittleren Gebieten mehr erzählend und breiter, die der südlichen Gegenden, wo Obst und Rosen wachsen, lieblich und fast träumerisch.

Genau entsprechend dieser Formung zeigt sich auch die sonstige Volkskunst: die Teppiche und Stickereien.



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Dunkle Farben, strenge Ornamente im nördlichen Gebiet; weite Anordnungen, aus denen Gartenanlagen und großräumige Plätze zu erkennen sind, in den Mittelgebieten, und Blumen, helle Farben, zarte Anordnungen im Süden. Daß die Frauen alle Muster im Kopf hatten wie die Männer die Märchen, versteht sich von selbst, denn es war ja ein Volk, das dem Gedächtnis den höchsten Wert beimaß.

Es steht zu erwarten, daß die nunmehr verbreitete Schulbildung und Technisierung in der modernen Türkei die Kraft des Gedächtnisses dort ebenso auslöscht, wie es anderswo in Europa bereits geschah. Kein Geringerer als Aristoteles war es, der die Verbreitung der Schrift beklagte, weil durch sie die Übung der Gedächtniskraft schwand. Und wenn die hier Sprechende auch schreiben kann - sie hofft es wenigstens! —, von den vielen, vielen Märchen, die sie kennt, hat sie sich niemals auch nur die kleinste Notiz gemacht. Warum auch? Gedächtnis ist untrügerisch. Schrift kann täuschen.

Wie sehr dies alles Märchen für Männer sind, habe ich auch in beglückender Weise dadurch erfahren, daß es mir vergönnt war, vier Jahre lang während des letzten Krieges an allen Fronten den Soldaten der Luftwaffe Märchen zu erzählen. Daß dies meistens erst spöttische und abwehrende Bemerkungen der »Betroffenen« hervorrief, wenn sie erfuhren, was ihnen bevorstand, ist begreiflich. Aber ich bat darum, nur zu solchen Posten geschickt zu werden, wohin sonst niemand gern ging, wo die Einsamkeit und Verlassenheit der Berge, der Meere alle abschloß. Und dort verlangten die von allem abgeschnittenen Männer sehr bald öfter und öfter das Wiederkommen von »Kamerad Märchen«, und es zeigte sich wieder einmal, daß Tiefstes überall gleich ist und daß es eine allgemeine Menschheitssprache gibt, die - fast der Musik ähnlich -



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überall verstanden wird. Der Name, den mir die Männer gaben, ist der, der mich in meinem Leben am stolzesten machte, und ich wäre glücklich, wenn einige meiner Märchen, die nun in die Welt hinausgehen, den gleichen Widerhall fänden und hie und da einer, der sie liest, vielleicht auch vor sich hin sagt: »Danke, Kamerad Märchen.« Und Ihr alle: Allaha ismagladyk!

ELSA SOPHIA VON KAMPHOEVENER


Copyright: arpa, 2015.

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