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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM KÖNIG UND DER FRAU SEINES WESIRS

Es lebte einmal einer von den großen Königen, der sich ganz der Liebe zu den Frauen hingab. Wie der eines Tages allein in seinem Schlosse war, fiel sein Auge auf eine Frau, die sich auf dem Dache ihres Hauses befand; die war von großer Schönheit und Anmut. Und als er sie anschaute, kam die Liebe mit Gewalt über ihn. So fragte er denn alsbald nach jenem Hause, und seine Diener erwiderten ihm: ,Das ist das Haus deines Wesirs Soundso.' Da sandte er sogleich nach jenem Wesir, und als der zu ihm gekommen war, befahl er ihm, in eine ferne Provinz des Reiches zu reisen, auf daß er dort Umschau halte, und dann heimzukehren. Der Wesir machte sich auf, gemäß dem Befehle seines Königs. Kaum aber war er fortgereist, so drang der König durch eine List in das Haus des Wesirs ein. Als die Frau ihn sah, erkannte sie ihn; und sie sprang auf, verneigte sich und



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küßte den Boden vor ihm und hieß ihn willkommen. Dann trat sie von ihm zurück und war geschäftig, um ihn zu bedienen. Dabei sagte sie zu ihm: ,Hoher Herr, was ist der Anlaß deines gesegneten Kommens? Eine so hohe Ehre geziemt sich doch nicht für meinesgleichen.' Er antwortete: ,Der Anlaß ist, daß die Liebe zu dir und das Verlangen nach dir mich dazu getrieben haben.' Da küßte sie wiederum den Boden vor ihm und sprach zu ihm: ,Hoher Herr, ich bin nicht wert, die Magd eines Dieners des Königs zu heißen; wie kann mir da das hohe Glück von dir zuteil werden, daß ich bei dir in solchem Ansehen stehe?' Doch nun streckte der König seine Hand nach ihr aus; sie aber sprach: ,Das wird uns nicht entgehen. Gedulde dich, o König, und bleib heute den ganzen Tag bei mir, auf daß ich dir ein Mahl bereiten kann!' Darauf setzte der König sich auf das Lager seines Wesirs, während sie eilends davonging und ihm ein Buch der Ermahnungen und guten Sitten holte, damit er darin lese, bis sie ihm das Mahl bereitet hätte. Der König nahm es hin und begann darin zu lesen. Und er fand in ihm die Ermahnungen und die Gebote, die ihn vom Ehebruch abschreckten und sein Begehren davon zurückhielten, die Sünde auf sich zu laden. Als sie dann das Mahl für ihn bereitet hatte, setzte sie es ihm vor; der Gerichte waren aber neunzig an der Zahl. Der König begann zu essen und nahm von jedem Gerichte einen Löffel voll. Nun waren zwar die Speisen alle von verschiedener Art; aber ihr Geschmack blieb sich immer gleich. Das verwunderte den König gar sehr, und so sprach er: ,'Weib, ich finde hier so viele verschiedene Gerichte, aber sie schmecken alle gleich.' ,Allah gebe dem König viel Glück!' erwiderte sie, ,dies ist ein Gleichnis, das ich für dich ersonnen habe, auf daß es dir eine Mahnung sei.' Der König fragte: ,Was bedeutet es denn?' Und sie fuhr fort: ,Allah verhelfe unserm



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Herrn, dem König, stets zum Rechten! Siehe, in deinem Schlosse sind neunzig Odalisken, alle von verschiedener Art; aber ihr Geschmack istder gleiche.' Wie der König diese Worte vernahm, schämte er sich vor ihr; und er stand alsbald auf und verließ das Haus, ohne ihr in Bösem genaht zu sein. Aber er war so betroffen, daß er seinen Siegelring bei ihr unter dem Kissen vergaß. Er begab sich in sein Schloß, und kaum hatte er sich dort gesetzt, da kam auch schon der Wesir zu seinem König zurück, küßte den Boden vor ihm und erstattete ihm Bericht über den Zustand der Provinz, in die er gesandt war. Darauf ging er von dannen und begab sich in sein Haus. Als er sich dort auf sein Lager niedergesetzt hatte und seine Hand unter das Kissen streckte, fand er darunter den Siegelring des Königs. Den hob er auf und versteckte ihn in seinem Busen; er enthielt sich aber seiner Frau ein volles Jahr lang und sprach nicht mit ihr, ohne daß sie den Grund seines Zornes wußte.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 579. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Wesir sich ein volles Jahr lang seiner Frau enthielt und nicht mit ihr sprach, ohne daß sie den Grund seines Zornes wußte. Als ihr aber all das, von dem sie nichts verstand, zu lange währte, schickte sie zu ihrem Vater und tat ihm kund, wie es ihr mit ihrem Gatten erging, und wie er sich ein ganzes Jahr lang von ihr ferngehalten habe. Ihr Vater sagte darauf: ,Ich will wider ihn klagen, wenn er einmal bei dem König zugegen ist.' Wie er dann eines Tages zum König ging und den Wesir dort vor dem Herrscher und dem Kadi des Heeres stehen sah, erhob er Klage wider ihn, indem er sprach: ,Allah der Erhabene verhelfe dem König stets zum Rechten! Wisse, ich besaß einen schönen Garten.



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den ich mit eigener Hand gepflanzt hatte; und ich gab mein Geld für ihn dahin, bis daß er Frucht trug und seine Frucht reif war zum Pflücken. Dann schenkte ich ihn diesem Wesir da; und er aß von seinen Früchten, was ihm gefiel, aber bald verließ er ihn und bewässerte ihn nicht mehr. Nun sind seine Blumen verwelkt, sein Glanz ist verblichen, und keiner kennet ihn mehr.' ,O König,' sagte darauf der Wesir, ,dieser Mann hat die Wahrheit gesprochen. Ja, ich hütete den Garten und aß von seiner Frucht. Als ich aber eines Tages zu ihm ging, entdeckte ich dort die Spur des Löwen; die ließ mich Gefahr für mein Leben befürchten, und deshalb mied ich den Garten hinfort.' Der König begriff, daß die Spur, die der Wesir gefunden hatte, sein eigener Siegelring war, den er in dem Hause vergessen hatte; und so sprach er zu seinem Minister: ,Kehre heim, Wesir, sei ruhig und unbesorgt; der Löwe ist deinem Garten nicht zu nahe gekommen. Ich habe wohl gehört, daß er einmal dorthin gegangen ist; aber -bei der Ehre meiner Väter und Ahnen! — er hat ihm nichts zuleide getan.' ,Ich höre und gehorche!' erwiderte der Wesir und kehrte in sein Haus zurück; und er sandte nach seiner Gattin und lebte hinfort in Frieden mit ihr, da er an ihre Keuschheit glaubte.'

Ferner - so fuhr der erste Wesir fort -ist mir berichtet worden, o König,


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