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Kapitel 

Hauffs Werke

Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



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Seite

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . , , , , , , {7}

Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {21}

Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . . {23}

Die Bettlerin vom Pont des Arts. . . . . . . . . . {28}

Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {116}

Jud Süß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {154}

Die Sängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . {213}

Die letzten Ritter hon Marienburg . . . . . . . . . {254}

Das Bild des Kaisers . , , . . . . . . . . . . . {306}

8.

Der Baron Martenow, dem Lange früher einmal einen wichtigen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte, nahm ihn freundlich auf und gab ihm über die Sängerin Fiametti die genügendsten Aufschlüsse . Er bestätigte nicht nur beinahe wörtlich ihre Erzählung, sondern er brach auch in die lauteste Lobeserhebung ihres Charakters aus; ja, er versprach, wohin er in dieser Stadt kommen würde, überall zu ihren Gunsten zu sprechen und die Gerüchte zu widerlegen, die über sie im Umlauf waren. Er hat auch Wort gehalten; denn



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hauptsächlich seinem Ansehen und der edelmütigen Art, womit er sich der Italienerin annahm, schrieben es ihre Freunde zu, daß die Gesinnungen des Publikums über sie in wenigen Tagen wie durch einen Zauberschlag sich änderten. Der Medizinalrat Lange aber stieg an jenem Tage, als er vom Gesandten kam, aus der Beletage des Hotels de Portugal noch einige Treppen höher, in die Mansarden; in Nr. 54 sollte der Kapellmeister wohnen. Erstand vor der Türe still, um Atem zu schöpfen; denn die steilen Treppen hatten ihn angegriffen . Sonderbare Töne drangen aus dieser Türe in sein Ohr. Es schien ein Schwerkranker dann zu sein; denn er vernahm ein tiefes Stöhnen und Seufzen, das aus hohler Brust aufzusteigen schien. Dann klangen wieder schreckliche französische und italienische Flüche dazwischen, wie wenn Ungeduld dem Jammer Luft machen will, und ein heiseres Lachen der Verzweiflung bildete wieder den Übergang zu jenen tiefen Seufzern. Der Medizinalrat schauderte. "Habe ich doch schon neulich etwas weniges Wahnsinn an dem Maestro verspürt ," dachte er, "sollte er vollends übergeschnappt sein, oder ist er krank geworden aus Schmerz?" Er hatte schon den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, als sein Blick noch einmal auf die Nummer der Türe fiel; es war Nr. 53. Wie hatte er sich doch täuschen können; fast wäre er zu einem ganz fremden Menschen eingetreten. Unwillig über sich selbst ging er eine Türe weiter; hier war erst 54; hier lautete es auch ganz anders. Eine tiefe, schöne Männerstimme sang ein Lied, begleitet von dem Pianoforte; der Medizinalrat trat ein; es war jener junge Mann, den er gestern bei der Sängerin gesehen.

Im Zimmer lagen Notenblätter, Gitarren, Violinen, Saiten und anderer Musikbedarf umher, und mitten unter diesen Trümmern stand der Kapellmeister in einem weiten, schwarzen Schlafrock, eine rote Mütze auf dem Kopf und eine Notenrolle in der Hand; der Doktor hat nachher gestanden, es sei ihm bei seinem Anblick Marius auf den Trümmern Von Karthago eingefallen.

Der junge Mann schien sich seiner von gestern zu erinnern und empfing ihn beinahe finster; doch war er so artig, einen Stoß Notenblätter mit einem Ruck von einem Sessel auf den Boden zu werfen, um seinem Besuche Platz anzubieten; er selbst stieg mit großen Schritten im Zimmer umher, und sein fliegender Schlafrock nahm geschickt den Staub von Tischen und Büchern.

Er ließ den Medizinalrat nicht zum Wort gelangen, er überschrie ihn. "Sie kommen von ihr?" rief er. "Schämen sich Ihre grauen Haare nicht, der Kuppler eines solchen Weibes zu werden? Ich will nichts mehr hören; ich habe mein Glück zu Grabe getragen; Sie sehen, ich traure um meine Seligkeit; ich habe einen schwarzen Schlafrock an —schon dies sollte Ihnen, wenn Sie sich entfernt auf Psychologie



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verstehen, ein Zeichen sein, daß ich jene Person für mich als gestorben ansehe. O Giuseppa, Giuseppa!"

"Wertester Herr Kapellmeister," unterbrach ihn der Doktor, "so hören Sie mich nur an —"

Hören? Was wissen Sie von Hören? Lauschen Sie, wenn Sie von Hören sprechen ich will prüfen, ob du Gehör hast, Alter! Siehe, das ist das Weib," fuhr er fort, indem er den Flügel aufriß und einiges spielte, das übrigens dem Doktor, der kein großer Musikkenner war, vorkam wie andere Musik auch. "Hören Sie dieses Weiche, Schmelzende, Anschmiegende? Aber bemerken Sie nicht in diesen Übergängen das unzuverlässige, flüchtige, charakterlose Wesen dieser Geschöpfe? Aber hören Sie weiter," sprach er mit erhobener Stimme und glänzendem Auge, indem er die weiten Ärmel des Trauerschlafrockes zurückschüttelte; " wo Männer wirken, ist Kraft und Wahrheit; hier kann nichts Unreines aufkommen, sind heilige, göttliche Laute!" Er hämmerte mit großer Macht auf den Tasten umher; aber dem Doktor wollte es wieder bedünken, als sei dies nur ganz gewöhnliche Musik.

"Sie haben da eine sonderbare Charakteristik der Menschen," sagte er; "da wir doch einmal so weit sind, dürfte ich Sie nicht bitten, Verehrter, daß Sie mir auch einmal einen Medizinalrat auf dem Klavier vorstellten?"

Der Musiker sah ihn verächtlich an. "Wie magst du nur mit einem schlechten, quiekenden Fis hereinfahren, Erdenwurm, wenn ich den herrlichen, strahlenwerfenden C-Akkord anschlage!"

Die Antwort des Doktors wurde durch ein Klopfen an der Türe unterbrochen; eine kleine, verwachsene Figur trat herein, machte eine Reverenz und sprach: "Der kranke Herr auf Nr. 53 läßt den Herrn Kapellmeister höflichst ersuchen, doch nicht so gar erschrecklich zu hantieren und zu haselieren, wasmaßen derselbe von gar schwacher Konstitution und dem zeitlichen Hinscheiden nahe ist."

"Ich lasse dem Herrn meinen gehorsamsten Respekt vermelden," erwiderte der junge Mann, "und meinetwegen könne er abfahren. wenn es ihm gefällig. Es graut mir ohnedies alle Nacht vor seinem Jammern und Stöhnen, und das Greulichste sind mir seine gottlosen Flüche und sein tolles Lachen. Meint vielleicht der Franzose, er sei allein Herr im Hotel de Portugal? Geniert er mich, so geniere ich ihn wieder."

"Aber verzeihen Euer Hochedelgeboren," sagte der verwachsene Mensch, " er treibt's nicht mehr lange; wollen Sie ihm nicht die letzten Augenblicke —"

"Ist er so gar krank, der Herr?" fragte der Medizinalrat teilnehmend. "Was fehlt ihm ? Wer behandelt ihn ? Wer ist er



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"Wer er ist, weiß ich gerade nicht; ich bin der Lohnlakai; ich denke, er nennt sich Lorier und ist aus Frankreich; vorgestern war er noch wohlauf, aber etwas melancholisch; denn er ging gar nicht aus, hatte auch keine Lust, die Merkwürdigkeiten hiesiger Stadt zu inspizieren; aber am andern Morgen fand ich ihn schwer krank im Bette. Es scheint, er hat in der Nacht einen Schlaganfall bekommen. Aber um alle Welt will er keinen Arzt. Er flucht gräßlich, wenn ich frage, ob ich nicht einen zu ihm führen solle. Er pflegt und verbindet sich selbst; ich glaube, er hat auch eine alte Schußwunde aus dem Kriege, die jetzt wieder aufgegangen ist."

Man hörte in diesem Augenblicke den Kranken nebenan mit heiserer Stimme rufen und einige Verwünschungen ausstoßen. Der Lohnlakai schlug drei Kreuze und flog hinüber.

Der Doktor versuchte noch einmal, ob seine Reden bei dem verstockten Liebhaber keinen Eingang fänden, und wirtlich schien es diesmal zu gelingen. Jener hatte eine Partitur in die Hand genommen, aus welcher er mit leiser Stimme vor sich hinsang; der Doktor benutzte diese ruhigere Stimmung und fing an, ihm das Leben der Sängerin zu erzählen. Anfangs schien der Kapellmeister nicht darauf zu achten; er las emsig in seiner Partitur und tat, als sei außer ihm niemand im Zimmer; nach und nach aber wurde er aufmerksamer. Er hörte auf zu singen; bald hob sich zuweilen sein Auge über die Partitur und streifte prüfend über des Doktors Gesicht, dann ließ er das Notenheft sinken und sah den Erzähler fest an; sein Interesse schien mehr und mehr zu wachsen, seine Augen glänzten, er rückte näher, er faßte den Arm des Mediziners, und als dieser seine Erzählung schloß, sprang er in großer Bewegung auf und rannte im Zimmer auf und nieder. "Ja," rief er, "es liegt Wahrheit Darin, ein Schein von Wahrheit , eine Wahrscheinlichkeit; es ist möglich, es könnte etwa so gewesen sein; Teufel! könnte es nicht auch eine Lüge sein?"

"Das heißt man, glaube ich, decrescendo in Ihrer werten Kunst, Herr Kapellmeister; aber warum denn bei dieser Sache so von der Wahrheit bis zur Lüge herabsteigen? Wenn ich Ihnen nun einen Bürgen für die Wahrheit stellte, Maestro, wie dann?"

Bolani blieb sinnend vor ihm stehen: "Ha, wer dieses könnte, Medizinalrat! In Gold wollte ich dich fassen. Schon der Gedanke verdient, groß und königlich belohnt zu werden! Ja, wer mir Bürge wäre ! — Es ist alles so finster — verworrene Labyrinthe — kein leitendes Gestirn!"

"Wertgeschätzter Freund," unterbrach ihn der Doktor; "ich ertappe Sie hier auf einer Reminiszenz aus Schillers Räubern, so in der Cottaschen Taschenausgabe pagina 175 stehet, wenn ich mich



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recht erinnere. Demungeachtet weiß ich einen solchen Bürgen, ein solches leitendes Gestirn."

"Ha, wer mir einen solchen gäbe!" rief jener. "Er sei mein Freund, mein Engel, mein Gott — ich will ihn anbeten!"

"Es ist zwar in der angeführten Stelle von einem Schwert die Rede, womit man der Otternbrut eine brennende Wunde versetzen will; nichtsdestoweniger aber will ich Sie überzeugen; jener Gesandte, der die arme Giuseppa in seinem Hause aufnahm, logiert zufällig hier im Hause auf Nr. 6; belieben Sie einen Frack anzuziehen und ein Halstuch umzuknüpfen, so werde ich Sie zu ihm führen; er hat mir versprochen, Sie zu überzeugen."

Der junge Mann drückte gerührt die Hand des Arztes; doch auch jetzt konnte er ein gewisses erhabenes Pathos nicht verbergen. "Ihr wart mein guter Engel," sagte er; "wie vielen Dank bin ich für diesen Wink Euch schuldig! Ich fahre nur geschwind in meinen Frack, und sogleich folg' ich Euch zu dem Gesandten.


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