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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM GESTOHLENEN GELDBEUTEL

Einmal besaßen vier Kaufleute zusammen tausend Dinare; die waren ihr gemeinsames Gut, und sie hatten sie in einen einzigen Beute! gelegt, den sie mitnahmen, um Waren zu kaufen. Auf ihrem Wege kamen sie zu einem schönen Garten, und nachdem sie eingetreten waren, ließen sie den Beutel bei der Hüterin des Gartens, gingen weiter hinein, sahen sich dort um und vergnügten sich bei Speise und Trank. Da sagte einer von ihnen: ,Ich habe Salbe bei mir; kommt, wir wollen uns in diesem fließenden Wasser die Köpfe waschen und uns dann salben.' Ein anderer sagte: ,Wir brauchen einen Kamm.' Der dritte meinte: ,Wir wollen die Hüterin darum bitten; vielleicht hat sie einen Kamm.' Nun begab sich einer von ihnen zu der Hüterin und sagte zu ihr: ,Gib mir den Beute! heraus!' Doch sie erwiderte ihm: ,Ihr müßt entweder alle zugegen sein, oder



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deine Gefährten müssen mich beauftragen, ihn dir zu geben.' Denn die Gefährten befanden sich an einer Stätte, wo die Hüterin sie sehen und von der aus sie deren Worte hören konnte. Der Mann rief nun den anderen zu: ,Sie will mir nichts geben.' Und sie riefen zurück: ,Gib ihn ihm doch!' Als sie das hörte, gab sie ihm den Beutel; der Mann nahm ihn hin und lief rasch davon. Die anderen drei aber, denen er zu lange ausblieb, gingen zu der Hüterin hin und fragten sie: ,Warum gibst du ihm nicht den Kamm?' Sie antwortete: ,Er hat doch den Beutel von mir verlangt, und den habe ich ihm nur mit eurer Einwilligung gegeben. Jetzt ist er von hier fort und seiner Wege gegangen.' Als die Leute diese Worte aus dem Munde der Frau vernahmen, schlugen sie sich vor den Kopf, legten Hand an sie und fuhren sie an: ,Wir haben dich doch nur gebeten, ihm den Kamm zu geben!' Doch sie beteuerte: ,Er hat mir nichts von einem Kamme gesagt!' Da packten sie die Frau und schleppten sie vor den Kadi; und als sie vor ihm standen, erzählten sie ihm die Geschichte. Er machte die Hüterin für den Beutel haftbar und wies mehrere ihrer Schuldner an, für sie einzustehen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 606. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Hüterin des Gartens, nachdem der Kadi sie für den Beutel haftbar gemacht und mehrere ihrer Schuldner angewiesen hatte, für sie einzustehen, ganz verwirrt von dannen ging und nicht mehr aus noch ein wußte. Da begegnete ihr ein Knabe, der fünf Jahre alt war; und als der sie in ihrem Elend sah, sprach er zu ihr: ,Was fehlt dir, Mütterchen?' Sie gab ihm keine Antwort, da sie ihn wegen seiner Jugend zu gering schätzte. Doch er wiederholte seine



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Frage einmal und zweimal und dreimal; da erzählte sie ihm schließlich: ,Einige Leute kamen zu mir in den Garten und gaben mir einen Beutel mit tausend Dinaren in Obhut, indem sie es mir zur Bedingung machten, den Beutel nicht einem einzelnen, sondern nur allen gemeinsam wieder auszuhändigen. Darauf gingen sie in den Garten, um sich zu vergnügen und zu belustigen; doch einer von ihnen kam und sprach zu mir: ,Gib mir den Beutel!' Ich sagte: ,Deine Gefährten müssen zugegen sein.' Er antwortete mir: ,Ich habe von ihnen Erlaubnis erhalten.' Aber ich wollte ihm den Beutel nicht geben; da rief er seinen Gefährten zu: ,Sie will mir nichts geben'; und sie riefen zurück: ,Gib ihn ihm doch!' da sie nicht weit von mir waren. Ich gab ihm also den Beute!, und er nahm ihn und ging seiner Wege. Weil er jedoch seinen Gefährten zu lange ausblieb, kamen sie zu mir und fragten: ,Warum gibst du ihm nicht den Kamm ~' Ich erwiderte ihnen: .Er hat mir nichts von einem Kamm gesagt; nur von dem Beutel hat er gesprochen!' Darauf packten sie mich und schleppten mich vor den Kadi, und der hat mich für den Beutel haftbar gemacht.' Der Knabe sprach zu ihr: ,Gib mir einen Dirhem, ich will mir dafür Süßigkeiten kaufen; dann will ich dir etwas sagen, wodurch du wieder frei werden kannst.' Da gab die Hüterin ihm einen Dirhem mit den Worten: ,Was hast du zu sagen?' Und der Knabe fuhr fort: ,Geh zum Kadi zurück und sprich zu ihm: ,Es war zwischen uns vereinbart, daß ich ihnen den Beutel nur dann zurückgeben solle, wenn sie alle vier zugegen wären.' Alsbald kehrte die Gartenhüterin zum Kadi zurück und sprach zu ihm, wie ihr der Knabe geraten hatte. Als der Kadi dann die drei Leute fragte: ,War das zwischen euch und ihr vereinbarte' antworteten sie: ,Jawohl!' Und nun entschied der Kadi: ,Also holt mir euren Gefährten und nehmt dann euren Beutel in Empfang!'



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So konnte die Hüterin wohlgemut fortgehen; es geschah ihr kein Leid, und sie zog ihrer Wege.'

Als der König und die Wesire und alle anderen, die in jener Versammlung zugegen waren, die Rede des Prinzen gehört hatten, sprachen die Versammelten zu ihrem Herrscher: ,0 unser Herr und König, wahrlich, dein Sohn ist der vollkommenste Mann seiner Zeit!' Und sie riefen den Segen des Himmels auf ihn und auf den König herab. Da zog der König seinen Sohn an die Brust, küßte ihn auf die Stirn und fragte ihn, was sich zwischen ihm und der Odaliske zugetragen habe. Der Prinz schwor bei Allah dem Allmächtigen und bei Seinem edlen Propheten, daß sie es gewesen sei, die ihn verführen wollte. Und der König glaubte seinen Worten und sprach zu ihm: ,Ich gebe dir Macht über sie; so du willst, lasse sie töten, oder tu mit ihr, was du wünschest !' Darauf erwiderte der Prinz: ,Verbanne sie aus der Stadt!' Und nun lebte der Prinz mit seinem Vater zusammen herrlich und in Freuden. bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt und derdie Freundesbande zerreißt.

Dies ist das Ende dessen, was von der Geschichte von dem König, seinem Sohne, der Odaliske und den sieben Wesiren auf uns gekommen ist.


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