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Kapitel 

Hauffs Werke

Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



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Seite

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . , , , , , , {7}

Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {21}

Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . . {23}

Die Bettlerin vom Pont des Arts. . . . . . . . . . {28}

Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {116}

Jud Süß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {154}

Die Sängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . {213}

Die letzten Ritter hon Marienburg . . . . . . . . . {254}

Das Bild des Kaisers . , , . . . . . . . . . . . {306}

10.

"Werde nicht manquieren!" rief ihm der Kommerzienrat Bolnau mit jammervoller Miene nach. "Der hat Verdacht!" sprach er zu sich. "Der weiß etwas von dem Worte der Sängerin. Zwar soll sie wiederhergestellt sein; aber kann nicht der Verdacht im Herzen dieses Polizisten um sich fressen? Kann er mich nicht aus Argwohn beobachten lassen? Die geheime Polizei wird mich verfolgen; auf allen meinen Schritten und Tritten sehe ich schlaue, fremde Gesichter. Ich darf nichts mehr reden, so wird es rapportiert, gedeutet; ich werde, o Gott im Himmel, ich werde ein unruhiger Kopf, ein gefährliches Individuum ; und doch lebte ich still und harmlos wie Wilhelm Tell im vierten Akt!"

So sprach der unglückliche Bolnau bei sich; seine Angst vermehrte sich, als er über die verfängliche Frage wegen der nächsten Redoute nachdachte. "Er meint gewiß, ich werde mich nicht in die Nähe der Sängerin wagen, aus bösem Gewissen; aber ich muß hin, ich muß ihm diesen Verdacht benehmen! Und doch —wird mich nicht in ihrer Nähe ein Zittern und Beben überfallen, gerade weil er glauben kann, ich werde aus Gewissensbissen und Angst zittern!" Er quälte sich ab mit diesen Vorstellungen, sie beschäftigten ihn tagelang, er erinnerte sich, daß ein berühmter Schriftsteller in einer eigenen Schrift bewiesen habe, daß man Angst vor der Angst haben könne, und dies schien ihm ganz sein Fall zu sein. Aber er fühlte, daß er sich ein Herz fassen und der Gefahr entgegengehen müsse. Erließ sich vom Maskenverleiher den prachtvollen Anzug des Pascha von Janina holen; er zog ihn alle Tage an und übte sich vor einem großen Spiegel, recht unbefangen aus seiner Maske hervorzuschauen. Er machte sich aus seinem Schlafrock



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eine Puppe und setzte sie auf einen Sessel; sie stellte die Sängerin Fiametti vor. Er ging als Pascha um sie her und sprach: "Es freut mich unendlich, Sie in so erwünschtem Wohlbefinden zu sehen." Am dritten Tage konnte er seine Lektion schon ganz ohne Zittern sagen; daher legte er sich noch Schwereres auf. Er wollte recht artig und unbefangen sein und ihr einen Teller mit Bonbons und Punsch offerieren. Er übte sich mit einem Glas Wasser, das er auf einen Teller setzte. Im Anfang klirrte es schrecklich in seiner zitternden Hand; aber auch diese Schwierigkeit überwand er, ja, er konnte ganz lusti (g dazu sagen: "Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwas weniges Punsch und etzliche Bonbons?" Es ging trefflich; kein Sterblicher sollte ihn beben sehen. Ali Pascha von Janina fühlte Mut in sich, trotz seiner Angst vor der Angst, auf die Redoute zu gehen.

Der Medizinalrat Lange hatte es sich nicht nehmen lassen, die Genesene zum erstenmal wieder unter die Leute zu führen. Sie hatte es ihm gerne zugesagt; hatte er doch durch seine treue Pflege, durch die väterliche Sorgfalt, womit er sich ihrer angenommen, ein Recht auf ihre wärmste Dankbarkeit gewonnen. So kam er mit ihr auf die Redoute, und er schien sich nicht wenig auf den Platz an der Seite des schönen, interessanten Mädchens zugute zu tun. Die Leute in B. sind ein sonderbares Volk. In den ersten Tagen hatte man von den nobelsten Salons bis hinab in die Bierschenken von der Sängerin Übles gesprochen; als aber Männer von Gewicht sich ihrer annahmen, als angesehene Damen sich öffentlich für sie erklärten, drehte sich die Fahne nach dem Winde, und die B . . .er liefen, gerührt über das Schicksal des armen Kindes, in den Straßen umher und starben bald vor Entzücken, daß sie genesen. Als sie in den Saal der Redoute trat, schien alles nur auf sie, als die Königin des Festes, gewartet zu haben; man jubelte und jauchzte, man klatschte in die Hände und rief bravo, als hätte sie eben die schwersten Rouladen zustande gebracht. Auch dem Medizinalrat fiel sein Anteil am Beifall zu. "Sehet, der ist's," riefen sie, "das ist ein geschickter Mann, der hat sie gerettet!"

Die Sängerin fühlte sich freudig bewegt von diesem Beifall der Menge; ja, sie hätte, berauscht von dem Gemurmel der Glückwünschenden, beinahe vergessen, daß sie noch ein ernsterer Zweck in diesen Saal geführt habe; aber die vier handfesten Dominos, die ihren Schritten folgten, die Fragen des Doktors, ob sie die grauen Augen des Chevalier' noch nicht ansichtig geworden, erinnerten sie immer wieder an ihr Vorhaben. Ihr selbst und dem Doktor war es nicht entgangen, daß ein langer, hagerer Türke (man hieß in B. sein Kostüm den Ali Pascha) sich immer in ihre Nähe dränge; und so oft der Strom der Masken ihn wegriß, immer war er ihnen wieder zur Seite. Die Sängerin stieß den Doktor an und winkte mit den Augen nach dem



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Pascha hin. Er erwiderte ihren Blick und sagte: "Ich habe ihn schon lange bemerkt." Der Pascha näherte sich mit ungewissen Schritten; die Sängerin klammerte sich fester an Langes Arm; er war jetzt ganz nahe; starre, graue Äuglein guckten aus der Maske, und eine hohle Stimme sprach zu ihr: "Es freut mich unendlich, wertgeschätzte Mamsell, Sie in so erwünschtem Wohlsein zu sehen." Die Sängerin wandte sich erschreckt ab und schien zu zittern; auch die Maske fuhr bei diesem Anblick bebend zurück und verschwand unter der Menge. "Ist er es?" rief der Medizinalrat. "Fassen Sie sich doch; es gilt hier, ruhig und mit Umsicht zu handeln; glauben Sie, er ist es?" "Noch weiß ich es nicht gewiß," entgegnete sie; "aber ich glaube, seine Augen zu erkennen ."

Der Medizinalrat gab den vier Dominos die Weisung, recht genau auf diesen Pascha acht zu geben, und ging mit der Dame weiter. Aber kaum hatte er einige Gänge durch den Saal gemacht, so erschien der Türke wieder; doch hielt er sich mehr in der Entfernung, als beobachte er die Sängerin.

Der Doktor trat mit seiner Dame an ein Büfett, um ihr auf den gehabten Schrecken eine Tasse Tee zu verordnen; er sah sich um — auch hier wieder der Türke. Und siehe da, jetzt hatte er auf einem Tellerlein ein Glas Punsch und einige Bonbons; er nähert sich der Sängerin, seine Augen funkeln, das Glas hüpft und klappert in seltsamen Klängen auf dem zitternden Teller; er ist an ihrer Seite, er bietet ihr den Teller und sagt: "Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwa: weniges Punsch und etzliche Bonbons ?" Die Sängerin sah ihn starr an; sie erbleichte, sie stieß den Teller zurück und rief: "Ha, der Schreckliche ! Er ist's, er ist's, er will mich vergiften!"

Der Pascha von Janina stand stumm und regungslos; er schien jeden Gedanken an Verteidigung aufzugeben; willenlos ließ er sich von den vier handfesten Dominos hinwegführen.

Beinahe in demselben Augenblicke wurde der Doktor heftig an seinem schwarzen Mantel gezogen; er sah sich um; jener kleine, verwachsene Lohnlakai aus dem Hotel de Portugal stand vor ihm, bleich und von Schrecken entstellt. "Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Medizinalrat, kommen Sie doch gefälligst mit mir auf Nr. 53! Eben will der Teufel den französischen Herrn holen."

"Was schwatzt Er da?" sagte der Doktor unwillig und wollte ihn auf die Seite schieben, um dem Gefangenen auf die Polizeidirektion zu folgen. "Was geht es mich an, wenn ihn der Satan zu sich nimmt?

"Aber ich bitte Sie," rief der Kleine beinahe heulend, " er kann vielleicht doch noch gerettet werden; Hochdieselben sind ja Stadtphysikus allhier und verpflichtet, zu den Fremden in den Hotels zu kommen."



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Der Medizinalrat unterdrückte einen Fluch, der ihm auf der Zunge schwebte; er sah, daß er diesem unangenehmen Gange nicht ausweichen konnte; er winkte den Kapellmeister Bolani herbei, übergab ihm die Sängerin und eilte mit dem kleinen Menschen nach dem Hotel de Portugal.


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