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Hauffs Werke

Sechster Teil Phantasien und Skizzen Aus dem Nachlasse

Herausgegeben von

Max Drescher


II. Geschmack des Publikums.

"O, daß ich auch einer der Glücklichen wäre," dachte ich, als jetzt die Leihbibliothek sich öffnete und ein Gemisch von bordierten Bedientenhüten und hübschen Mädchengesichtern sich zeigte, "einer jener Glücklichen, deren zweiter Teil mit so großer Sehnsucht erwartet wird!" Nicht ohne Neid blickte ich auf die Bände, die der kleine Bibliothekar mit der wichtigen Miene eines Bäckers zur Zeit einer Hungersnot verteilte. —Er hatte die dringendsten Kunden



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befriedigt, das Geld oder die Leseschulden eingeschrieben, und ich konnte jetzt eine wichtige Frage an ihn richten, die mir schon lange auf den Lippen schwebte, die Frage über den Geschmack des Publikums .

"Er ist so verschieden," antwortete er, "und ist oft so sonderbar als der Geschmack an Speisen. Der eine will süße, der andere gesalzene , der eine Seefische, Austern und italienische Früchte, der andere nahrhafte Hausmannskost; in einem Punkte stimmen sie aber alle überein: sie wollen gut speisen.

"Das heißt?"

Sie wollen unterhalten sein; natürlich, jeder auf seine Weise."

"Aber wer ist der Koch," rief ich aus, "der für diese verschiedenen und verwöhnten Gaumen das Schmackhafte zubereitet? Wie kann man es allen oder nur vielen recht machen? Denn dann liegt doch der Ruhm des Autors?"

"Sie sind nicht so verwöhnt, als man glaubt," entgegnete er; "die Mode tut viel, und wenn nur die Schriftsteller fleißiger die Leihbibliotheken besuchten, mancher würde finden, was ihm noch abgeht oder was er zuviel hat. Kann doch keiner ein guter Theaterdichter werden, der nicht mit der ganzen Stadt vor seinem eigenen Stücke sitzt, aufmerksam zuschaut und lauscht, was am meisten Effekt macht."

Der Mann sprach mir aus der Seele; er hatte ausgesprochen, was auch ich schon lange mir zugeflüstert hatte. "Die Leihbibliotheken studiere, wer den Geist des Volkes kennen lernen will," fuhr er mit Pathos fort. "Sehen Sie einmal, Bester, jene lange Reihe von Bänden an; die weißen Pergamentrücken sind so rein, als hätte man sie nie oder nur mit Handschuhen angefaßt. Wer ist wohl der Autor, der so vergessen und gleichsam in Ruhestand versetzt dort steht?"

Ich riet auf eine Reisebeschreibung oder auf ein naturhistorisches Werk.

"Letzteren Artikel führen wir gar nicht," antwortete er wegwerfend "nein — es ist Jean Paul."

"Wie!" rief ich mit Schrecken, "ein Mann, der für die Unsterblichkeit geschrieben, sollte schon jetzt vergessen sein? Hat er denn nicht alles in sich vereinigt, was anzieht und unterhält, tiefen Ernst und Humor, Wehmut und Satire, Empfindsamkeit und leichten Scherz :"

"Wer leugnet dies?" erwiderte der kleine Mann. "Alles hat er in sich vereint, um die verschiedensten Gaumen zu befriedigen; aber er hat jene Ingredienzien klein gehackt, wunderlich zusammengemischt und mit einer Mues piquante gekocht; als es fertig



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war und das Publikum kostete, fand man es wohlschmeckend, delikat; aber es widerstand dem Magen, weil niemand seine Kraftbrühen, den sonderbaren, dunkeln Stil, ertragen konnte. Dort stehen alle seine Gerichte unberührt, und nur einige Gourmands im Lesen nehmen hie und da ein ,Kampanerthal' oder einen .Titan' nach Hause und schmecken allerlei Feines heraus, das ich und mein Publikum nicht verstehen. Sehen Sie in jener Ecke die lange Reihe mit den neuen grünen Schildchen? Das ist Herder; auch dieser — doch hier kommt ein lebendiges Beispiel die Straße herauf; kennen Sie Fräulein Rosa von Milben?"

"Gewiß; ich sah sie zuweilen und fand in ihr eine Dame von feinstem Geschmack und sehr belesen; zwar etwas empfindsam und idealisch, aber dabei von einer liebenswürdigen Unbefangenheit."

"Des Fräuleins Kammermädchen wird sogleich eintreten, und da haben Sie die beste Gelegenheit, den feinen, empfindsamen Geschmack jener Dame kennen zu lernen."

"Ich wollte erraten, von welcher Art ihre Lektüre ist," erwiderte ich, " etwa ,Rosaliens Nachlaß' oder ,Jakobs Frauenspiegel', Tiedges Urania' oder ,Agathokles von Karoline Pichler

"Stellen Sie sich nur ruhig an jene Seite, wir werden sogleich sehen."

Ich tat, wie er mir sagte; ich nahm ein Buch aus dem Schrank und stellte mich, scheinbar mit Lesen beschäftigt, in eine Ecke. Das Mädchen trat in das Gewölbe, richtete eine freundliche Empfehlung vom gnädigen Fräulein aus, und sie lasse fragen, ob man denn Nr. 1629 noch immer nicht haben könne .

"Nicht zu Hause," antwortete er nach einem flüchtigen Blick auf die Bücherschränke; "hier ist eine andere Nummer für Ihr Fräulein. Sie soll sich gut unterhalten." Das Mädchen ging. o "Schnell einen Katalog," rief ich, als sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, "lassen Sie mich sehen, was 1629 ist!" Mit ironischem Lächeln reichte mir der Alte den Katalog; ich blätterte eilig, fand, und mein Herz starrte vor Verwunderung; denn Nr. 1629 war — Leben und Meinungen Erasmus Schleichers von Cramer!" "Wie! 5 Dieses, um wenig zu sagen, gemeine Buch darf Fräulein Rosa, die liebenswürdige Einfalt, lesen?" sprach ich unmutig. "Und wenn keine Gouvernante, keine Mutter ihre Lektüre ordnet, darf sie sich selbst etwas der Art erlauben? Doch es ist ein Irrtum, die Zahlen sind falsch aufgeschrieben!" o "

"Wertester Herr," erwiderte der Bibliothekar, "Sie trauen den Menschen zu viel Gutes zu. Hier ist ein Zettelchen, das ich heimlich aus dem Körbchen des Kammermädchens nahm, Erasmus Schleicher ist es und kein anderer: noscitur socio — an



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deinem Kameraden kennt man dich: hier stehen die übrigen Nummern , nach welchen das Herz des Fräuleins verlangt, vergleichen Sie!"

Zürnend nahm ich das Blättchen, auf welchem zierlich die Worte: "Für Fräulein von Milben," und eine lange Reihe von Zahlen geschrieben waren. Ich fing mit der ersten Nummer an und fand Leute, welchen freilich die Nachbarschaft des alten Erasmus keine Schande brachte; 1585 "der deutsche Alcibiades" , 2139 der Geist Erichs von Sickingen und seine Erlösung", 2995 "Historien ohne Titel" , 1544"der Blutschatz" von H. Clauren, 1531 —1540 "Scherz und Ernst von H. Clauren. Nein, weiter mochte ich diese Herzensgeheimnisse nicht entziffern. "Welche Heuchlerin ist dieses Mädchen!" rief ich. "Das ist ihre Lektüre, und ich glaubte, sie werde nur die Stunden der Andacht' lesen!"

"Da müßten Sie wahrhaftig einen guten Teil unserer jungen Damen Heuchlerinnen nennen; denn Clauren und Cramer und dergleichen sind ihre angenehmste Lektüre, und daß sie nicht darüber sprechen, ist noch keine Heuchelei."

"Aber, mein Gott, warum lesen denn wohlgezogene Leute so schlechte Bücher, von welchen sie ohne Erröten nicht sprechen dürfens Wahrhaftig, der Umgang mit schlechten Büchern ist oft gefährlicher als der Umgang mit schlechten Menschen."

"Warum?" entgegnete der Büchermann lachend. "Warum? Das ist einmal der Geschmack der Zeit."


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