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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DER ALTEN FRAU UND DEM KAUFMANNS SOHNE

Einst hatte ein reicher Kaufmann einen Sohn, der ihm lieb war. Zu dem sprach eines Tages sein Sohn: ,Lieber Vater, ich habe eine Bitte an dich; willst du sie mir gewähren?' ,Was ist das, mein Sohn,' antwortete der Vater, ,ich will es dir geben; auch wenn es das Licht meiner Augen wäre, dir würde ich deinen Wunsch erfüllen.' Da fuhr der Sohn fort: ,Ich bitte dich, gib mir Geld, auf daß ich dafür mit den Kaufleuten nach der Stadt Baghdad reisen kann, um sie mir anzuschauen und dort die Schlösser der Kalifen zu sehen. Die Söhne der Kaufleute haben mir davon erzählt, und jetzt sehne ich mich danach, sie selbst zu sehen.' Doch der Vater rief: ,Mein lieber Sohn. wer kann es ertragen, sich von dir zu trennen?' Darauf erwiderte der Sohn: ,Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe; und ich muß dorthin reisen, sei es mit deinem Willen oder gegen ihn. Mich erfüllt ein heftiges Verlangen danach, das nur gestillt werden kann, wenn ich wirklich dorthin komme.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 590. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Sohn des Kaufmannes



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zu seinem Vater sprach: ,Ich kann nicht anders, ich muß nach Baghdad reisen.' Als nun der Vater ihn so entschlossen sah, rüstete er ihm Waren im Werte von dreißigtausend Dinaren und entsandte ihn mit Kaufleuten, denen er vertraute, nachdem er ihn ihrem Schutze empfohlen hatte. Dann nahm der Vater Abschied von ihm und kehrte in sein Haus zurück. Der Sohn aber zog mit seinen Gefährten, den Kaufleuten, immer weiter dahin, bis sie Baghdad, die Stätte des Friedens, erreichten. Nachdem sie dort angekommen waren, begab sich der Sohn auf den Basar und mietete sich ein schönes und ansehnliches Haus, das seinen Sinn berückte und jeden Beschauer entzückte; darinnen zwitscherten die Vögel, und die Gemächer lagen einander gegenüber, auch war der Boden überall mit farbigem Marmor belegt, und die Decken waren vergoldet und mit Lapislazuli verziert. Er fragte den Türhüter, wie hoch der Mietzins im Monate sei, und als der ihm antwortete: ,Zehn Dinare', fragte er ihn: ,Sprichst du die Wahrheit, oder scherzest du mit mir?' ,Bei Allah.' erwiderte der Türhüter, ,ich sage nur die reine Wahrheit; doch jeder, der in diesem Hause wohnt, bleibt nur eine Woche oder zwei Wochen darin.' ,Woher kommt das?' fragte der Jüngling weiter; und der Türhüter gab ihm zur Antwort: ,Mein Sohn, wer in diesem Hause wohnt, verläßt es nur krank oder tot. Deshalb ist dies Haus bei allen Leuten bekannt, und niemand will darin wohnen; und daher ist sein Mietzins so niedrig.' Als der Jüngling das hörte, war er aufs höchste erstaunt. Und er sprach bei sich: ,Sicherlich ist in diesem Gebäude irgendeine Ursache dafür vorhanden, daß Krankheit und Tod so in ihm hausen.' Er dachte noch eine Weile nach, aber dann, nachdem er seine Zuflucht zu Allah genommen hatte gegen den verfluchten Satan, verscheuchte er jene Bedenken aus seinem Sinne, mietete das



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Haus und begann mit Verkauf und Kauf. So vergingen einige Tage, während er in dem Hause lebte, ohne daß ihm etwas von dem zustieß, was der Türhüter gesagt hatte. Eines Tages aber, wie er an seiner Haustür saß, da kam des Wegs ein altes, grauhaariges Weib, gleich einer Schlange mit fleckigem Leib; die pries und heiligte Allah unablässig und räumte die Steine und anderen Hindernisse aus dem Wege. Als sie den Jüngling an der Tür sitzen sah, blickte sie ihn voll Verwunderung an. Da fragte er sie: ,Frau, kennst du mich, oder verwechselst du mich mit einem anderen?' Kaum hatte sie diese Worte aus seinem Munde vernommen, so humpelte sie rasch auf ihn zu, begrüßte ihn und sprach zu ihm: ,Wie lange wohnst du schon in diesem Hause?' ,Zwei Monate, meine Mutter', erwiderte er; und sie fuhr fort: ,Darüber wundere ich mich. Ich kenne dich nicht, mein Sohn. und du kennst mich nicht; und ich verwechsle dich auch nicht mit einem anderen. Doch ich wundere mich über dich; denn jeder andere, der dies Haus bewohnt, verläßt es nur krank oder tot. Ohne Zweifel, mein Sohn, hast du deine jugend gefährdet. Bist du noch nicht in den Söller hinaufgestiegen und hast du noch nicht von der Terrasse Ausschau gehalten, die dort oben ist?' Mit diesen Worten ging die Alte ihrer Wege; und als sie fort war, begann der Jüngling über ihre Worte nachzudenken, indem er sich sagte: ,Ich bin wirklich noch nicht auf den Söller des Hauses gestiegen und kenne die Terrasse dort noch nicht.' Und er ging sofort ins Haus hinein und begann in allen Ecken umherzusuchen, bis er in einem Winkel eine kleine Tür fand, die von einem Pfosten zum anderen mit einem Spinnengewebe bedeckt war. Er sagte sich zwar: ,Vielleicht hat die Spinne ihr Netz nur deshalb über diese Tür gezogen, weil das Schicksal hinter ihr lauert.' Aber er hielt sich an den Spruch Allahs des Erhabenen: ,Sprich, uns soll nichts



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widerfahren als das, was Allah für uns geschrieben hat", und öffnete jene Tür. Dann stieg er eine kleine Treppe hinauf, bis er auf den Söller kam; dort sah er eine Terrasse und setzte sich nieder, um sich auszuruhen und umherzuschauen. Da erblickte er ein schönes und wohlgepflegtes Haus, auf dessen Dache sich eine hohe Terrasse befand, die ganz Baghdad überschaute; und auf jener Terrasse war eine Frau, so schön wie eine Paradies jungfrau, die alle Fasern seines Herzens entzückte, ihm Sinn und Verstand berückte und ihn mit Hiobs Qual und Jakobs Trauer bedrückte. Als der Jüngling sie erblickt hatte und näher anschaute, da sagte er sich: ,Vielleicht ist es um dieser Frau willen, daß die Leute sagen, ein jeder, der in diesem Hause wohne, müsse sterben oder werde krank. Wüßte ich doch. wie ich gerettet werden kann! Mein Verstand ist schon dahin.' Darauf stieg er von dem Söller des Hauses hinab, indem er über sein Schicksal grübelte, und setzte sich in dem Hause nieder. Doch weil er keine Ruhe fand, ging er hinaus und setzte sich vor die Tür; da kam plötzlich wieder die Alte des Weges, die dahinschritt, indem sie Allah anrief und pries. Wie der Jüngling sie erblickte, erhob er sich, bot ihr Gruß und Segenswunsch und sprach zu ihr: ,Mütterchen, ich war wohl und gesund, bis du mir rietest, die Tür zu öffnen. Ja, ich habe die Terrasse gesehen! Ich habe die Tür geöffnet, und ich habe von oben ausgeschaut; da habe ich erblickt, was mir den Sinn betört hat. Jetzt dünkt mich, ich bin verloren; und ich weiß, daß es keinen Arzt für mich gibt außer dir.' Als sie das hörte, lächelte sie und sprach zu ihm: ,Dir soll nichts Arges widerfahren, so Allah der Erhabene will!' Nachdem sie so gesprochen hatte, erhob er sich, ging in das Haus hinein, und als er wieder zu der Alten hinaustrat, hatte er hundert Dinare in seinem Ärmel. Dann



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sprach er zu ihr: ,Nimm das, Mütterchen, und handle an mir, wie die Herren an den Sklaven handeln. Hilf mir schnell zum Ziele! Wenn ich sterbe, so wird mein Blut von dir verlangt am Jüngsten Tage.' ,Herzlich gern,' erwiderte die Alte; ,ich begehre nur, daß du mir eine kleine Hilfe leihest, durch die du zum Ziele gelangen kannst.' ,Was wünschest du von mir, Mütterchen?' fragte er; und sie erwiderte: ,Ich wünsche von dir nur die Hilfe, daß du zum Seidenbasar gehest und nach dem Laden des Abu el-Fath ibn Kaidâm fragest. Wenn man ihn dir gezeigt hat, so setze dich zu ihm in den Laden, begrüße ihn und sprich: ,Gib mir den Schleier, den du hast, den, der mit Gold durchwirkt ist!' Denn er hat keinen schöneren in seinem Laden. Kaufe ihn, mein Sohn, zum höchsten Preise und bewahre ihn bei dir auf, bis ich morgen, so Allah der Erhabene will, wieder zu dir komme!' Mit diesen Worten ging die Alte davon; der Jüngling aber verbrachte jene Nacht wie auf Kohlen aus Tamariskenholz. Als es Morgen ward, tat er tausend Dinare in seine Tasche und ging damit zum Seidenbasar; dort fragte er nach dem Laden des Abuel-Fath, und einer der Kaufleute zeigte ihm den. Wie er nun hinkam, sah er bei dem Kaufherrn Sklaven und Eunuchen und Diener; denn er war ein Mann von Ansehen und großem Reichtum. Sein höchstes Gut aber war jene Frau, derengleichen nicht einmal bei den Söhnen der Könige zu finden war. Der Jüngling blickte nun den Kaufmann an und grüßte ihn, und der erwiderte seinen Gruß; dann bat er ihn, sich zu setzen, und der Jüngling tat es und hub an: ,O Kaufherr, ich bitte dich, laß mich denundden Schleier ansehen!' Da befahl der Kaufmann dem Sklaven, ein Bündel Seide aus dem inneren Laden zu holen; und als der es gebracht hatte, machte Abu el-Fath es auf und nahm eine Anzahl von Schleiern daraus hervor. Der Jüngling war sprachlos vor Bewunderung



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ihrer Schönheit, und als er auch den gesuchten Schleier unter ihnen gewahrte, erwarb er ihn von dem Kaufmann um fünfzig Dinare und trug ihn erfreut nach Hause. — -«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 600. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der jüngling, nachdem er den Schleier von dem Kaufmann erworben hatte, ihn hinnahm und alsbald nach Hause trug. Da kam auch schon die Alte wieder; und als er sie erblickte, ging er ihr entgegen und gab ihr den Schleier. Nun sprach sie zu ihm: ,Hole mir eine glühende Kohle!' Als der jüngling das getan hatte, brachte sie eine Ecke des Schleiers der Kohle nah und verbrannte sie: dann faltete sie ihn wieder zusammen, wie er gewesen war, nahm ihn und begab sich damit zum Hause des Abu el-Fath. Wie sie dort ankam, pochte sie an die Tür; die Frau hörte ihr Klopfen und ging hin, um ihr zu öffnen. Jene Alte aber war mit der Mutter der Frau befreundet gewesen, und diese kannte sie daher als die Freundin ihrer eigenen Mutter. So sprach sie denn zu ihr: ,Was wünschest du. Mütterchen? Meine Mutter ist von hier zu ihrer eigenen Wohnung gegangen.' ,Meine Tochter,' erwiderte die Alte, ,ich weiß, daß deine Mutter nicht bei dir ist; ich bin schon bei ihr in ihrem Hause gewesen. Ich bin nur deshalb zu dir gekommen, weil ich fürchtete, ich könnte die Zeit des Gebetes versäumen; so will ich denn bei dir die Waschung vollziehen, da ich weiß, daß du auf Sauberkeit hältst und daß dein Haus rein ist.' Die Frau bat sie, ins Haus einzutreten; und als die Alte das getan hatte, sprach sie den Gruß und flehte den Segen des Himmels auf die Frau herab. Dann nahm sie die Wasserkanne, ging in den Waschraum, vollzog die Waschung und betete in einem Winkel. Danach aber ging sie zu jener



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Frau und sprach zu ihr: ,Meine Tochter, ich vermute, die Diener sind über die Stelle gegangen, an der ich gebetet habe; sie könnte dadurch unrein geworden sein. Willst du mir nicht eine andere Stelle zeigen, an der ich beten kann; denn das Gebet, das ich verrichtet habe, rechne ich als vergeblich.' Danahm die Frau sie bei der Hand und sprach zu ihr: ,Mütterchen, komm, bete auf meinem Teppich, auf dem sonst mein Gatte zu sitzen pflegt!' Und nachdem sie die Alte auf jenen Teppich geführt hatte, sprach diese innige Gebete im Stehen und im Knien. Dabei erhaschte sie einen Augenblick, in dem die Frau nicht auf sie achtete, und schob den Schleier unter das Kissen, ohne daß jene es sah. Nachdem sie ihr Gebet beendet hatte, wünschte sie der Frau den Segen des Himmels, machte sich auf und verließ das Haus. Doch als der Tag zur Rüste ging, kam der Kaufmann, ihr Gatte. nach Haus und setzte sich auf den Teppich. Sie brachte ihm Speise, und er aß, bis er gesättigt war, und wusch sich die Hände. Als er sich dann aber auf das Kissen lehnte, sah er plötzlich den Zipfel des Schleiers unter ihm hervorragen. Sofort zog er ihn heraus; und kaum hatte er ihn erblickt, so erkannte er ihn. Da stiegen Zweifel an der Treue seiner Frau in ihm auf; und er rief sie und sprach zu ihr: ,Woher hast du diesen Schleier?' Da schwor sie ihm hoch und teuer: ,Niemand ist zu mir gekommen als du allein!' Der Kaufmann schwieg aus Furcht vor dem öffentlichen Ärgernis und sagte sich: ,Wenn ich dies Blatt aufschlage, so stehe ich vor ganz Baghdad am Pranger.' Jener Kaufmann war nämlich ein Vertrauter des Kalifen, und so konnte er nichts Besseres tun als schweigen. Deshalb sprach er zu seiner Frau, die Mahzîja geheißen war, kein Wort mehr darüber; sondern er rief sie und sagte ihr: ,Mir ist berichtet worden, daß deine Mutter kranken Herzens danieder liegt, und daß alle Frauen bei ihr sind und



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um sie weinen; drum gebiete ich dir, geh du auch zu ihr hin!' Da ging die Frau zu ihrer Mutter; doch als sie ins Haus gekommen war, fand sie die Mutter bei bester Gesundheit. Sie setzte sich nun eine Weile zu ihr; da aber kamen plötzlich Träger zu ihr, die ihre Kleider aus dem Hause des Kaufmannes brachten und alles herbeischafften, was ihr in dem Hause gehörte. Bei diesem Anblicke fragte ihre Mutter: ,Tochter, was ist mit dir geschehen ?'Jene versicherte ihr, sie wisse es nicht; und nun begann die Mutter zu weinen und trauern, weil ihre Tochter von einem solchen Manne getrennt war. Nach einer Reihe von Tagen aber begab sich die Alte zu der jungen Frau in jenes Haus, begrüßte sie inniglich und sprach zu ihr: ,Was fehlt dir, meine Tochter, mein Liebling? Du hast mir die Seele betrübt.' Dann ging sie zu der Mutter der jungen Frau und fragte sie: ,Schwester, was gibt es? Was ist das mit deiner Tochter und ihrem Manne? Mir ist zu Ohren gekommen, daß er sich von ihr geschieden hat; was hat sie denn verbrochen, daß sie all dies verdient?' Die Mutter der Frau gab ihr zur Antwort: ,Vielleicht wird durch deinen Segen ihr Gatte wieder zu ihr zurückkehren. Bete für sie, meine Schwester, denn du fastest und verbringst die ganze Nacht im Gebet.' Darauf begannen die Frau, ihre Mutter und die Alte dort im Hause miteinander zu plaudern; und die Alte sagte: ,Meine Tochter, sei nicht traurig! So Allah der Erhabene will, werde ich dich noch in diesen Tagen wieder mit deinem Gatten vereinen!' Dann ging sie zu dem Jüngling und sprach zu ihm: ,Rüste uns ein schönes Mahl! Heute abend will ich sie zu dir bringen!' Alsbald erhob sich der Jüngling und rüstete alles, was sie an Speise und Trank nötig hatten: und dann setzte er sich nieder, um die beiden zu erwarten.' Derweilen ging die Alte zu der Mutter der jungen Frau und sprach zu ihr: ,Schwester, bei uns ist heute ein Hochzeitsfest;



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laß deine Tochter mit mir gehen, damit sie sich dort vergnüge und allen Harm und Gram vergesse. Hernach will ich sie dir wiederbringen, wie ich sie von dir in Empfang genommen habe.' Da kleidete die Mutter ihre Tochter in die prächtigsten Gewänder, legte ihr die schönsten Schmucksachen und Kleinodien an und begleitete sie und die Alte bis zur Tür. Dann bat sie die Alte inständig mit den Worten: ,Gib acht, daß keins der Geschöpfe Allahs des Erhabenen sie erblicke! Du kennst ja das Ansehen ihres Gatten bei dem Kaufen. Verweile auch nicht zulange, sondern kehre so schnell wie möglich mit ihr zurück!' Die Alte aber führte die Frau, bis sie mit ihr zum Hause des Jünglings kam; und die junge Frau dachte, daß dies das Hochzeitshaus wäre. Nachdem sie dort eingetreten und in den Saal gekommen waren - —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 601. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die junge Frau kaum das Haus betreten hatte und in den Saal gekommen war, als der Jüngling ihr schon entgegensprang und sie umarmte und ihr Hände und Füße küßte. Sie ward von der Schönheit des Jünglings bezaubert, und sie vermeinte, daß sie jene Stätte und alles, was darinnen war, Blumen und Speise und Trank, nur im Traum erblickte. Wie aber die Alte ihre Verwirrung sah, sprach sie zu ihr: ,Allahs Name schütze dich, meine Tochter! Fürchte dich nicht; ich will hier sitzen bleiben und dich keinen Augenblick verlassen! Du bist seiner wert, und er ist deiner würdig.' Da setzte die Frau sich scheu und schüchtern nieder; aber der Jüngling scherzte unablässig mit ihr, lächelte ihr zu und unterhielt sie mit Versen und Geschichten, bis ihre Brust sich weitete und ihr wohl zumute ward. Nun begann sie zu essen und zu trinken,



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und als sie vom Weine fröhlich war, griff sie zur Laute und sang, bis die Schönheit des Jünglings sie zu herzlicher Neigung zwang. Wie jener das bemerkte, ward er trunken ohne Wein, und sein Leben galt ihm als ein leichtes Ding. Darauf ging die Alte von ihnen fort; am nächsten Tage in der Frühe kam sie wieder zu ihnen, wünschte den beiden einen guten Morgen und sprach zu der jungen Frau: ,Wie hast du die Nacht verbracht, meine Herrin?' ,Herrlich,' erwiderte sie, ,dank deiner Hilfe und deiner trefflichen Vermittlung.' Dann fuhr die Alte fort: ,Auf, laß uns zu deiner Mutter gehen!' Als der Jüngling dies Wort aus dem Munde der Alten vernahm, holte er für sie hundert Dinare und sprach zu ihr: ,Laß sie noch diese Nacht bei mir!' Da ging die Alte fort, begab sich zur Mutter der Frau und sprach zu ihr: ,Deine Tochter läßt dich grüßen. Die Brautmutter hat sie beschworen, noch diese Nacht bei ihr zu bleiben.' Jene erwiderte ihr: ,Meine Schwester, grüße sie beide! Wenn meine Tochter sich dort vergnügt, so mag sie ruhig dort bleiben, um guter Dinge zu sein, und sie mag kommen, wie es ihr behagt. Ich bin nur darum besorgt, daß der Zorn ihres Gatten ihr Kummer mache.' Nun ersann die Alte eine List nach der anderen für die Mutter der jungen Frau, bis sieben Tage verstrichen waren; und jeden Tag erhielt sie von dem Jüngling hundert Dinare. Doch als diese Tage vergangen waren, sprach die Mutter der Frau zu der Alten: ,Jetzt bring mir meine Tochter auf der Stelle zurück! Mein Herz ist besorgt um sie; denn sie ist allzulange fortgeblieben, und ich beginne deshalb argwöhnisch zu werden.' Erzürnt über diese Worte eilte die Alte von dannen, begab sich zu der jungen Frau und faßte sie bei der Hand. Und die beiden verließen den Jüngling, während er vom Weine trunken auf seinem Bette lag, und gingen zur Mutter zurück. Die empfing sie mit hoher



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Freude; ja, sie war von Seligkeit überwältigt, und sie sprach zu ihr: ,Liebe Tochter, mein Herz war in Sorge um dich; und so kam es. daß ich meine Schwester durch Worte verletzte und ihr weh tat.' Da sagte die Tochter: ,Wohlan, küsse ihr Hände und Füße; denn sie ist mir wie eine Dienerin gewesen und hat alle meine Wünsche erfüllt. Wenn du nicht tust, was ich dir sage, so bin ich nicht mehr deine Tochter, und du sollst nicht mehr meine Mutter sein.' Da erhob sich die Mutter alsbald und söhnte sich mit der Alten aus.

Derweilen erwachte der Jüngling aus seiner Trunkenheit und konnte die junge Frau nicht mehr finden; dennoch freute er sich über das, was er erreicht hatte, da ihm ja sein Wunsch erfüllt war. Die Alte aber kam wiederum zu dem Jüngling und sprach zu ihm: ,Was hältst du von meinem Tun?' ,Was du getan hast, war vortrefflich, der Plan wie die Ausführung', erwiderte er. Dann fuhr sie fort: ,Jetzt komm, wir wollen wieder gutmachen, was wir verdorben haben! Wir wollen diese Frau ihrem Gatten zurückgeben; denn wir sind der Grund ihrer Trennung gewesen.' ,Wie soll ich das tun?' fragte er; und sie gab ihm zur Antwort: ,Geh in den Laden des Kaufmanns, setze dich zu ihm und begrüße ihn! Dann will ich bei dem Laden vorübergehen; sowie du mich siehst, eile aus dem Laden heraus auf mich zu, packe mich, zieh mich an den Kleidern, schmähe mich und drohe mir, indem du von mir den Schleier verlangst! Und sprich zum Kaufmann: ,Du kennst doch den Schleier, mein Herr, den ich von dir um fünfzig Dinare gekauft habe? Es begab sich, mein Gebieter, daß meine Sklavin ihn anlegte und ihn an einer Stelle in der Ecke verbrannte. Da gab meine Sklavin ihn dieser Alten, daß sie ihn zu jemandem bringe, der ihn ausbessere. Die nahm ihn und ging fort; und seit dem Tage habe ich sie nicht mehr gesehen.' ,Herzlich gern!'



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sagte der Jüngling und begab sich alsbald zum Laden jenes Kaufmannes und setzte sich eine Weile zu ihm. Da kam plötzlich die Alte an dem Laden vorüber, mit einem Rosenkranze in der Hand, den sie betend durch die Finger gleiten ließ. Als er sie erblickte, sprang er aus dem Laden hinaus, zerrte sie an den Kleidern und begann sie zu schmähen und zu schelten, während sie ihm gute Worte gab und immer wieder beteuerte: ,Mein Sohn, du hast keine Schuld!' Da versammelte sich das Volk des Basars um die beiden und rief: ,Was gibt es da?' Er antwortete: ,Ihr Leute, ich erwarb von diesem Kaufmann einen Schleier um fünfzig Dinare; den trug meine Sklavin nur eine einzige Stunde. Dann setzte sie sich hin, um ihn mit Weihrauch zu durch duften, und da flog ein Funke auf und verbrannte eine Ecke des Schleiers. Wir übergaben ihn darauf dieser Alten, daß sie ihn zu jemandem trage, der ilm ausbessere, und ihn uns dann zurückbringe. Aber seit jener Zeit haben wir sie nie wiedergesehen.' Die Alte sprach: ,Dieser Jüngling hat recht. Ja, ich habe den Schleier von ihm erhalten. Ich bin mit ihm in eines der Häuser gegangen, die ich zu besuchen pflege; und dort habe ich ihn an irgendeiner Stelle liegen lassen. Ich weiß aber nicht mehr, welche Stelle es war; und da ich eine arme Frau bin, so fürchtete ich mich vor dem Eigentümer und wagte ihm nicht mehr vor die Augen zu kommen.' All dies aber wurde geredet, während der Gatte der Frau den beiden zuhörte. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 602. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Gatte der Frau, als der Jüngling die Alte festhielt und zu ihr über den Schleier sprach, wie sie ihn gelehrt hatte, die ganze Rede von Anfang bis zu



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Ende anhörte. Und wie er nun all das vernahm, was die tückische Alte mit dem Jüngling verabredet hatte, sprang er auf und rief: ,Allah ist der Größte! Ich bitte Allah den Allmächtigen um Verzeihung wegen meiner Sünden und wegen des Verdachtes, den ich in meinem Herzen gehegt habe!' Und er pries Allah. der ihm die Wahrheit offenbart hatte. Dann wandte er sich an die Alte und sprach zu ihr: ,Kommst du auch zu uns?' Sie erwiderte: ,Mein Sohn, ich pflege zu dir und auch zu anderen Leuten zu kommen um der Almosen willen. Doch seit jenem Tage hat mir niemand etwas von dem Schleier gesagt.' ,Hast du jemanden in unserem Hause nach ihm gefragt?' forschte er darauf; und sie gab ihm zur Antwort: ,Mein Gebieter, ich bin in das Haus gegangen und habe gefragt. Aber man sagte mir, daß der Kaufmann sich von der Hausherrin geschieden habe; und da bin ich wieder umgekehrt, und bis auf den heutigen Tag habe ich niemanden mehr gefragt.' Darauf wandte sich der Kaufmann an den Jüngling und sprach zu ihm: ,Laß diese Alte ihrer Wege gehen! Der Schleier ist bei mir.' Und er holte ihn aus dem Laden hervor und übergab ihn vor allen Anwesenden dem Ausbesserer. Danach ging er zu seiner Frau, übergab ihr eine Summe Geldes und nahm sie wieder zu sich, nachdem er sie oftmals um Entschuldigung und Allah um Verzeihung gebeten hatte, ohne zu wissen, was die Alte getan hatte.

Dies ist ein Beispiel für die Tücke der Weiber, o König - so fuhr der siebente Wesir fort -, doch mir ist ferner berichtet worden, o König,


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