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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM DIENER. DER VORGAB. DIE SPRACHE DER VÖGEL ZU VERSTEHEN

Einer von den vornehmen Leuten ging einmal auf den Markt und fand dort einen Sklavenjüngling, der zum Verkaufe ausgeboten ward. Er kaufte ihn, brachte ihn in sein Haus und sprach zu seiner Frau: ,Nimm dich seiner an!' Nachdem der Diener bereits eine Weile dort gewesen war, sprach der Mann eines Tages zu seiner Frau: ,Geh morgen in den Garten, vergnüge dich, ergebe dich und sei guter Dinge!' ,Herzlich gern!' erwiderte die Frau. Wie der Diener das hörte, holte er Speisen und bereitete sie in der Nacht zu; auch holte er Wein, Zukost und Früchte. Dann begab er sich in den Garten, legte die Speisen unter den einen Baum, den Wein unter einen anderen und die Früchte und die Zukost unter einen dritten, alles auf dem Wege, den die Frau seines Herrn gehen mußte. Am nächsten Morgen befahl der Mann ihm, seine Herrin zu begleiten und alles mitzunehmen, was sie an Speise und Trank und Früchten bedurften. Die Frau trat aus dem Hause, bestieg ein Pferd und ritt mit dem Diener fort, bis sie zu jenem Garten kamen. Als sie dort eintraten, krächzte ein Rabe; der Diener rief ihm zu: ,Du hast recht!' Und als seine Herrin ihn fragte: ,Verstehst du denn, was der Rabe sagt?' erwiderte er: ,Jawohl, meine Gebieterin!' ,Was sagt er denn?' fragte sie weiter; und er antwortete ihr: ,Meine Herrin, er sagt: Unter dem Baume dort liegen Speisen; kommt her und esset davon!' Da sagte sie: ,Ich sehe, du verstehst die Sprache der Vögel.' ,Jawohl', gab er ihr zur Antwort. Dann ging die Frau zu jenem Baume und fand dort Speisen bereit liegen; davon aßen sie. Sie war aber höchlichst erstaunt und glaubte wirklich, er verstehe die Sprache der



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Vögel. Und als sie mit dem Essen fertig waren, lustwandelten sie weiter in dem Garten. Wiederum krächzte der Rabe. und der Diener rief: ,Du hast recht!' ,Was sagt er denn?' fragte seine Herrin; und er antwortete: , Meine Gebieterin, er sagt, unter jenem Baume stehe ein Krug Wassers, mit Moschus gewürzt, und alter Wein.' Sie ging mit ihm dorthin, und als sie all das fanden, was er genannt hatte, wunderte sie sich noch mehr, und der Diener stieg hoch in ihrer Achtung. Dann setzte sie sich mit ihm nieder, und beide tranken miteinander. Als sie genug getrunken hatten, schritten sie in einen anderen Teil des Gartens. Da krächzte der Rabe zum dritten Male, und der Diener rief ihm zu: ,Du hast recht!' Wiederum fragte seine Herrin: ,Was sagt nun dieser Rabe?' Der Diener gab zur Antwort: ,Er sagt, unter dem Baume dort liege Zukost mit Früchten.' Als sie darauf zu jenem Baume gingen, fanden sie alles, wie er gesagt hatte; und sie aßen von den Früchten und der Zukost. Dann gingen sie weiter im Garten umher, und als nun der Rabe zum vierten Male krächzte, nahm der Diener einen Stein und warf damit nach dem Vogel. Da fragte die Frau: ,Warum wirfst du nach ihm? Was hat er denn gesagt?' ,Meine Herrin,' antwortete er, ,er sagt etwas, das ich dir nicht wiederholen kann.' Doch sie fuhr fort: ,Sprich nur, scheue dich nicht vor mir, es steht doch nichts zwischen dir und mir!' ,Nein!' sagte er; und ,Sprich!' sagte sie, bis sie ihn schließlich beschwor. Da gestand er ihr: ,Der Rabe sagte zu mir: Tu mit deiner Herrin, wie ihr Gatte mit ihr tut.' Als sie das hörte, da lachte sie, bis sie auf den Rücken fiel; und dann sagte sie zu ihm: ,Das ist ein leichtes; darin kann ich dir nicht widersprechen.' Darauf trat sie zu einem der Bäume, breitete einen Teppich unter ihm aus und rief dem Diener zu, er solle ihren Wunsch erfüllen. Aber da rief plötzlich der Herr, der dem Diener gefolgt war



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und ihm nun zuschaute: ,Heda, Bursch, was ist deiner Herrin. daß sie dort liegt und weint?' ,Mein Gebieter,' antwortete jener, ,sie ist von einem Baume gefallen und gestorben. Nur allein Allah, der Hochgepriesene und Erhabene, hat sie dir zurückgegeben. Sie liegt dort schon eine ganze Weile, um sich auszuruhen.' Und als die Frau ihren Mann zu ihren Häupten stehen sah, erhob sie sich und tat, als sei sie krank und habe Schmerzen: und sie rief: ,Ach, mein Rücken! Ach, meine Seiten! Kommt her zu mir, meine Freunde; ich kann nicht mehr leben!' Ihr Mann war wie betäubt vor Schrecken, und er rief dem Diener zu: ,Hol das Pferd für deine Herrin und hilf ihr auf!' Nachdem sie aufgestiegen war, ergriff ihr Gatte den einen Steigbügel und der Diener den anderen; und immerfort sagte der Mann: ,Allah mache dich gesund und lasse dich genesen!'

Dies, o König - so schloß die Odaliske -, ist nur ein Beispiel von den Listen und der Tücke der Männer. Drum laß dich nicht von deinen Wesiren hindern, mir zu helfen und mein Recht zu verschaffen!' Dann weinte sie; und als der König sie weinen sah, sie, die ihm die liebste unter seinen Odalisken gewesen war, befahl er von neuem, seinen Sohn zu töten. Doch da trat der sechste Wesir zu ihm ein, küßte den Boden vor ihm und sprach zu ihm: ,Allah der Erhabene mehre des Königs Ruhm! Siehe, ich bringe dir guten Rat, und der ist, daß du in deines Sohnes Sache langsam verfahrest.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 593. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der sechste Wesir sprach: ,O König, verfahre langsam in deines Sohnes Sache! Denn die Lüge ist wie der Rauch, der vergeht, während die Wahrheit auf festem Grunde steht. Das Licht der Wahrheit



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verscheucht die Finsternis der Lüge. Wisse, die Tücke der Weiber ist groß; sagt doch auch Allah der Erhabene in seinem heiligen Buche: ,Fürwahr, eure Weiberlist ist groß!"Mir ist die Geschichte von einer Frau zu Ohren gekommen, die den Großen des Reiches einen Streich spielte wie keiner je vor ihr.' ,Und wie war das?' fragte der König. Da erzählte der sechste Wesir: ,Mir ist berichtet worden, o König,


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