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Hauffs Werke

Sechster Teil Phantasien und Skizzen Aus dem Nachlasse

Herausgegeben von

Max Drescher


Von neun bis zehn Uhr.

In Courcelles wurde zum Frühstück angehalten. Wir traten in das freundliche Zimmer, wo bereits auf dem großen Roste die Koteletten knisterten; die Männer legten Mützen und Mäntel ab; das Gewölk, das um das Haupt der Jungfrau hing, zerriß plötzlich, und mir war, als erwache ich jählings aus einem schmeichelnden Traume. Wer sah nicht schon ein unbekanntes Schloß aus dem Morgennebel tauchen? Man mustert es; es ist bewohnt, ist nicht übel gebaut, ist vollständig unter Dach; aber der Totaleindruck und hier eine Efeuranke, dort eine unvermauerte Ritze, hier ein Krähennest, dort ein schlimmer, einspringender Winkel am Dachstuhl verkünden laut, es habe seine schönste Zeit gesehen. Wenn ein solcher Zustand einer Baulichkeit herkömmlichermaßen etwas Poetisches hat, so war der analoge Zustand meiner Reisegefährtin nur zu sehr geeignet , mich in die platte Wirklichkeit zurückzuwerfen; kurz, ich hatte ein ziemlich erhaltenes Exemplar einer alten Jungfer vor mir, und die schönen schwarzen Sterne, die Verführer meiner Einbildungskraft und die Reminiszenzen einer Jugendblüte, die keine Früchte getragen, preßten mir jetzt nur den Seufzer aus: Warum kann man solche Brillanten nicht aus der alten Hülse brechen und modern fassen lassen? Wie mancher Seigneur châtelain mit jedem Quader, der von den Zinnen seines Erbsitzes in den Graben stürzt, froher und lebenslustiger wird, so war meine Unbekannte, wie dies so gewöhnlich ist, mit den Breschen, welche in den Wall ihrer Zähne gefallen waren, regsamer, ihre Zunge geläufiger geworden; denn kaum hatte sich der General-Glashändler einen Zipfel der Serviette in das Ordensknopfloch gesteckt, kaum standen die duftenden Koteletten auf dem Tisch, so sagte mir die Kadenz ihres quiekenden Sprachinstruments, daß sie eine meiner südlichen Landsmänninnen aus den Grenzmarken von Schwaben und Franken sei, und unbefragt gab sie uns zum besten, wie sie ihren Herrn Bruder, den Kaufmann Morgenstern zu Paris, in einer wichtigen Angelegenheit



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besuche. Ihr Herr Bruder habe im vorigen Jahre durch die grobe Unwissenheit der französischen Hebammen den Stammhalter des französischen Zweiges des Morgensternschen Hauses verloren; da nun jetzt wiederum nahe Hoffnung zum Aufgang eines neuen Morgensternes sei, so habe er sich entschlossen, trotz der französischen Erziehungskunst, trotz der Protestationen von Madame, denselben à I'allemand aufgehen zu lassen und deshalb sie , seine Schwester, berufen, die durch langjährige Praxis sich damit vertraut gemacht habe, wie in der Morgensternschen Familie die Sauglappen gebunden und der Kinderbrei gebraut werde. Zur Bekräftigung ihrer Aussage , und damit in keinem Winkel unserer Herzen ein Argwohn über ihren wahren Charakter bleibe, teilte sie uns mit triumphierender Miene lithographierte Karten aus, auf denen in gotischen Buchstaben zu lesen stand: Jules Morgenstern, marchand taillen, palais royal, galerie de bois Nro. 65 à Paris usw. Unter diesem interessanten Gespräche ging das schmackhafte Frühstück vorwärts, alle Details einer deutschen Wochenstube wurden besprochen, mit den französischen Instituten derselben Art verglichen. Der Herr Graf, überhaupt ein sehr leutseliger Herr, ging mit Herablassung und Sachkenntnis in die populäre Materie ein, und selbst die Böhmen fanden beim Artikel der Milchgläser und Saugflaschen Gelegenheit, ein kritisches Wort anzubringen. Auf diese Weise war die Genesis sämtlicher gräflich Blankenspeerschen und Schneider Morgensternschen Sprossen abgehandelt worden, und schon begann ich zu befürchten, daß nun die Reihe an die böhmische Deszendenz kommen möchte, als sich der Kondukteur den Mund wischte und Madeleine mit ihrem Teller und ihrem: "Messieurs, n'oubliez pas la fille!" das Zeichen zum Aufbruch gab. —


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