Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTEN VON DER TÜCKE DER WEIBER ODER VON DEM KÖNIG, SEINEM SOHNE, SEINER ODALISKE UND DEN SIEBEN WESIREN

Einst lebte in alten Zeiten und in längst verschollenen Vergangenheiten ein König, der unter den Herrschern seines Zeitalters einer der mächtigsten war, umgeben von vielen Truppen und einer großen Wächterschar, von hohem Ruhme dieser Welt und von viel Gut und Geld. Aber er hatte schon manches Jahr seines Lebens verbracht, ohne daß ihm ein Sohn beschieden gewesen wäre. Und da ihm dies große Sorge bereitete, wandte er sich durch die Fürsprache des Propheten - Gott segne um und gebe ihm Heil! — an Allah den Erhabenen und flehte Ihn an bei der Macht der Propheten und heiligen Asketen und der Märtyrer Scharen, aller derer, die Ihm unter Seinen Dienern die nächsten waren, daß Er ihn mit einem Sohne beschenke, der ihm ein Augentrost sei und nach ihm sein Reich als sein Erbe lenke. Und alsobald erhob er sich und begab sich in sein Ruhegemach; dann sandte er nach seiner Gemahlin und wohnte ihr bei. Sie empfing nach dem Willen Allahs des Erhabenen; und als ihre Zeit erfüllet war, daß sie niederkommen sollte, da gebar sie einen Knaben, der war so schön wie der runde Mond, wenn er in der vierzehnten Nacht am Himmel thront. Und jener Knabe wuchs heran, bis er ein Alter von fünf Jahren erreicht hatte. Nun befand sich bei dem König ein weiser Mann, der zu den größten Gelehrten gehörte, des Namens



1000-und-1_Vol-04-260 Flip arpa

Sindbad'; dem übergab er den Knaben. Und als dieser zehn Jahre alt geworden war, hatte der Meister ihn in den Wissenschaften und in der feinen Bildung so trefflich unterrichtet, daß es damals niemanden gab, der dem Prinzen gleichgekommen wäre an Kenntnis, Bildung und Verständnis. Wie sein Vater das vernahm, ließ er eine Schar arabischer Ritter zu ihm kommen, die ihn im Rittertum unterweisen sollten. So übte er sich auch darin und jagte in schimmernder Wehr auf dem Blachfeld einher, bis daß er der Erste war unter dem Volke seiner Zeit und unter seinen Altersgenossen weit und breit. Eines Tages aber schaute jener Weise in die Sterne, und da erkannte er im Horoskop des Prinzen, daß er in den nächsten sieben Tagen sterben müsse, wenn er in ihnen ein einziges Wort rede. Alsbald begab sich der Weise zu seinem Vater, dem König, und tat ihm alles kund. Da fragte der König: ,Meister, was ist dein Rat? Was soll geschehen?' Und jener erwiderte: ,O König, mein Rat und mein Plan gehen dahin, daß du ihn an einem Orte, an dem es froh hergeht und an dem lustige Weisen erklingen, weilen lässest, bis die sieben Tage vergangen sind.' Darauf sandte der König zu einer seiner vertrauten Sklavinnen, der schönsten von all den Mädchen, und übergab ihr den Jüngling mit den Worten: ,Nimm deinen Herrn mit dir ins Schloß und laß ihn bei dir sein; erst nach sieben Tagen soll



1000-und-1_Vol-04-261 Flip arpa

er das Schloß verlassen!' Die Sklavin nahm ihn bei der Hand und brachte ihn in das Schloß. Dort waren aber vierzig Gemächer, und in jedem Gemach waren zehn Sklavinnen, und jede Sklavin hatte ein Musikinstrument; und wenn nur eine von ihnen zu spielen begann, so schien das ganze Schloß zu ihrer schönen Weise zu tanzen. Ringsherum aber lief ein Bach, an dessen Ufer allerlei Fruchtbäume standen und duftende Blumen blühten. Nun war jener Prinz von unbeschreiblicher Schönheit und Anmut. Und als er dort weilte, sah ihn eines Nachts die Lieblingsodaliske seines Vaters, und da ward ihr Herz von Liebe zu ihm erfüllt, und sie konnte nicht mehr an sich halten, sondern warf sich auf ihn. Er aber gab ihr zu verstehen: ,Wenn ich, so Allah der Erhabene will, wieder zu meinem Vater hingehe, so will ich ihm dies erzählen, und er wird dich töten lassen!' Sogleich lief die Odaliske zum König und warf sich weinend und klagend auf ihn. Da fragte er: ,Was ist dir, Mädchen? Wie ergeht es deinem Herrn? Ist ihm nicht wohl?' ,Mein Gebieter,' rief sie, ,mein Herr wollte mich verführen, und er wollte mich deshalb sogar umbringen. Aber ich wehrte ihn ab und flüchtete mich vor ihm; jetzt will ich nie wieder zu ihm zurückgehen, auch nicht in das Schloß!' Als der König diese Worte vernahm, ergrimmte er gewaltig, und er ließ die Wesire zu sich kommen und befahl ihnen, seinen Sohn hinzurichten. Sie aber sagten zueinander: ,Jetzt hat der König den Tod seines Sohnes beschlossen; doch hernach, wenn er den Prinzen hat töten lassen, wird er sein Tun sicherlich bereuen; denn er hat ihn sehr lieb, und erst nachdem er alle Hoffnung aufgegeben hatte, ward ihm dieser Sohn geschenkt. Dann wird er sich wider euch wenden und euch Vorwürfe machen und sagen: ,'Warum habt ihr nicht ein Mittel ersonnen, mich zu hindern, daß ich ihn tötete?' So kamen sie denn überein, ein



1000-und-1_Vol-04-262 Flip arpa

Mittel zu ersinnen, um den König zu hindern, daß er seinen Sohn töte. Und der erste Wesir hub an und sprach: ,Ich will heute den Zorn des Königs von euch abwenden.' Dann ging er hin zum König, trat ein und blieb vor ihm stehen; nachdem er gebeten hatte, sprechen zu dürfen, und der König es ihm gestattet hatte, hub er an: ,O König, wenn dir auch tausend Söhne beschieden wären, so würdest du dich doch nicht von deiner Leidenschaft dazu hinreißen lassen, auch nur einen von ihnen zu töten um der Worte einer Sklavin willen, mag sie die Wahrheit oder die Unwahrheit reden. Vielleicht ist dies eine Tücke von ihr wider deinen Sohn!' Da fragte der König: ,Ist dir etwas von der List der Weiber berichtet worden, o Wesir?' Und jener gab ihm zur Antwort: ,Jawohl, mir ist berichtet worden


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt