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Kapitel 

Gustav Schwab -

Sagen des Klassischen Alterthums



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König Ödipus zeigt sich seinem Volke


1. Der nemeische Löwe

Die erste Arbeit, welche dieser König ihm auferlegte, bestand dann, daß Herakles ihm das Fell des nemeischen Löwen herbeibringen sollte. Dieses Ungeheuer hauste auf dem Peloponnes in den Wäldern zwischen Kleonä und Nemea in der Landschaft Argolis. Der Löwe konnte mit keinen menschlichen Waffen verwundet werden. Die einen sagten, er sei ein Sohn des Riesen Typhon und der Schlange Echidna, die andern, er sei vom Mond auf die Erde herabgefallen. Also zog Herakles gegen den Löwen aus und kam auf seiner Fahrt nach Kleonä, wo er von einem armen Taglöhner, namens Molorchos, gastfreundlich aufgenommen wurde. Er traf diesen an, wie er eben dem Zeus ein Opfertier schlachten wollte. "Guter Mann," sprach Herakles, "bewahre dein Tier noch dreißig Tage am Leben. Komme ich bis dahin glücklich von der Jagd zurück, so magst du es Zeus, dem Retter, schlachten; erliege ich aber, so sollst du es mir selbst zum Totenopfer bringen, als einem zur Unsterblichkeit eingegangenen Helden." So zog Herakles weiter, den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der andern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Ölbaumes, den er selbst auf dem Helikon angetroffen und mitsamt den Wurzeln ausgerissen hatte. Als er in den Wald von Nemea kam, ließ Herakles seine Augen nach allen Seiten schweifen, um das reißende Tier zu entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mittag, und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemerken, nirgends den Pfad zu seinem Lager erkunden; denn keinen Menschen traf er auf dem Felde bei den Stieren oder im Walde bei den Bäumen an, — alle hielt die Furcht in ihre fernen Gehöfte verschlossen. Den ganzen Nachmittag durchstreifte er den dichtbelaubten Hain, entschlossen, seine Kraft zu erproben, sobald er des Ungeheuers ansichtig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf einem Waldwege gelaufen, um vom Fang in seinen Erdspalt zurückzukehren. Er war von Fleisch und Blut gesättigt, Kopf, Mähne und Brust troffen von Mord, mit der Zunge leckte er sich das Kinn. Der Held, der ihn von ferne kommen sah, rettete sich in einen dichten Waldbusch, wartete, bis der Löwe näher kam, und schoß ihm dann einen Pfeil in die Flanken zwischen Rippe und Hüfte. Aber das Geschoß drang



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nicht ins Fleisch, es prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf den moosigen Waldboden. Das Tier hob seinen zur Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen forschend nach allen Seiten rollen und im aufgesperrten Rachen die entsetzlichen Zähne sehen. So streckte es dem Halbgott die Brust entgegen, und dieser sandte schnell einen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des Atems zu treffen; aber auch diesmal drang das Geschoß nicht bis unter die Haut, sondern prallte von der Brust ab und fiel zu den Füßen des Ungetüms nieder. Herakles griff eben zum dritten Pfeil, als der Löwe, die Augen seitwärts drehend, ihn erblickte; er zog seinen langen Schweif an sich bis zu den hinteren Kniekehlen, sein ganzer Nacken schwoll von Zorn auf, unter Murren sträubte sich seine Mähne, und sein Rücken wurde krumm wie ein Bogen. Er sann auf Kampf und ging mit einem Sprung auf seinen Feind los; Herakles aber warf seine Pfeile aus der Hand und seine eigene Löwenhaut vom Rücken, mit der Rechten schwang er über dem Haupte des Tieres die Keule und versetzte ihm einen Schlag auf den Nacken, daß es mitten im Sprunge wieder zu Boden stürzte und auf zitternden Füßen zu stehen kam, mit dem Kopfe wackelnd. Ehe es wieder aufatmen konnte, kam ihm Herakles zuvor; er warf auch noch Bogen und Köcher zu Boden, um ganz ungehindert sein, nahte dem Untier von hinten, schlang die Arme um seinen Nacken und schnürte ihm die Kehle zu, bis es erstickte und seine grauenvolle Seele zum Hades zurücksandte. Lange versuchte er vergebens, die Haut des Gefallenen abzuweiden, sie wich keinem Eisen, keinem Steine. Endlich kam ihm in den Sinn, sie mit den Klauen des Tieres selbst abzuziehen, was auch sogleich gelang. Später verfertigte er sich aus diesem herrlichen Löwenfell einen Panzer und aus dem Rachen einen neuen Helm; für jetzt aber nahm er Kleid und Waffen, in denen er gekommen war, wieder zu sich und machte sich, das Fell des nemeischen Löwen über den Arm gehängt, auf den Rückweg nach Tiryns. Als der König Eurystheus ihn mit der Hülle des gräßlichen Tieres daherkommen sah, geriet er über die göttliche Kraft des Helden in solche Angst, daß er in ein ehernes Faß kroch. Auch ließ er forthin den Herakles nicht mehr unter seine Augen kommen, sondern ihm seine Befehle nur außerhalb der Mauern durch Kopreus, einen Sohn des Pelops, zufertigen.


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