Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Gustav Schwab -

Sagen des Klassischen Alterthums



Schwab-Sagen-000.04 Flip arpa

König Ödipus zeigt sich seinem Volke


Hämon und Antigone

Als Kreon seinen Sohn herbeieilen sah, glaubte er nichts anderes, als das über seine Braut gefällte Urteil müsse diesen gegen den Vater empört haben. Hämon setzte jedoch seinen verdächtigenden Fragen Worte voll kindlichen Gehorsams entgegen, und erst nachdem er den Vater von seiner frommen Anhänglichkeit überzeugt hatte, wagte er es, für seine geliebte Braut Fürbitte zu tun. "Du weißt nicht, Vater," sprach er, "was das Volk spricht, was es zu tadeln findet. Dein Auge schreckt jeden Bürgersmann zurück, irgend etwas zu sprechen, das deinem Ohre nicht willkommen ist; mir hingegen wird es möglich, auch derlei Dinge im Dunkeln zu hören. Und so laß mich dir denn sagen, daß diese Jungfrau von der ganzen Stadt bejammert. daß diese Handlung von der ganzen Bürgerschaft als wert des Nachruhms gepriesen wird, daß niemand glaubt, sie, die fromme Schwester, die ihren Bruder nicht von den Hunden und Vögeln zerfleischen ließ, habe den Tod als Lohn verdient. Darum. geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach! Tu es den Bäumen gleich, die, längs des angeschwollenen Waldstromes gepflanzt, sich ihm nicht entgegenstemmen, sondern der Gewalt des Wassers nachgeben und unverletzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen, Widerstand zu leisten, durch die Wellen von Grund aus entwurzelt werden." — "Will der Knabe mir Verstand lehren?" rief Kreon verächtlich aus; "es scheint, er kämpft im Bunde mit dem Weibe!" — "Ja, wenn du ein Weib bist!" — antwortete der Jüngling schnell und lebhaft — "denn nur zu deinem Besten ist dies alles gesagt!" — "Ich merke wohl," endete der Vater entrüstet, "blinde Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden. aber lebendig wirst du diese nicht freien! Denn wisse: ferne, wo keine Menschen



Schwab-Sagen-239 Flip arpa

tritte schallen, soll sie bei lebendem Leibe in einem verschlossenen Felsengrabe geborgen werden. Nur wenig Speise wird ihr mitgegeben, so viel. als nötig ist, die Stadt vor der Befleckung zu bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes ihr zuziehen würde. Mag sie dann von dem Gotte der Unterwelt, den sie doch allein ehrt, sich Befreiung erflehen; zu spät wird sie erkennen, daß es klüger ist, den Lebenden zu gehorchen als den Toten."

Zornig wandte sich Kreon mit diesen Worten von seinem Sohne ab. und bald waren alle Anstalten getroffen, den gräßlichen Beschluß des Tyrannen zu vollziehen. Öffentlich vor allen Bürgern Thebens wurde Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer wartete; sie stieg unter Anrufung der Götter und der Geliebten, mit welchen sie vereinigt zu werden hoffte, unerschrocken hinab.

Noch immer lag der verwesende Leichnam des erschlagenen Polyneikes unbegraben da. Die Hunde und Vögel nährten sich von ihm und befleckten die Stadt, indem sie die überreste des Toten hin und hertrugen. Da erschien der greise Seher Teiresias vor dem König Kreon, wie er einst vor Ödipus erschienen war, und verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferschau ein Unheil. Schlimmer, übelgesättigter Vögel Gekrächz hatte er vernommen, das Opfertier auf dem Altar, statt hell in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche verschmort. Offenbar zürnen uns die Götter," endete er seinen Bericht, "wegen der Mißhandlung des erschlagenen Königssohnes. Sei darum nicht halsstarrig, Herrscher, weiche dem Toten, siehe nicht nach Ermordeten! Welcher Ruhm ist es, Tote noch einmal zu töten? Laß ab davon; in guter Meinung rate ich dir!" Aber Kreon wies wie damals Ödipus den Wahrsager mit krankenden Worten zurück, schalt ihn geldgierig und bezichtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Gemüt des Sehers, und ohne Schonung zog er von den Augen des Königs den Schleier weg, der die Zukunft bedeckte. "Wisse," sprach er, "daß die Sonne nicht untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen Leichnam für zwei Leichen zum Ersatze bringst. Doppelten Frevel begehst du, indem du den Toten der Unterwelt vorenthältst, der ihr gebührt, und die Lebende, die der Oberwelt angehört, nicht heraufläßt zu ihr! Schnell entführe mich, Knabe! Lassen wir diesen Mann mit seinem Unglück allein!" So ging er an der Hand seines Führers auf seinen Seherstab gestützt davon.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt