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Gustav Schwab -

Sagen des Klassischen Alterthums



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König Ödipus zeigt sich seinem Volke


Sisyphos und Bellerophontes

Sisyphos, der Sohn des Solos, der listigste aller Sterblichen, baute und beherrschte die herrliche Stadt Korinth auf der schmalen Erdenge zwischen zwei Meeren und zwei Ländern. Für allerlei Betrug traf ihn in der Unterwelt die Strafe, daß er einen schweren Marmorstein, mit Händen und Füßen angestemmt, von der Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen mußte. Wenn er aber schon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, so wandte sich die Last um, und der tückische Stein rollte wieder in die Tiefe hinunter. So mußte der gepeinigte Verbrecher von neuem und immer wieder von neuem das Felsstück emporwälzen, daß der Angstschweiß von seinen Gliedern floß.

Sein Enkel war Bellerophontes, der Sohn des Korintherkönigs Glaukos. Wegen eines unvorsätzlichen Mordes flüchtig, wandte sich der Jüngling nach Tiryns, wo der König Prötos regierte. Von



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diesem wurde er gütig aufgenommen und von seinem Morde gereinigt. Aber Bellerophontes hatte von den Unsterblichen schöne Gestalt und männliche Tugenden empfangen. Deswegen entbrannte die Gemahlin des Königs Prötos, Antea, in unreiner Liebe zu ihm und wollte ihn zum Bösen verführen. Aber der edelgesinnte Bellerophontes gehorchte ihr nicht. Da verwandelte sich ihre Liebe in Haß; sie sann auf Lüge, ihn zu verderben, erschien vor ihrem Gemahl und sprach zu ihm: "Erschlage den Bellerophontes, o Gemahl, wenn dich nicht selbst unrühmlicher Tod treffen soll, denn der Treulose hat mir seine strafbare Neigung bekannt und mich zur Untreue gegen dich verleiten wollen." Als der König solches vernommen, bemächtigte sich seiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den verständigen Jüngling so liebgehabt hatte, vermied er den Gedanken, zu ermorden. denn er machte ihm Grauen. Aber dennoch sann er auf sein Verderben. Er schickte daher den Unschuldigen zu seinem Schwiegervater Jobates, dem Könige von Lykien, und gab ihm ein zusammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem letzteren bei seiner Ankunft in Lykien gleichsam als einen Empfehlungsbrief vorweisen sollte; auf dieses waren gewisse Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten. den überbringer hinrichten zu lassen. Arglos wandelte Bellerophontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn in ihren Schutz. Als er übers Meer nach Asien gefahren, am schönen Strome Xanthos angekommen war und also Lykien erreicht hatte, trat er vor den König Jobates. Dieser aber, ein gütiger, gastfreundlicher Fürst nach der alten Sitte, nahm den edlen Fremdling auf, ohne zu fragen, wer er sei, noch woher er komme. Seine würdige Gestalt und sein fürstliches Benehmen genügten ihm zur überzeugung, daß er keinen gemeinen Gast beherberge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weise, gab ihm alle Tage ein neues Fest und brachte den Göttern von Tag zu Tag ein neues Stieropfer. Neun Tage waren so vorübergegangen, und erst als die zehnte Morgenröte am Himmel aufstieg, fragte er den Gast nach seiner Herkunft und seinen Absichten. Da sagte ihm Bellerophontes, daß er von seinem Eidam Prötos komme. und wies ihm als Beglaubigungsschreiben das Täfelchen vor. Als der König Jobates den Sinn der mörderischen Zeichen erkannte, erschrak er in tiefster Seele. denn er Hane den edlen Jüngling sehr liebgewonnen. Doch mochte er nicht denken, daß sein Schwiegersohn ohne gewichiige Ursache die Todesstrafe über den Unglücklichen verhänge, glaubte also,



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dieser müsse durchaus ein todeswürdiges Verbrechen verübt haben. Aber auch er konnte sich nicht entschließen, den Menschen, der so lange sein Gast gewesen war und durch sein ganzes Benehmen sich seine Zuneigung zu erwerben gewußt hatte, geradezu umzubringen. Er gedachte ihm deswegen nur Kämpfe aufzutragen, in denen er notwendig zu Grunde gehen müßte. Zuerst ließ er ihn das Ungeheuer Chimära erlegen, das Lykien verwüstete, und das göttlicher, nicht menschlicher Art emporgewachsen war. Der gräßliche Typhon hatte es mit der riesigen Schlange Echidna erzeugt. Vorn war es ein Löwe, hinten ein Drache, in der Mitte eine Ziege, aus seinem Rachen ging Feuer und entsetzlicher Gluthauch. Die Götter selbst trugen Mitleid mit dem schuldlosen Jüngling, als sie sahen, welcher Gefahr er ausgesetzt wurde. Sie schickten ihm auf seinem Wege zu dem Ungeheuer das unsterbliche Flügelroß Pegasos, das Poseidon mit der Medusa gezeugt hatte. Wie konnte ihm aber dieses helfen? Das göttliche Pferd hatte nie einen sterblichen Reiter getragen. Es ließ sich nicht einfangen und nicht zähmen. Müde von seinen vergeblichen Anstrengungen, war der Jüngling am Quell Pirene, wo er das Roß gefunden hatte, eingeschlafen. Da erschien ihm im Traume seine Beschirmerin Athene; sie stand vor ihm, einen köstlichen Zaum mit goldenen Buckeln in der Hand, und sprach: "Was schläfst du, Abkömmling des aolos? Nimm dieses rossebändigende Werkzeug; opfere dem Poseidon einen schönen Stier und brauche des Zaums." So schien sie dem Helden im Traume zuzusprechen, schüttelte ihren dunklen 'ügisschild und verschwand. Er aber erwachte aus dem Schlafe, sprang auf und faßte mit der Hand nach dem Zaume. Und, o Wunder, der Zaum, nach dem er im Traume gegriffen, der Wachende hielt ihn wirklich und leibhaft in der Hand. Bellerophontes suchte nun den Seher Polyidos auf und erzählte ihm seinen Traum sowie das Wunder, das sich in demselben zugetragen. Der Seher riet ihm, das Begehren der Göttin ungesäumt zu erfüllen, dem Poseidon den Stier zu schlachten und seiner Schutzgöttin Athene einen Altar zu bauen. Als dies alles geschehen war, fing und bändigte Bellerophontes das Flügelroß ohne alle Mühe, legte ihm den goldenen Zaum an und bestieg es in eherner Rüstung. Nun schoß er aus den Lüften herab und tötete die Chimära mit seinen Pfeilen. — Hierauf schickte ihn Jobates gegen das Volk der Solymer aus, ein streitbares Männergeschlecht, das an den Grenzen von Lykien wohnte, und nachdem er wider Erwarten



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den härtesten Kampf mit diesen glücklich bestanden, wurde er von dem König gegen die männergleiche Schar der Amazonen gesandt. Auch aus diesem Streite kam er unverletzt und siegreich zurück. Nun legte ihm der König, um dem Verlangen seines Eidams doch endlich nachzukommen, eben auf diesem Rückwege einen Hinterhalt, wozu er die tapfersten Männer des lykischen Landes ausersehen hatte.



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Aber keiner von ihnen kehrte zurück, denn Bellerophontes vertilgte alle, die ihn überfallen hatten, bis auf den letzten. Nunmehr erkannte der König, daß der Gast, den er beherbergt, kein Verbrecher, sondern ein Liebling der Götter sei. Statt ihn länger zu verfolgen, hielt er ihn in seinem Königreich zurück, teilte den Thron mit ihm und gab ihm seine blühende Tochter Philonoe zur Gemahlin. Die Lykier überliessen ihm die schönsten Äcker und Pflanzungen zum Bebauen. Seine Gemahlin gebar ihm drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

Aber jetzt hatte das Glück des Bellerophontes ein Ende. Sein ältester Sohn Isandos wuchs zwar auch zu einem gewaltigen Helden auf, aber er fiel in einer Schlacht gegen die Solymer. Seine Tochter Loadamia wurde, nachdem sie dem Zeus den Helden Sarpedon geboren, durch einen Pfeil der Artemis erschossen. Nur sein jüngerer Sohn Hippolochos gelangte zu ruhmvollem Alter und schickte im Kampfe der Trojaner ,seinen heldenmütigen Sohn Glaukos, den auch sein Vetter Sarpedon begleitete, mit einer stattlichen Schar von Lykiern den Troern zu Hilfe.

Bellerophontes selbst, durch den Besitz des unsterblichen Flügelrosses übermütig gemacht, wollte sich auf demselben zum Olymp emporschwingen und, der Sterbliche, sich in die Versammlung der Unsterblichen eindrängen. Aber das göttliche Roß selbst widersetzte sich dem kühnen Unterfangen, bäumte sich in der Luft und schleuderte den irdischen Reiter hinunter auf den Boden. Bellerophontes erholte sich zwar von diesem Fall, aber den Himmlischen seitdem verhaßt und vor den Menschen sich schämend, irrte er einsam umher, vermied die Pfade der Sterblichen und verzehrte sich in einem ruhmlosen und kummervollen Alter.


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