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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM PRINZEN UND DER GELIEBTEN DES DÄMONEN'

Ein Prinz zog einmal allein für sich aus, um sich zu ergehen; und da kam er zu einer grünen Aue, auf der Bäume waren, mit Früchten behangen, wo die Vögelein sangen, und durch die sich die Bächlein schlangen. Da ihm die Stätte gefiel, so setzte er sich dort nieder, holte einige getrocknete Früchte hervor, die er mitgenommen hatte, und begann zu essen. Doch während er so dasaß, erblickte er plötzlich eine gewaltige Rauchwolke, die sich dort bis zum Himmel emporreckte. In seiner Angst kletterte er auf einen der Bäume, um sich in den Zweigen zu verstecken. Und wie er dort oben war, sah er, daß mitten aus dem Flusse ein Dämon emporstieg, mit einer marmornen Truhe auf dem Haupte, an der sich ein Schloß befand. Der legte die Truhe auf jener Aue nieder, und nachdem er sie geöffnet hatte, stieg aus ihr eine Maid hervor, so schön wie der strahlende Sonnenball im blauen Weltenall; sie gehörte aber zum Geschlechte der Menschen. Er hieß die Maid sich vor ihn hinsetzen und betrachtete sie eine Weile; dann legte er sein Haupt auf ihren Schoß und schlief ein. Da nahm sie seinen Kopf und legte ihn auf die Truhe und begann unaherzuwandeln. Und als ihr Blick auf jenen Baum fiel und sie darin den Prinzen entdeckte, machte sie ihm ein Zeichen, er möge herunterkommen. Er weigerte sich, es zu tun; aber sie schwor, indem sie sprach: ,Wenn du nicht herabkommst und mit mir tust, was ich dir sage, so erwecke ich den Dämon aus dem Schlafe und zeige dich ihm, und er wird dich auf der Stelle umbringen.' Der Jüngling erschrak vor ihr und stieg hinab. Als er unten



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war, küßte sie ihm Hände und Füße und bat ihn verführerisch, ihr zu Willen zu sein. Er tat, was sie von ihm verlangte. Und als er ihr zu Willen gewesen war, sprach sie zu ihm: ,Gib mir den Siegelring da, den du an deiner Hand trägst!' Nachdem er ihr den Ring gegeben hatte, tat sie ihn in ein seidenes Tuch, das sie bei sich trug und in dem sich viele Ringe, wohl mehr als achtzig, befanden. Sie legte ihn zu den übrigen; da fragte der Prinz: ,Was tust du mit den Ringen, die du da hast?' Und sie gab ihm zur Antwort: ,Dieser Dämon hat mich aus dem Schlosse meines Vaters entführt und mich in diese Truhe eingeschlossen; und er trägt sie immer auf dem Kopfe, wohin er nur geht. Im Übermaße seiner Eifersucht läßt er mich kaum eine einzige Stunde allein und hindert mich so an dem, wonach ich verlange. Als ich das erkannte, habe ich einen Eid geschworen, niemandem meine Gunst zu versagen. Diese Ringe, die ich bei mir trage, entsprechen der Zahl der Männer, die mir zu Willen gewesen sind; denn jedem Manne, der bei mir gewesen ist, nehme ich den Ring ab und lege ihn in dies Tuch.' Dann fügte sie noch hinzu: ,Geh deiner Wege, damit ich mich nach einem anderen umsehen kann: denn der Dämon steht jetzt noch nicht auf!' Der Jüngling aber konnte kaum die Zeit abwarten, daß er forteilte, bis er zum Hause seines Vaters zurückkam. Nun wußte der König nichts von der Bosheit, die das Mädchen seinem Sohne angetan hatte, ohne sich zu fürchten und ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen. Wie er also hörte, daß der Siegelring seines Sohnes verloren gegangen sei, gab er Befehl, ihn hinzurichten. Dann erhob er sich von seinem Thron und begab sich in sein Schloß; doch da kamen seine Wesire zu ihm und überredeten ihn, den Todesbefehl zu widerrufen. Später aber, eines Nachts, ließ der König die Wesire zu sich kommen; und als sie alle versammelt waren, erhob



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er sich zum Gruße vor ihnen und dankte ihnen, daß sie ihm davon abgeraten hatten, seinen Sohn töten zu lassen. Und ebenso dankte ihnen der Prinz, indem er sprach: ,Es war wohlgetan von euch, daß ihr meinem Vater rietet, mich am Leben zu lassen. Ich werde es euch reichlich lohnen, so Allah der Erhabene will.' Dann erzählte er ihnen, wie er seinen Siegelring verloren hatte; und sie beteten für ihn um ein Leben von langem Bestande und wachsendem Ruhm im Lande, und verließen sein Gemach.

Erkenne also, o König - so schloß der siebente Wesir -, die Tücke der Frauen, und was sie den Männern antun !' Da widerrief der König den Befehl, seinen Sohn hinzurichten. Als aber der Morgen des achten Tages anbrach und der König sich auf den Thron gesetzt hatte, da trat sein Sohn zu ihm ein, Hand in Hand mit seinem Erzieher Sindbad, und küßte den Boden vor ihm. Und er sprach mit beredter Zunge und pries seinen Vater und seine Wesire und die Großen seines Reiches und sagte ihnen Lob und Dank. Und die Gelehrten und Emire, Krieger und Vornehmen des Volkes waren im Saale versammelt. Und alle, die zugegen waren, wunderten sich über die Beredsamkeit des Prinzen, seine Gewandtheit und die Feinheit seiner Sprache. Der Vater des Prinzen aber, der ihn angehört hatte, freute sich über alle Maßen, rief ihn zu sich und küßte ihn auf die Stirn. Dann rief er seinen Erzieher Sindbad und fragte ihn, warum sein Sohn sieben Tage lang stumm gewesen sei. Der Lehrer erwiderte: ,O Gebieter, er ist gerettet worden dadurch, daß er nicht redete! Ich war in Todesangst um ihn in diesen sieben Tagen; denn ich wußte dies alles voraus, hoher Herr, seit dem Tage seiner Geburt. Als ich sein Horoskop stellte, fand ich dies Schicksal in den Sternen geschrieben; aber jetzt ist das Schlimme von ihm abgewendet durch das Glück des Königs.'



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Des freute der König sich, und er sprach zu seinen Wesiren: ,Wenn ich meinen Sohn hätte hinrichten lassen, würde dann die Schuld auf mir lasten oder auf der Odaliske oder auf dem Meister Sindbad?' Die Anwesenden schwiegen und wußten keine Antwort; Sindbad aber, der Erzieher des Prinzen, sprach zu diesem: ,Gib du die Antwort, mein Sohn!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 603. dritte Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Prinz, als Sindbad zu ihm sagte: ,Gib du die Antwort, mein Sohn!' nunmehr anhub: ,Ich habe gehört, daß einmal ein Kaufmann, in dessen Haus ein Gast abgestiegen war, seine Sklavin fortschickte, um für ihn auf dem Markte einen Krug Sauermilch zu kaufen. Sie ließ sich die Milch in ihren Krug füllen und machte sich wieder auf den Weg, um zu dem Hause ihres Herrn zurückzukehren. Doch während sie dahinschritt, flog plötzlich eine Weihe über ihr vorbei, die eine Schlange in den Krallen hielt und fest zusammenpreßte; da fiel ein Tropfen von dem Gifte der Schlange in den Krug, ohne daß die Sklavin es merkte. Als sie dann zu Hause ankam, nahm ihr Herr die Milch hin und trank davon mit seinen Gästen; kaum aber war die Milch in ihren Magen gelangt, da starben sie alle. Nun bedenke, o König, wer an diesem Unfall schuld war!' Einer von den Anwensenden sagte: ,Es war die eigene Schuld der Leute, die von der Milch tranken.' Ein anderer sagte: ,Es war die Schuld der Sklavin, die den Krug offen, ohne Deckel, ließ.' Da fragte Sindbad, der Erzieher des Jünglings: ,Was sagst du dazu, mein Sohne' Und der Prinz erwiderte: ,Ich sage, daß die Leute irren. Es war weder die Schuld der Sklavin noch die der Gesellschaft; sondern die Lebenszeit jener Männer war abgelaufen mit ihrem von Gott gegebenen



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Unterhalt, und es war vorherbestimmt, daß sie auf diese Weise sterben sollten.' Als die Anwesenden das hörten, waren sie darüber aufs höchste erstaunt, und sie erhoben ihre Stimmen zum Gebet für den Prinzen und sprachen zu ihm: ,O Herr, du hast eine Antwort gegeben, die nicht ihresgleichen hat, und du bist jetzt der weiseste Mann deiner Zeit!' Wie der Prinz das vernahm, sprach er zu ihnen: ,Ich bin kein Weiser; der blinde Scheich und das Kind von drei Jahren und das Kind von fünf Jahren waren weiser als ich.' Da baten ihn die Anwesenden: ,Erzähle uns die Geschichten von diesen drei, die klüger waren als du, o Jüngling!' Und nun erzählte der Prinz: ,Mir ist berichtet worden


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