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Gustav Schwab -

Sagen des Klassischen Alterthums



Schwab-Sagen-000.04 Flip arpa

König Ödipus zeigt sich seinem Volke


Jokaste und Ödipus strafen sich

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entsetzliche enthüllt. Mit einem wahnsinnigen Schrei stürzte Ödipus davon. irrte in dem Palast umher und verlangte nach einem Schwert, um das Ungeheuer, das seine Mutter und Gattin sei, von der Erde zu vertilgen. Da ihm, wie einem Rasenden, alles aus dem Wege ging, suchte er gräßlich heulend sein Schlafgemach auf, sprengte das verschlossene Doppeltor und brach hinein. Ein grauenhafter Anblick hemmte seinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar sah er hier, hoch über dem Lager schwebend, Jokaste, die sich mit einem Strang die Kehle zugeschnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinstarren nahte sich Ödipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß sich die Leiche auf den Boden senkte, und wie sie nun vor ihm ausgestreckt lag, riß er die goldgetriebenen Brustspangen aus dem Gewande der Frau. Diese hob er hoch in der Rechten auf, fluchte seinen Augen, daß sie nimmer schauen sollten, was er tat und duldete. und wühlte mit dem spitzen Gold in ihnen. bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Tor zu öffnen, ihn hinauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk als den Vatermörder. als den Muttergaiten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheusal der Erde vorzustellen. Die Diener erfüllten sein Verlangen, aber das Volk empfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Kreon selbst, sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber um den fluchbelasteten Mann dem Sonnenlicht und den Augen des Volkes zu entziehen und ihn dem Kreise seiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Ödipus rührte so viel Güte. Er übergab seinem Schwager den Thron, den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und erbat sich für seine



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unselige Mutter ein Grab, für seine verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers; für sich selbst aber begehrte er Ausstoßung aus dem Lande. das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Verbannung auf den Berg Kithäron, den schon die Eltern ihm zum Grabe bestimmt hatten, und wo er jetzt leben oder sterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann verlangte er noch nach seinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte seine Hand auf ihre unschuldigen Häupter. Den Kreon segnete er für alle Liebe, die dieser ihm, der es nicht um ihn verdient hätte, erwiesen, und wünschte ihm und allem Volke besseren Schutz der Götter, als er selbst erfahren hatte.

Dann führte ihn Kreon in das Haus zurück, und der jüngst noch verherrlichte Retter Thebens, der mächtige Herrscher, dem viele Tausende gehorchten, der Ödipus, der so tiefe Rätsel erforscht und so spät erst das eigene furchtbare Rätsel seines Lebens gelöst hatte, sollte, einem blinden Bettler gleich, durch die Tore seiner Vaterstadt und an die Grenzen seines Königreichs wandern.


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