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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM PRINZEN UND DER KAUFMANNSFRAU

Es war einmal ein Kaufmann von Eifersucht gequält; der hatte eine schöne und anmutige Frau, und weil er so eifersüchtig um sie besorgt war, wollte er nicht mit ihr in der Stadt leben. Darum hatte er für sie draußen vor der Stadt eine einsame Burg gebaut, fern von allen anderen Gebäuden; die hatte hohe und feste Mauern, starke Türen und kunstvolle Schlösser. Und wenn er in die Stadt gehen wollte, so verschloß er die Türen und nahm die Schlüssel mit, indem er sie sich um den Hals hängte. Eines Tages aber, als er in der Stadt war, zog der Sohn des Königs jener Stadt aus, um sich draußen zu ergehen und auf freiem Felde sich zu vergnügen. Und wie er sich nun in jener einsamen Gegend umsah und schon geraume Zeit Umschau gehalten hatte, fiel sein Blick auf jene Burg. Da sah er in ihr eine Frau von edler Gestalt, die aus einem der Fenster hinausschaute; und als er sie näher betrachtete, ward er von ihrer Schönheit und Anmut berückt, und er wollte alsbald zu ihr gelangen. Da es ihm aber nicht möglich war, so rief er einen seiner Diener und ließ sich Tintenkapsel und Papier von ihm bringen; dann schrieb er einen Brief, in dem er seine Liebesnot schilderte. Den steckte er an die Spitze eines Pfeiles und schoß ihn in die Burg hinein. Er fiel in den Garten vor der Frau nieder, als sie dort lustwandelte. Da sagte sie zu einer ihrer Dienerinnen: ,Nimm das Blatt rasch auf und reiche es mir!' —sie konnte nämlich Geschriebenes lesen. Und als sie ihn gelesen und alles verstanden hatte, was er ihr von seiner Liebe und Sehnsucht und Leidenschaft sagte, schrieb sie ihm eine Antwort auf seinen Brief und sagte ihm, daß sie von noch heißerer Liebe als er erfüllt sei. Darauf schaute sie aus einem Fenster der



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Burg nach dem Prinzen aus, und als sie ihn erblickte, warf sie ihm die Antwort zu. Dadurch ward sein Verlangen noch heftiger, und wie er die Frau am Fenster sah, ging er dorthin und rief zu ihr hinauf: ,Laß einen Faden von dir zu mir herab; ich will diesen Schlüssel daran binden, daß du ihn zu dir holen kannst!' Sie ließ also einen Faden zu ihm hinunter, und er band den Schlüssel daran. Darauf begab er sich zu seinen Wesiren und klagte ihnen seine Liebe zu jener Frau und sagte, daß er nicht ohne sie leben könne. Einer von ihnen fragte den Prinzen: ,Und was befiehlst du mir, daß ich tun soll?' Der Prinz erwiderte ihm: ,Ich wünsche, daß du mich in eine Kiste setzest und sie jenem Kaufmann zur Aufbewahrung in seiner Burg übergibst, indem du dich so stellst, als ob sie dir gehöre; dann will ich mein Begehren an jener Frau eine Reihe von Tagen stillen, und darauf sollst du die Kiste zurückholen.' ,Herzlich gern', erwiderte ihm der Wesir. Darauf begab sich der Prinz in seinen Palast und legte sich in eine Kiste, die er besaß; der Wesir aber legte das Schloß davor und brachte sie zu der Burg des Kaufmanns. Der trat zum Wesir heraus und küßte den Boden vor ihm; dann hub er an: ,Hat unser Herr, der Wesir, vielleicht einen Dienst nötig, oder hat er ein Anliegen, dessen Erfüllung in unserer Macht steht?' Der Wesir gab ihm zur Antwort: ,Ich möchte, daß du diese Kiste am sichersten Orte in deinem Hause auf bewahrst.' Da befahl der Kaufmann den Lastträgern, sie aufzuladen; und nachdem sie das getan hatten, ließ er die Kiste in seine Burg hineintragen und in einer von seinen Schatzkammern niedersetzen. Dann ging er an seine Geschäfte. Und nun begab sich die Frau alsbald zu der Kiste und öffnete sie mit dem Schlüssel, den sie bei sich hatte. Da stieg ein Jüngling heraus, so schön wie der Mond. Sobald sie ihn erblickte, legte sie ihre schönsten Gewänder an und führte ihn in das



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Wohngemach; dort blieben sie beieinander, bei Speise und Trank, sieben Tage lang. Jedesmal aber, wenn ihr Mann heimkehrte, ließ sie den Prinzen in die Kiste steigen und verschloß ihn darinnen. Eines Tages nun fragte der König nach seinem Sohne; und sofort eilte der Wesir zum Laden des Kaufmanns und erbat von ihm die Kiste.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 592. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kaufmann, als der Wesir in seinen Laden gekommen war, um die Kiste zu erbitten, zu ungewohnter Zeit eilends sich zu seiner Burg begab und an die Tür pochte. Sobald die Frau ihn hörte, führte sie den Prinzen fort und versteckte ihn in der Kiste: doch sie vergaß in der Eile, das Schloß vorzulegen. Wie nun der Kaufmann mit den Trägern in die Kammer getreten war und die Träger jene Kiste am Deckel aufheben wollten, tat sie sich auf. Sie schauten hinein, und siehe, darinnen lag der Königssohn. Auch der Kaufmann sah ihn und erkannte ihn; er ging alsbald zum Wesir hinaus und sprach zu ihm: ,Tritt ein und nimm des Königs Sohn mit dir! Keiner von uns darf Hand an ihn legen.' Der Wesir ging hinein, nahm den Prinzen in Empfang und ging mit ihm davon. Kaum waren sie fort, da jagte der Kaufmann seine Frau aus dem Hause und schwor, sich nie wieder zu vermählen.

Ferner, o König - so fuhr die Odaliske fort -, ist mir berichtet worden


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