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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM PRINZEN UND DER GHÛLA

Es ist mir berichtet worden, o König des glücklichen Geschickes und des rechtgeleiteten Blickes, daß ein König einst einen Sohn hatte, den er liebte und durch die höchste Gunst



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auszeichnete und den er vor all seinen anderen Söhnen bevorzugte. Eines Tages sprach dieser Sohn zu ihm: ,Lieber Vater, ich möchte zu Jagd und Hatz hinausziehen.' Da befahl der König, ihn auszurüsten, und gebot einem seiner Wesire, er solle mit dem Prinzen ausziehen, um ihn zu bedienen und für alles, was er auf der Reise nötig habe, zu sorgen. Jener Wesir nahm alles, was der Prinz auf seiner Fahrt benötigte, und dann brachen die beiden auf, begleitet von Eunuchen, Hauptleuten und Dienern, und ritten auf der Jagd dahin, bis sie zu einem grünen, grasreichen Gelände kamen, wo es Weiden und Wasser und viel Wild gab. Da wandte sich der Prinz an den Wesir und ließ ihn wissen, daß dieser schöne Ort ihm gefalle. Sie blieben also eine Reihe von Tagen dort, und der Prinz lebte herrlich und in Freuden. Dann gab er den Befehl zum Aufbruch; aber da sprang plötzlich eine Gazelle vor ihm auf, die sich von ihrem Rudel getrennt hatte. Dem Prinzen verlangte danach, sie zu jagen und zu erbeuten; deshalb sprach er zu dem Wesir: ,Ich will dieser Gazelle folgen.' ,Tu, was dir gut scheint!' erwiderte der Minister, und alsbald folgte der Prinz dem Wilde, ganz allein. Er ritt den lieben langen Tag über auf der Fährte dahin, bis der Abend hereinbrach; da lief die Gazelle in ein felsiges Gelände hinauf. Nun ward es dunkle Nacht um den Prinzen ringsumher, und er wollte zurückkehren, aber er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. So ritt er denn ratlos und ziellos immer weiter auf dem Rücken seines Rosses dahin, bis es Morgen ward; auch da fand er noch keinen Trost für seine Seele. Voller Angst, hungernd und dürstend, zog er weiter, ohne Aufenthalt, ohne zu wissen, wohin er ritt, bis der halbe Tag vorübergegangen war und die Glut der Sonne auf ihm brannte. Da plötzlich erblickte er eine Stadt mit ragenden Bauten, deren Säulen hoch gen Himmel schauten; aber sie war



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wüste und leer, nur Eulen und Raben flogen in ihr umher. Bei dieser Stadt hielt er an und betrachtete voll Staunen ihre Pracht: und mit einem Male fiel sein Blick auf eine schöne und liebliche Maid, die an einer der Stadtmauern saß und weinte. Er nahte ihr und fragte sie: ,Wer bist du?' Sie gab ihm zur Antwort: ,Ich heiße Bint et-Tamîma, die Tochter von et-Taijâch, dem König des Grauen Landes. Ich ging eines Tages hinaus, um einem Rufe der Natur zu folgen; da packte mich ein Dämon aus der Geisterwelt und flog mit mir zwischen Himmel und Erde dahin. Aber ein feuriger Stern fiel auf ihn herab, und er verbrannte, während ich hier auf die Erde fiel. Seit drei Tagen sitze ich hier in Hunger und Durst; doch seit ich dich gesehen, verlangt mich wieder nach dem Leben.' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 582. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Prinz, als die Tochter des Königs et-Taijâch ihn anredete und sagte: ,Seit ich dich gesehen, verlangt mich wieder nach dem Leben', von Mitleid mit ihr ergriffen wurde. So ließ er sie denn hinter sich auf seinem Rosse sitzen und sprach zu ihr: ,Hab Zuversicht und quäl dich nicht! Wenn Allah, der Hochgepriesene und Erhabene, mich in meine Heimat und zu den Meinen heimkehren läßt, so will ich dich zu den Deinen senden.' Und er ritt weiter, indem er um Rettung betete. Doch bald darauf sprach sie: ,O Königssohn, laß mich absteigen, damit ich mein Bedürfnis verrichte unter jener Mauer.' Er hielt an und ließ sie absteigen; und er wartete auf sie, während sie hinter der Mauer verborgen war. Aber als sie wieder hervorkam, sah sie wie das größte Scheusal aus. Sobald der Prinz sie erblickte, war er starr vor Entsetzen und wie von Sinnen; ihn grauste vor ihr,



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und er ward totenbleich. Jenes Wesen aber sprang auf und setzte sich hinter ihm auf das Roß, und da saß sie, eine Gestalt. so schauerlich, wie man sie nur denken kann. Und nun huh sie an: ,O Königssohn, warum sehe ich dein Gesicht so bleiche' ,Ich muß an etwas denken, das mir Sorge macht.' ,So suche Hilfe dagegen bei deines Vaters Truppen und Helden!' ,Was mir Sorge macht, das können die Truppen nicht verscheuchen; das kümmert sich nicht um die Helden.' ,So suche Hilfe dagegen durch deines Vaters Geld und Schätze!' ,Was mir Sorge macht, das gibt sich nicht mit Geld und Schätzen zufrieden.' ,Ihr sagt doch, daß ihr im Himmel einen Gott habt, der da siehet und nicht gesehen wird und der Macht über alle Dinge hat!' ,Ja, wir haben keinen als ihn.' ,So rufe ihn an, auf daß er dich von mir befreie!' Da hob der Prinz seinen Blick gen Himmel empor und betete mit andächtigem Herzen, indem er sprach: ,O Gott, siehe, ich nehme meine Zuflucht zu dir wider das, was meine Sorge macht', und dabei wies er mit der Hand auf die Gestalt. Die sank sofort zu Boden, verbrannt wie eine Kohle. Er aber dankte und pries Allah und ritt ohne Aufenthalt eiligst dahin. Und Allah, der Hochgepriesene und Erhabene, machte ihm den Weg leicht und führte ihn auf der rechten Straße, bis daß er sein Land erreichte und wieder im Reiche seines Vaters eintraf, nachdem er schon am Leben verzweifelt hatte. All das war durch die Absicht des Wesirs, der ihn begleitet hatte, geschehen; denn der wollte ihn unterwegs umkommen lassen. Aber Allah der Erhabene rettete um.

Dies habe ich dir, o König - so sprach die Odaliske -, nur deshalb erzählt, damit du weißt, daß die bösen Wesire ihren Königen gegenüber keine lauteren Absichten hegen und keine edle Gesinnung zu haben pflegen. Drum sei davor auf deiner Hut!'



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Da lieh der König ihrer Rede wiederum sein Ohr, und er befahl, seinen Sohn hinzurichten. Doch nun trat der dritte Wesir hervor und sprach zu den anderen: ,Heute will ich des Königs Zorn von euch abwenden.' Er trat also vor den König hin, küßte den Boden vor ihm und sprach zu ihm: ,O König, ich bin dein guter Berater, und ich bin aufrichtig besorgt um dich und um dein Reich. Ich gebe dir den besten Rat, und der lautet: Übereile dich nicht mit der Hinrichtung deines Sohnes, der dein Augentrost und die Frucht deines Herzens ist! Vielleicht ist seine Schuld nur ein geringes Vergehen, das diese Odaliske vor deinen Augen zu groß dargestellt hat. Mir ist berichtet worden, daß einmal die Bewohner zweier Dörfer um eines Honigtropfens willen sich gegenseitig vernichtet haben.' ,Wie war denn das?' fragte der König; und der Wesir begann: ,Vernimm, o König, mir ist berichtet worden


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