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Kapitel 

Hauffs Werke

Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



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Seite

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . , , , , , , {7}

Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {21}

Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . . {23}

Die Bettlerin vom Pont des Arts. . . . . . . . . . {28}

Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {116}

Jud Süß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {154}

Die Sängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . {213}

Die letzten Ritter hon Marienburg . . . . . . . . . {254}

Das Bild des Kaisers . , , . . . . . . . . . . . {306}

4.

Als gegen Abend der Medizinalrat Lange zu seiner Kranken kam, fand er sie um vieles besser, als er sich gedacht hatte. Ersetzte sich an ihrem Bette nieder und besprach sich mit ihr über diesen unglücklichen Vorfall. Sie hatte ihren Arm auf die Kissen gestützt, in der zartgeformten Hand lag ihr schöner Kopf. Ihr Gesicht war noch sehr bleich; aber selbst die Erschöpfung ihrer Kräfte schien ihr einen eigentümlichen Reiz zu geben. Ihr dunkles Auge hatte nichts von jenem Feuer, jenem Ausdruck verloren, der den Doktor, obgleich er ein bedächtiger Mann und nicht mehr in den Jahren war, wo Phantasie der Schönheit zu Hilfe kommt, schon früher von der Bühne aus angezogen hatte. Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit der Seele, jener Adel der Natur, was diese jungfräulichen Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß. "Es scheint, Sie studieren meine Züge, Doktor," sprach die Sängerin lächelnd; "Sie sitzen so stumm und sinnend da, starren mich an und scheinen ganz zu vergessen, was ich fragte. Oder ist es zu schrecklich, als daß ich es hören sollte? Darf ich nicht erfahren, was die Stadt über mein Unglück sagt?"

"Was wollen Sie alle die törichten Vermutungen hören, die müßige Menschen erfinden und weitersagen? Ich habe eben darüber nachgedacht, wie rein sich Ihre Seele auf Ihren Zügen spiegle; Sie haben ,maden in sich — was kümmert Sie das Urteil der Menschen?"

"Sie weichen mir aus," entgegnete sie, "Sie wollen mir entschlüpfen, indem Sie mir schöne Dinge sagen. Und mich sollte das Urteil der Menschen nicht kümmern? Welches rechtliche Mädchen darf sich so über die Gesellschaft, in welcher sie lebt, hinwegsetzen, daß es ihr gleich gilt, was man von ihr spricht? Oder glauben Sie etwa," setzte sie ernster hinzu, "ich werde nichts darnach fragen, weil ich einem Stand angehöre, dem man nicht viel Gutes zutraut? Gestehen Sie nur, Sie halten mich für recht leichtsinnig."

"Nein, gewiß nicht; ich habe immer nur Schönes von Ihnen



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gehört, Mademoiselle Fiametti, von Ihrem stillen, eingezogenen Leben, und daß Sie mit so sicherer Haltung in der Welt stehen, obgleich Sie so einsam und mancher Kabale ausgesetzt sind. Aber warum wollen Sie gerade wissen, was die Menschen sagen? Wenn ich nun als Arzt solche Neuigkeiten nicht für zuträglich hielt?"

"Bitte, Doktor, bitte, foltern Sie mich nicht so lange," rief sie: "sehen Sie, ich lese in Ihren Augen, daß man nicht gut von mir spricht. Warum mich in Ungewißheit lassen, die gefährlicher für die Ruhe ist als die Wahrheit selbst?"

Diesen letzten Grund fand der Medizinalrat sehr richtig; und konnte in seiner Abwesenheit nicht irgend eine geschwätzige Frau sich eindrängen und noch ärgeres berichten, als er sagen konnte? "Sie kennen die hiesigen Leute," antwortete er; "B. ist zwar ziemlich groß, aber, du lieber Gott, bei einer Neuigkeit der Art zeigt es sich, wie kleinstädtisch man ist. Es ist wahr, Sie sind das Gespräch der Stadt, dies kann Sie nicht wundern, und weil man nichts Bestimmtes weiß, so — nun, so macht man sich allerhand seltsame Geschichten. So soll z. B. die männliche Maske, die man auf der Redoute mit Ihnen sprechen sah und die ohne Zweifel dieselbe ist, welche diese Tat beging , ein —

"Nun, so reden Sie doch aus," bat die Sängerin in großer Spannung, "vollenden Sie!"

"ES soll ein früherer Liebhaber gewesen sein, der Sie in — in einer andern Stadt geliebt hat und aus Eifersucht Sie umbringen wollte."

"Von mir das! O, ich Unglückliche!" rief sie schmerzlich bewegt , und Tränen glänzten in ihren schönen Augen; "wie hart sind doch die Menschen gegen ein so armes, armes Mädchen, das ohne Schutz und Hilfe ist! Aber reden Sie aus, Doktor, ich beschwöre Sie! Es ist noch etwas anderes zurück, das Sie mir nicht sagten. In welcher Stadt, sagen die Leute, soll ich —

"Signora, ich hätte Ihnen mehr Kraft zugetraut," sprach Lange, besorgt über die Bewegung seiner Kranken. "Wahrlich, ich bereue es, nur so viel gesagt zu haben; ich hätte es nie getan, wenn ich nicht fürchtete, daß andere mir unberufen zuvorkämen."

Die Sängerin trocknete schnell ihre Tränen. "Ich will ruhig sein," sagte sie wehmütig lächelnd, "ruhig will ich sein wie ein Kind: ich will fröhlich sein, als hätten mir diese Menschen, die mich jetzt verdammen, ein tausendstimmiges Bravo zugerufen. Nur erzählen Sie weiter, lieber, guter Doktor!

"Nun, die Leute schwatzen dummes Zeug," fuhr jener ärgerlich fort. "So soll, als Sie letzthin im Othello auftraten, in einer der ersten Ranglogen ein fremder Graf gewesen sein; dieser will



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Sie erkannt und vor zwei Jahren in Paris in einem schlechten Hause gesehen haben. —Aber, mein Gott, Sie werden immer blasser —"

"Es ist nichts, der Schein der Lampe fiel nur etwas matter herüber; weiter, weiter!"

"Nun, dieses Gerede blieb von Anfang nur in den ersten Zirkeln: nach und nach kam es aber ins Publikum, und da dieser Vorfall hinzukommt , verbindet man beides und versetzt das frühere Verhältnis zu Ihrem Mörder in jenes berüchtigte Haus in Paris."

Auf den ausdrucksvollen Zügen der Kranken hatte während dieser Rede die tiefste Blässe mit flammender Röte gewechselt. Sie hatte sich höher aufgerichtet, als solle ihr kein Wort dieser schrecklichen Kunde entgehen; ihr Auge haftete starr und brennend auf dem Mund des Arztes, sie atmete kaum, ihr Herz schien stillzustehen. "Jetzt ist's aus," rief sie mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel, indem Tränen ihrem Auge entstürzten, "jetzt ist es aus; wenn er dies hörte, so war es zu viel für seine Eifersucht. Warum bin ich nicht gestern gestorben! Ach, da hätte ich meinen guten Vater gehabt, und meine füße Mutter hätte mich getröstet über den Hohn dieser grausamen Menschen!"

Der Doktor staunte über diese rätselhaften Worte; er wollte eben ein tröstendes, besänftigendes Wort zu ihr sprechen, als die Türe mit Geräusch aufflog und ein großer junger Mann hereinfuhr. Sein Gesicht war auffallend schön, aber ein wilder Trotz verfinsterte seine Züge, sein Auge rollte, sein Haar hing verwildert um die Stirne. Er hatte ein großes, zusammengerolltes Notenblatt in der Faust, mit welchem er in der Luft herumfuhr und gleichsam agierte, ehe er Atem zum Sprechen fand. Bei seinem Anblick schrie die Sängerin laut auf, der Doktor glaubte anfangs, aus Angst, aber es war Freude; denn ein holdes Lächeln zog um ihren Mund, ihr Auge glänzte ihm durch Tränen entgegen. "Carlo!" rief sie, "Carlo! Endlich kommst du, nach mir zu sehen!"

"Elende!" rief der junge Mann, indem er majestätisch den Arm mit der langen Notenrolle nach ihr ausstreckte. "Laß ab von deinem Sirenengesang, ich komme — dich zu richten!"

"O Carlo! Wie kannst du so zu deiner Giuseppa sprechen!" unterbrach ihn die Sängerin, und ihre Töne klangen schmelzend und süß wie die Klänge der Flöte.

Der junge Mann wollte mit tragischem Pathos antworten; aber der Doktor, dem dieser Auftritt für seine Kranke zu angreifend schien, warf sich dazwischen. "Wertester Herr Carlo," sagte er, indem er ihm eine Prise bot, "belieben Sie zu bedenken, daß Mademoiselle in einem Zustand ist, wo solche Szenen allzusehr ihre schwachen Nerven affizieren!"



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Jener schaute ihn groß an und wandte die Rotenrolle gegen ihn: "Wer bist du, Erdenwurm?" rief er mit tiefer, dröhnender Stimme. "Wer bist du, daß du dich zwischen mich stellst und meinen Zorn?"

"Ich bin der Medizinalrat Lange," entgegnete dieser und schlug die Dose zu, "und in meinen Titeln befindet sich nichts von einem Erdenwurme. Ich bin hier Herr und Meister, so lange Signora krank ist, und ich sage Ihnen im guten, packen Sie sich hinaus, oder modulieren Sie Ihr Presto assai zu einem anständigen Larghetto !"

"O, lassen Sie ihn doch, Doktor," rief die Kranke ängstlich, "lassen Sie ihn doch, bringen Sie ihn nicht auf! Er ist mein Freund; Carlo wird mir nichts Böse:, tun, was ihm auch die schlechten Menschen wieder von mir gesagt haben."

"Ha! Du wagst es noch zu spotten! Aber wisse, ein Blitzstrahl hat die Tore deines Geheimnisses gesprengt und hat die Nacht erhellt , in welcher ich wandelte. Also darum sollte ich nicht wissen, was du warst, woher du kamst? Darum verschlossest du mir den Mund mit deinen Küssen, wenn ich nach deinem Leben fragte? Ich Tor! Daß ich von einer Weiberstimme mich bezaubern ließ und nicht bedachte, daß sie nur Trug und Lug ist! Nur im Gesang des Mannes wohnt Kraft und Wahrheit. Siel! Wie konnte ich mich von den Rouladen einer Dirne betören lassen!"

"O Carlo," flüsterte die Kranke, " wenn du wüßtest, wie deine Worte mein Herz verwunden, wie dein schrecklicher Verdacht noch tiefer dringt als der Stahl des Mörders!"

"Nicht wahr, Täubchen," schrie jener mit schrecklichem Lachen, deine Amorosi sollten blind sein, da wäre gut mit ihnen spielen? Der Pariser muß doch ein wackerer Kerl sein, daß er endlich doch noch das fromme Täubchen fand!

"Jetzt aber wird es mir doch zu bunt, Herr," rief der Doktor und packte den Rasenden am Rock; "auf der Stelle marschier' Er sich zu dem Zimmer hinaus, sonst werde ich die Hausleute rufen, daß sie Ihn expedieren!

"Ich gehe schon, Erdenwurm, ich gehe," schrie jener und stieß den Medizinalrat zurück, daß er ganz bequem in einen Fauteuil niedersaß; "ja, ich gehe, Giuseppa, um nimmer wiederzukehren. Lebe wohl oder stirb lieber, Unglückliche, verbirg deine Schmach unter der Erde! Aber jenseits verbirg deine Seele an einen Ort, wo ich dir nie begegnen möge: ich würde der Seligkeit fluchen, wenn ich sie mit dir teilte, weil du mich hier so schändlich um meine Liebe, um mein Leben betrogen." Er rief es, indem er noch etwas weniges mit den Noten agierte; aber sein wildes, rollendes Auge



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schmolz in Tränen, als er den letzten Blick auf die Geliebte warf, und schluchzend rannte er aus dem Zimmer.

"Ihm nach, halten Sie ihn auf," rief die Sängerin, "führen Sie ihn zurück, es gilt meine Seligkeit!

"Mitnichten, Wertgeschätzte," entgegnete Doktor Lange, indem er sich aus seinem Lehnstuhl aufrichtete; "diese Szene darf nicht fortgespielt werden. Ich will Ihnen etwas Niederschlagendes aufschreiben, das Sie, alle Stunden zwei Eßlöffel voll, einnehmen werden."

Die Unglückliche war in ihre Kissen zurückgesunken, ihre Kräfte waren erschöpft; sie verlor das Bewußtsein von neuem.

Der Doktor rief das Mädchen und suchte mit ihrer Hilfe die Kranke wieder ins Leben zurückzubringen, doch konnte er sich nicht enthalten, während er die Essenzen einflößte, das Mädchen tüchtig auszuschmälen. "Habe ich nicht befohlen, man solle niemand, gar niemand hereinlassen, und jetzt läßt man diesen Wahnsinnigen zu, der Ihr armes Fräulein beinahe zum zweitenmal ums Leben brachte!"

"Ich habe gewiß sonst niemand hereingelassen," sprach die Zofe weinend: "aber ihn konnte ich doch nicht abweisen; sie schickte mich ja schon heute dreimal in sein Haus, um ihn zu beschwören, nur auf einen kleinen Augenblick zu kommen; ich mußte ja sogar sagen, sie sterbe und wolle ihn vor ihrem Tode nur noch ein einziges Mal sehen!"

"So? Und wer ist denn dieser —"

Die Kranke schlug die Augen auf. Sie sah bald den Doktor, bald das Mädchen an; ihre Blicke irrten suchend durchs Zimmer. Er ist fort, er ist auf ewig hin," flüsterte sie; "ach, lieber Doktor, gehen Sie zu Bolnau!"

"Aber, mein Gott, was wollen Sie nur von meinem unglücklichen Kommerzienrat? Er hat sich über Ihre Geschichte schon genug alteriert, daß er zu Bette liegen muß; was kann denn er Ihnen helfen?"

"Ach, ich habe mich versprochen," erwiderte sie, "zu dem fremden Kapellmeister sollen Sie gehen; er heißt Bolani und logiert im Hotel de Portugal."

"Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben," sprach der Doktor, aber was soll ich bei diesem tun?"

"Sagen Sie ihm, ich wolle ihm alles sagen, er soll nur noch einmal kommen —doch nein. ich kann es ihm nicht selbst sagen; Doktor, wenn Sie ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich will Ihnen alles sagen, uns Daun sagen Sie es wieder dem Unglücklichen, nicht wahr?"

"Ich stehe zu Befehl: was ich zu Ihrer Beruhigung tun kann, werde ich mit Freuden tun."



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"Nun, so kommen Sie morgen früh; ich kann heute nicht mehr so viel sprechen. Adieu, Herr Medizinalrat; doch noch ein Wort; Babette, gib dem Herrn Doktor sein Tuch!"

Das Mädchen schloß einen Schrank auf und reichte dem Doktor ein Tuch von gelber Seide, das einen starken, angenehmen Geruch im Zimmer verbreitete,

"Das Tuch gehört nicht mir," sprach jener, "Sie irren sich, ich führe nur Schnupftücher von Leinwand." "Unmöglich!' entgegnete das Mädchen; " wir fanden es heute nacht am Boden, ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand da als Sie."

Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll auf ihm ruhten. "Könnte nicht dieses Tuch jemand anderem entfallen sein?" fragte er mit einem festen Blick auf sie.

"Zeigen Sie her," erwiderte sie ängstlich; "daran hatte ich noch nicht gedacht." Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen verschlungenen Namenszug; sie erbleichte, sie fing an zu zittern.

"Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person, die es verloren hat," fragte Lange weiter; "es könnte zu etwas führen; darf ich es nicht mit mir nehmen? Darf ich Gebrauch davon machens"

Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm da; Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. "Es sei," sagte sie endlich; "und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und mein wundes Herz diesmal besser treffen, ich wage es; nehmen Sie Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche geben."


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