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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE DRITTE REISE SINDBADS DES SEEFAHRERS

Vernehmt, meine Brüder. und hört von mir, was ich euch jetzt kundtun will; das ist noch seltsamer, als was ich euch früher erzählt habe. Doch Allah ist allwissend und kennt seinen verborgenen Ratschluß! Ich kam, wie bereits berichtet worden ist, von der zweiten Reise zurück, fröhlich und strahlend von Glück; denn ich freute mich nicht nur über die glückliche Heimkehr, sondern ich hatte auch viel Geld und Gut erworben, wie ich euch ebenfalls gestern schon erzählt habe. Allah hatte mir alles wieder ersetzt, was ich verloren hatte. Ich blieb nun in der Stadt Baghdad in Glück und Seligkeit, Freude und Fröhlichkeit. Dennoch riet mir meine Seele von neuem, zu reisen und die Welt zu schauen; und sie sehnte sich danach. Handel zu treiben, Geld zu verdienen und Gewinn zu haben. Ja, des Menschen Seele treibt ihn zum Bösen!' Als mein Entschluß gefaßt war, kaufte ich viele Waren, wie sie für eine Reise zur See geeignet sind, ließ sie für die Fahrt in Ballen verschnüren und reiste mit ihnen zuerst von Baghdad nach Basra. Dort ging ich zum Seehäfen und suchte mir ein großes Schiff aus, auf dem viele Kaufleute und Reisende waren, lauter gute Männer, brave und tüchtige Menschen, ein gläubiges, gefälliges und rechtschaffenes Volk. Ich ging zu ihnen an Bord, und so fuhren wir mit jenem Schiffe ab; wir vertrauten auf den Segen Allahs des Erhabenen, auf Seine Hilfe und Seine gnädige Führung, und wir freuten uns schon auf eine gute und glückliche Fahrt. So segelten wir dahin von Meer zu Meer, von Insel zu Insel und von Stadt zu Stadt. Überall, wo wir anlegten, schauten wir uns um und trieben Handel, stets fröhlich und



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heiter. Schließlich aber, als wir eines Tages mitten dahinfuhren über das tosende Meer mit den brandenden Wogen ringsumher, begann plötzlich der Kapitän, der von Bord des Schiffes über das Meer hin Ausschau hielt, sich ins Gesicht zu schlagen; rasch gab er den Befehl, die Segel zu reifen und die Anker auszuwerfen. und dabei raufte er sich den Bart und zerriß sich die Kleider und stieß einen lauten Schrei aus. Wir riefen: ,Kapitän, was gibt es?' Und er antwortete: ,Ihr Reisenden, Gott sei euch gnädig! Der Wind ist Herr über uns geworden und hat uns mitten im Meere aus der Richtung getrieben, und das Geschick hat uns zu unserem Unheil an den Berg der Haarigen verschlagen; das sind Wesen, die den Affen gleichen, und noch nie ist jemand, der dorthin gelangte, mit dem Leben davongekommen. Mein Herz ahnt, daß wir alle des Todes sind.' Und kaum hatte der Kapitän zu Ende gesprochen, da kamen auch schon die Affen und umringten das Schiff von allen Seiten; eine ungeheure Menge von ihnen wimmelte alsbald wie ein Heuschreckenschwarm an Bord und am Lande. Wir fürchteten aber, sie würden, wenn wir einen von ihnen töteten oder schlügen oder verjagten, uns totbeißen, da sie in so gewaltiger Menge waren; denn die Überzahl siegt über die Tapferkeit. So standen wir denn untätig da, obwohl wir besorgt waren, daß sie unser Hab und Gut rauben würden. Es waren die häßlichsten Tiere, die es gibt; Haare hatten sie wie von schwarzem Filz, und sie sahen fürchterlich aus, und niemand verstand ein Wort von dem, was sie sagten. Sonst scheuen sie den Menschen, sie, die Bestien mit den gelben Augen, den schwarzen Gesichtern und der kleinen Gestalt, die bei keinem von ihnen mehr als vier Spannen hoch ist. Jetzt aber kletterten sie an den Ankertauen hoch, zerrissen sie mit ihren Zähnen und zerbissen auch alle anderen Taue des Schiffes; da trieb es vor dem Winde



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her und strandete an ihrer Felsenküste. Als es dort an ihrem Strande lag, ergriffen sie alle die Kaufleute und Reisenden und schleppten sie auf die Insel. Dann nahmen sie das Schiff mit allem, was darinnen war, zogen ihrer Wege und ließen uns auf der Insel zurück. Das Schiff entschwand unseren Augen, und wir wußten nicht, wohin sie damit fuhren. Als wir nun dort auf der Insel allein waren, begannen wir uns von ihren Früchten, Beeren und Gemüsen zu nähren und aus ihren Bächen zu trinken; eines Tages aber erblickten wir mitten auf ihr etwas, das einem bewohnten Hause glich. Wir gingen rasch darauf zu, und da entdeckten wir eine Burg mit ragenden Säulen und hohen Mauern; die hatte ein zweiflügliges Tor aus Ebenholz, und das Tor stand offen. Wir traten hinein und sahen uns in einem geräumigen Hofe, der einem großen und weiten Platze glich; ringsherum waren viele hohe Türen, und am oberen Ende, dem Eingang gegenüber, stand eine breite, hohe Bank. Ferner waren dort Küchengeräte an Kohlenbecken aufgehängt, und um die herum lagen viele Knochen; aber wir sahen dort keinen Menschen. Über alles das waren wir sehr erstaunt. Doch wir setzten uns eine Weile in dem Burghof nieder, und dann schliefen wir ein und schlummerten vom Vormittag an bis zum Sonnenuntergang. Da, plötzlich, erbebte die Erde unter uns, und wir hörten ein Getöse in der Luft. Und nun stieg von der Zinne der Burg ein gewaltiges Wesen zu uns herab, das glich einem Menschen, aber es war schwarz von Farbe und hoch von Wuchs, so lang wie eine große Dattelpalme; und es hatte Augen, die wie Feuerscheite glühten, Zähne gleich den Hauern eines Ebers, ein Maul, so weit wie die Öffnung eines Brunnens, Lippen wie die eines Kamels, die ihm auf die Brust hinabfielen, und Ohren wie zwei große Decken, die ihm bis auf die Schultern reichten; und die Nägel an seinen



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Händen waren den Krallen eines Löwen gleich. Als wir dies Ungeheuer erblickten, schwanden uns die Sinne, gewaltige Furcht und grausiger Schrecken kamen über uns, und wir erstarrten wie Tote im Übermaß von Grauen, Angst und Entsetzen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 547. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Sindbad der Seefahrer des weiteren erzählte: ,Als ich und meine Gefährten dies entsetzliche Ungeheuer erblickten, kam gewaltige Furcht und Angst über uns. Der Riese aber setzte sich, als er auf ebener Erde angelangt war, eine Weile auf die Bank. Dann stand er auf, kam auf uns zu und griff mich aus meinen Gefährten, den Kaufleuten, heraus; er hob mich in seiner Hand empor, befühlte mich und drehte mich hin und her, während ich in seiner Hand wie ein kleiner Bissen war; und weiter betastete er mich, wie ein Fleischer das Schaf betastet, das er schlachten will. Aber er sah, daß ich dünn und mager war von all den Aufregungen und Anstrengungen während der Reise, und daß ich gar kein Fleisch mehr an mir hatte; und so ließ er mich los aus seiner Hand und ergriff einen anderen von meinen Gefährten. Auch den wandte er hin und her und betastete ihn, wie er es mit mir gemacht hatte; dann ließ er ihn los. So befühlte und drehte er uns alle, einen nach dem andern, bis er zu dem Kapitän des Schiffes kam, mit dem wir gereist waren. Das war ein dicker, fetter, breitschultriger Mann von starker Kraft; und nachdem er ihn gepackt hatte, wie ein Fleischer sein Schlachttier packt, warf er ihn auf den Boden, setzte ihm den Fuß auf den Nacken und brach ilm durch. Darauf holte er einen langen Bratspieß und stieß ilm ihm den Rücken entlang, bis er zum Schädel wieder herausfuhr. Nun zündete er ein mächtiges



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Feuer an, legte darüber den Spieß, an dem der Kapitän aufgespießt war, und drehte ihn über den Kohlen, bis sein Fleisch geröstet war; alsdann nahm er ihn von dem Feuer herunter und legte ihn vor sich hin. Und er zerteilte ihn, wie man wohl ein Huhn zerteilt, indem er sein Fleisch mit den Krallen zerriß, und begann zu fressen. Das tat er so lange, bis er das ganze Fleisch verzehrt hatte. Zuletzt nagte er auch noch die Knochen ab, so daß er nichts von ihm übrigließ; und die Knochen, die nun noch da waren, warf er an die eine Seite der Burgmauer. Danach setzte er sich wieder eine Weile auf die Bank: aber bald streckte er sich auf ihr aus und schlief: dabei schnarchte und röchelte er wie ein Hammel oder wie ein Ochse. wenn sie geschlachtet werden. Bis zum Morgen schlief er, ohne aufzuwachen; dann erhob er sich und ging auf und davon. Als wir sicher wußten, daß er fort war, begannen wir miteinander zu sprechen und unser Los zu bejammern; und wir sagten: ,Ach, wenn wir doch nur im Meere ertrunken wären oder die Affen uns gefressen hätten! Das wäre noch besser, als wenn man hier auf den Kohlen geröstet würde. Bei Allah, dies ist ein scheußlicher Tod! Doch was Allah will, das geschieht; und es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen! Wir kommen hier elend um, ohne daß jemand von uns weiß. Von hier können wir nicht mehr entfliehen.' Darauf gingen wir hinaus zur Insel, um uns eine Stätte zu suchen, an der wir uns verbergen könnten, oder ein Mittel zur Flucht. Es schien uns jetzt ein leichtes, zu sterben, wenn nur unser Fleisch nicht auf dem Feuer geröstet würde. Wir fanden aber keinerlei Versteck, und da es schon Abend ward, so kehrten wir in die Burg zurück, voll banger Furcht. und setzten uns dort eine Weile hin. Plötzlich erbebte wiederum die Erde unter uns, und schon kam der schwarze



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Riese auf uns zu, trat an uns heran und begann, einen nach dem andern von uns umzudrehen und zu betasten wie das erste Mal, bis ihm einer gefiel; den ergriff er und tat mit ihm dasselbe, was er am Tage zuvor mit dem Kapitän getan hatte. Er röstete ihn und fraß ihn auf und schlief auf jener Bank. Die ganze Nacht hindurch schlief er und röchelte wie ein geschlachtetes Tier. Erst bei Tagesanbruch erhob er sich wieder, ging seiner Wege und ließ uns dort wie zuvor. Da rückten wir zusammen und berieten miteinander, indem wir sprachen: ,Bei Allah. wenn wir uns ins Meer werfen und durch Ertrinken aus dem Leben scheiden, so ist das besser, als hier den Feuertod zu erleiden. Dies ist doch eine abscheuliche Todesart.' Nun hub einer von uns an: ,Höret auf meine Worte! Wir wollen eine List wider ihn ersinnen, um ihn zu Tode zu bringen, auf daß wir uns von der Angst vor ihm befreien und den Muslimen Ruhe vor seiner Gewalttätigkeit und Grausamkeit verschaffen.' Darauf sagte ich: ,Höret, meine Brüder! Wenn er denn getötet werden muß, so wollen wir zuerst einige von diesen Brettern und etwas von diesem Brennholz fortschaffen und zum Strande tragen und uns ein Boot zimmern; danach wollen wir ihn mit List umbringen. So können wir dann entweder mit dem Boote auf dem Meere wegfahren, wohin Allah uns führt, oder auch an dieser Stätte bleiben, bis ein Schiff hier vorbeifährt und uns mitnimmt. Auf alle Fälle aber können wir so. wenn es uns nicht gelingt, ihn zu töten, das Boot besteigen und aufs Meer fahren; und wenn wir auch ertrinken sollten, so brauchen wir doch nicht zu fürchten, geschlachtet und auf dem Feuer geröstet zu werden. Winkt uns das Heil, so werden wir gerettet; ertrinken wir, so sterben wir als Märtyrer!' Alle sprachen: ,Bei Allah, der Plan ist richtig.' Wir waren uns also einig und machten uns alsbald ans Werk, indem wir die Bretter aus der



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Burg hinausschleppten und uns ein Boot zimmerten; das banden wir am Ufer fest, verstauten ein wenig Wegzehrung darin und kehrten dann zur Burg zurück. Kaum ward es Abend, da erbebte auch schon wieder die Erde unter uns, und der Schwarze trat zu uns herein wie ein bissiger Hund. Und wiederum drehte und betastete er uns, einen nach dem andern, und holte sich dann einen aus unserer Mitte: mit dem machte er es wie mit den vorigen. Nachdem er ihn gefressen hatte, schlief er auf der Bank und schnarchte donnergleich. Nun erhoben wir uns sacht, nahmen zwei eiserne Bratspieße von denen, die dort standen, und hielten sie in ein heißes Feuer, bis sie rot glühten wie die Kohlen. Dann packten wir sie fest an, gingen damit auf den schwarzen Kerl dort los, während er schlief und schnarchte, legten sie an seine Augen und stießen sie hinein, indem wir uns alle mit unserer ganzen Kraft und Stärke dagegen stemmten. So wurden ihm im Schlafe beide Augen geblendet; und er stieß einen gewaltigen Schrei aus, so daß unsere Herzen vor ihm erbebten. Dann sprang er mit aller Kraft von der Bank herunter und begann nach uns zu suchen. Wir aber stoben nach allen Seiten auseinander; denn obgleich er blind war und nichts mehr sehen konnte, so hatten wir doch gewaltige Angst vor ihm, und wir hatten in dem Augenblick schon wieder den Tod vor Augen und verzweifelten an unserer Rettung. Er tastete sich mit den Händen nach dem Tore und ging hinaus, laut schreiend, während wir noch immer in Todesfurcht schwebten und die Erde unter uns von seinem Gebrüll erbebte. Als er aus der Burg hinausging, schlichen wir hinter ihm: und da draußen lief er hin und her, um uns zu suchen. Bald aber kehrte er mit einer Riesin' zurück, die noch größer und häßlicher war als er. Und kaum erblickten wir ihn und



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bei ihm jenes entsetzliche Wesen, so gerieten wir wieder in furchtbare Angst. Die beiden aber wurden unserer gewahr und kamen auf uns zu. Da machten wir eiligst das Boot los, das wir gezimmert hatten, stiegen hinein und stießen es vom Lande ab, ins Meer hinaus. Doch die beiden hatten jeder einen gewaltigen Felsblock in der Hand, und den warfen sie auf uns, so daß die meisten von uns unter den Würfen ihren Tod fanden. Nur drei von uns blieben übrig, ich und zwei andere.' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 548. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Sindbad der Seefahrer des weiteren erzählte: ,Als ich mit meinen Gefährten in das Boot gestiegen war und der Schwarze und seine Genossin die Steine auf uns warfen, fanden die meisten von uns den Tod. Nur zu dritt blieben wir am Leben. Das Boot aber trieb mit uns an eine Insel. Auf der gingen wir umher, bis der Tag sich neigte; und als die Dunkelheit über uns hereinbrach, legten wir uns in unserer Verzweiflung nieder, um zu schlafen. Aber nach einer kurzen Weile wachten wir aus unserem Schlafe auf, und da sahen wir eine Riesenschlange, die eine gewaltige Länge und einen dicken Leib hatte. Sie hatte sich im Kreise um uns geringelt, und schon schoß sie auf einen von uns los und verschlang ihn bis zu den Schultern; dann verschluckte sie das übrige; und wir hörten, wie seine Rippen in ihrem Leibe zerbrochen wurden; und danach kroch sie davon. Das alles erfüllte uns mit Staunen und Grauen, und wir trauerten um unseren Gefährten und fürchteten für unser Leben; und wir sprachen: ,Bei Allah, dies ist doch wunderbar! Jeder neue Tod ist noch scheußlicher als der frühere. Wir freuten uns schon so über unsere Rettung vor dem Schwarzen, aber die Freude



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ward nicht vollkommen. Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah! Bei Gott, wir sind dem Schwarzen und dem Tode durch Ertrinken entronnen: doch wie können wir uns vor diesem abscheulichen Schlangenungeheuer retten?' Dann standen wir auf und gingen auf der Insel umher, aßen von ihren Früchten und tranken aus ihren Bächen. Das taten wir bis zum Abend; da suchten wir uns einen mächtigen, hohen Baum, kletterten hinauf und legten uns dort schlafen; ich aber war auf den höchsten Ast gestiegen. Kaum war jedoch die Nacht hereingebrochen und die Zeit der Dunkelheit gekommen, da kroch auch die Schlange wieder heran, blickte nach rechts und nach links und schoß dann auf jenen Baum zu, in dessen Krone wir uns befanden. Sie kroch bis zu meinem Gefährten empor, verschlang ihn bis zu den Schultern und ringelte sich um ihn, oben auf dem Baume, während ich hörte, wie seine Knochen in ihrem Leibe zerbrachen; dann verschlang sie ihn ganz, vor meinen sehenden Augen. Zuletzt aber glitt sie wieder von dem Baume hinunter und kroch davon. Ich blieb die ganze Nacht hindurch auf dem Baume, doch als der Tag anbrach und das Tageslicht schien, stieg ich hinunter, wie tot vor Schrecken und Angst. Ich wollte mich ins Meer werfen. um von allem Erdenleid auszuruhen, aber mein Leben war mir doch zu lieb; ja, das Leben ist uns teuer! Und nun band ich mir ein breites Brett quer vor die Füße, ein anderes band ich an meine linke Seite, ein ebensolches an die rechte Seite, ein viertes auf meinen Bauch, und ein langes und breites band ich mir quer über den Kopf, ein gleiches wie jenes, das unter meinen Füßen war. In diesem Gerüst lag ich nun, so daß es mich von allen Seiten umgab; ich hatte es ganz fest zugebunden und mich dann mit dem Ganzen der Länge nach auf die Erde geworfen. Und ich blieb in meinem Holzgestell hegen



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wie in einem rings geschlossenen Verlies. Als es nun Abend ward, kam jene Schlange wie gewöhnlich ihres Wegs, erblickte mich und kroch auf mich zu. Aber sie konnte mich nicht verschlingen, da ich ja so auf allen Seiten von meinen Brettern umgeben war. Darauf kroch sie immer um mich herum. ohne daß sie an mich herankam, während ich ihr zusah und vor Schrecken und Grausen fast umkam. Dann entfernte sich die Schlange von mir, kehrte aber wieder zurück, und so tat sie immerfort; jedesmal, wenn sie auf mich losschoß, um mich zu verschlucken, waren ihr die Bretter. die ich überall an mich festgebunden hatte, im Wege. Von Sonnenuntergang bis Tagesanbruch ließ sie nicht davon ab; als es aber hell ward und die Sonne schien, da endlich ging die Schlange ihrer Wege, so wütend und grimmig, wie sie nur sein konnte. Nun reckte ich meine Hand aus und machte mich frei von meinem Holzkäfig. Dabei war mir, als gehörte ich schon zum Totenreich; denn ich war durch das, was ich mit der Riesenschlange erleben mußte, zu sehr mitgenommen. Dann machte ich mich auf und ging bis ans Ende der Insel; und wie ich dort aufs Meer hinausschaute, sah ich von ferne ein Schiff auf der hohen See. Da riß ich von einem Baume einen großen Ast herunter und winkte mit ihm den Seefahrern zu, indem ich ihnen zugleich laut zurief. Als sie mich erblickten, sagten sie sich: ,Wir müssen doch einmal nachsehen, was das ist; vielleicht ist es ein Mensch.' Dann fuhren sie näher an mich heran und hörten, wie ich ihnen zurief. Alsbald kamen sie zu mir, holten mich zu sich an Bord und fragten mich, was es mit mir für eine Bewandtnis habe. Da berichtete ich ihnen, was ich erlebt hatte, von Anfang bis zu Ende, alle die schweren Gefahren, die ich durchgemacht hatte. Sie aber erstaunten gewaltig darüber; dann gaben sie mir einige von ihren Kleidern, um meine Blöße



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zu bedecken, brachten mir etwas Speise, so daß ich mich satt essen konnte, und gaben mir kühles, frisches Wasser zu trinken. Dadurch ward mein Herz gestärkt und meine Seele erquickt; und so kam eine große Ruhe über mich, nachdem mich Allah der Erhabene gleichsam vom Tode wiederauferweckt hatte. Und ich pries den Höchsten für seine überreiche Huld und dankte ihm. Nachdem ich schon ganz verzweifelt gewesen war, faßte ich jetzt wieder neuen Mut, so daß mir alles, was ich erduldet hatte, wie ein Traum vorkam. Und da wir durch die Gnade Allahs des Erhabenen günstigen Wind hatten, so fuhren wir rasch dahin, bis wir zu einer Insel kamen, die es-Salâhita heißt; dort ging der Kapitän vor Anker.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 549. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Sindbad der Seefahrer des weiteren erzählte: ,Als das Schiff, auf dem ich mich befand, bei jener Insel vor Anker lag, gingen alle Kaufleute und Reisende an Land, um Handel zu treiben. Da sprach der Kapitän zu mir: ,Hör, was ich dir sage! Du bist ein armer Fremdling, und du hast uns erzählt, wie viele Schrecknisse du durchgemacht hast. Darum will ich etwas für dich tun, das dir dazu verhilft, in dein Land heimzukehren, damit du mich immerdar segnest.' ,Gern,' erwiderte ich; ,mein Segen soll dir zuteil werden.' Und er fuhr fort: ,Vernimm denn! Einst war ein Reisender bei uns an Bord, den wir verloren haben und von dem wir nicht mehr wissen, ob er noch lebt oder schon gestorben ist; denn wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Nun will ich dir seine Waren aushändigen, damit du sie



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auf dieser Insel verkaufen und dich ihrer annehmen kannst. Einen Teil von dem Erlös wollen wir dir geben als Entgelt für deine Mühe und deine guten Dienste; was übrigbleibt, wollen wir aufheben, bis wir wieder nach Baghdad kommen. Dort wollen wir uns nach den Seinen erkundigen, und ihnen wollen wir die unverkauften Waren und den Rest des Ertrages übergeben. Sag, willst du sie übernehmen und sie auf dieser Insel verkaufen, wie es Kaufleute tun?' ,Ich höre und gehorche dir, mein Gebieter,' erwiderte ich, ,du bist überaus gütig'; und ich segnete ihn und dankte ihm. Darauf befahl er den Lastträgern und den Matrosen, jene Waren auf der Insel zu landen und sie mir zu überliefern. Der Schiffsschreiber aber fragte: ,Kapitän, was sind das für Ballen, die jene Matrosen und Lastträger hinausschaffen? Welches Kaufmannes Namen soll ich aufschreiben? 'Jener antwortete: ,Schreib auf sie den Namen Sindbads des Seefahrers, der früher bei uns war und auf der Insel umkam und von dem wir nie wieder etwas gehört haben! Wir wollen, daß dieser Fremdling sie verkauft und den Erlös dafür einbringt; dann wollen wir ihm einen Teil davon geben, als Entgelt für seine Mühe beim Verkauf, und was übrigbleibt, wollen wir aufheben, bis wir nach Baghdad kommen! Wenn wir den Mann wiederfinden sollten, so wollen wir alles ihm übergeben; sonst händigen wir es den Seinen dort aus.' Der Schreiber erwiderte: ,Deine Worte sind nicht schlecht, und dein Rat ist recht!' Wie ich aber hörte, daß der Kapitän die Ballen auf meinen Namen nannte, sagte ich mir: ,Bei Allah, ich bin ja Sindbad der Seefahrer; und ich bin es, der damals bei der Insel mit den anderen ins Wasser fiel.' Doch ich faßte mich in Geduld, bis alle Kaufleute gelandet und beieinander waren, um zu plaudern und sich über die Geschäfte zu unterhalten. Dann trat ich auf den Kapitän zu und fragte ihn: ,Mein Gebieter,



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weißt du, was jener Mann war, dessen Waren du mir zum Verkauf übergeben hast?' Er antwortete mir: ,Ich weiß nichts Näheres über ihn, sondern nur, daß er ein Mann aus der Stadt Baghdad war und daß er Sindbad der Seefahrer hieß. Als wir bei einer Insel vor Anker lagen, ertranken uns dort viele Leute, und er war einer von ihnen; bis heute haben wir nie wieder etwas über ihn gehört.' Da stieß ich einen lauten Schrei aus und rief: ,Kapitän, Gott soll dich behüten! Wisse, ich bin Sindbad der Seefahrer! Ich bin nicht ertrunken. Nein, als du damals bei der Insel vor Anker gegangen warst und die Kaufleute und Reisenden an Land gingen, da stieg auch ich mit einigen Leuten aus. Ich hatte auch etwas bei mir, um es auf der Insel zu essen; und als ich mich dort niedergesetzt hatte, um auszuruhen, kam der Schlaf über mich, und ich schlief ganz fest ein. Als ich aber wieder aufwachte, fand ich kein Schiff und keinen Menschen mehr. Dies Gut ist mein Gut; diese Waren sind meine Waren! Und alle die Kaufleute, die mit Diamantsteinen handeln, haben mich gesehen, als ich auf dem Diamantberge war, und sie können mir bezeugen, daß ich Sindbad der Seefahrer bin, und wie ich ihnen meine Erlebnisse berichtet habe; ich habe ihnen erzählt, wie es mir bei euch auf dem Schiffe ergangen ist, wie ihr mich schlafend auf der Insel zurückgelassen habt, und wie ich dann niemanden fand, als ich wieder aufwachte.' Als die Kaufleute und Reisenden hörten, was ich sagte, drängten sie sich um mich herum; einige glaubten mir, andere aber hielten mich für einen Lügner. Während wir nun so miteinander redeten, sprang plötzlich einer von den Kaufleuten auf, der gehört hatte, daß ich das Diamantental nannte, und trat an mich heran und sagte zu den Umstehenden: ,Hört, was ich sage, ihr Leute! Als ich euch früher von meinem wunderbarsten Reiseabenteuer erzählte und euch sagte, nachdem



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wir unsere Tiere in das Diamantental geworfen hätten, ich wie die anderen nach meiner Gewohnheit, da hätte es sich gezeigt, daß an meinem Tiere ein Mensch hing, glaubtet ihr mir nicht, sondern ihr erklärtet mich für einen Lügner.' ,Jawohl' erwiderten sie, ,du hast uns von der Sache erzählt, aber wir konnten das doch nicht für wahr halten.' Jener Kaufmann fuhr fort: ,Dies ist der Mann, der damals an meinem Tiere hing! Er gab mir Diamantsteine von hohem Werte, deren man sonst nicht findet; ja, er hat mir mehr gegeben, als mit meinem Tiere heraufgekommen wäre. Ich reiste mit ihm zusammen, bis wir nach der Stadt Basra kamen; von dort zog er in seine Stadt, nachdem wir Abschied genommen hatten, und wir kehrten in unser Land zurück. Dies hier ist ebenderselbe Mann; er hat uns auch kundgetan, daß er Sindbad der Seefahrer heißt, und er hat uns erzählt, daß sein Schiff ihn verlassen hat, während er auf jener Insel saß. Jetzt wißt ihr, daß dieser Mann nur hierher gekommen ist, damit ihr mir die Geschichte, die ich euch erzählt habe, glauben sollt. Diese Waren da sind alle sein Eigentum. Er hat auch mit uns davon gesprochen, als er bei uns war. Nun zeigt es sich, daß er die Wahrheit gesprochen hat.' Als der Kapitän solches aus dem Munde des Kaufmanns vernahm, kam er auf mich zu. trat dicht an mich heran und faßte mich eine Weile fest ins Auge; schließlich fragte er: ,Wie sind deine Waren Waren gekennzeichnet?' Ich antwortete ihm: ,Wisse, das Zeichen meiner Waren ist doch soundso!' Zugleich aber erinnerte ich ihn an etwas, was zwischen uns geschehen war, als ich mit ihm von Basra in See ging. Da glaubte er mir, daß ich Sindbad der Seefahrer sei; und er fiel mir um den Hals, begrüßte mich und beglückwünschte mich zu meiner Rettung und sagte: ,Bei Allah, lieber Herr, deine Geschichte ist wirklich wunderbar; dir ist es seltsam ergangen. Doch Preis sei



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Allah, der dich wieder mit mir zusammengeführt und dir deine Waren und dein Gut zurückgegeben hat!' —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 550. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Sindbad der Seefahrer des weiteren erzählte: ,Als der Kapitän und die Kaufleute eingesehen hatten, daß ich selbst jener Mann war, sprach er zu mir: .Preis sei Allah. der dir deine Waren und dein Gut zurückgegeben hat!' Dann verfügte ich über meine Waren so gut, wie ich nur konnte, und ich hatte wirklich großen Gewinn auf jener Reise. Darüber freute ich mich sehr, und ich beglückwünschte mich selber, daß ich gerettet und daß mein Gut mir wiedergegeben war. Wir trieben nun auf den Inseln dort Handel und kamen schließlich nach dem Lande Sind; auch dort verkauften und kauften wir. In jenem Meere aber sah ich so viele wunderbare Dinge, daß man sie nicht zählen noch ausrechnen kann. Unter anderem erblickte ich dort einen Fisch, der wie eine Kuh aussieht, und andere Fische wie Esel. Auch sah ich einen Vogel, der aus einer Muschel des Meeres auskriecht und der seine Eier aufs Wasser legt und dort ausbrütet und niemals vom Wasser aufs Land fliegt. Schließlich, nach all unseren Fahrten, segelten wir heim mit Gottes Hilfe; Wind und Wetter waren günstig, bis wir in Basra einfuhren. Dort blieb ich einige Tage; dann aber zog ich heim gen Baghdad, begab mich in mein Stadtviertel, trat in mein Haus ein und begrüßte die Meinen und meine Freunde und Gefährten. So war ich denn froh, daß ich glücklich zurückgekehrt war und nun mein Land und Volk, meine Stadt und meine Häuser wiedersah. Ich teilte Gaben und Geschenke aus, kleidete die Witwen und Waisen und sammelte meine Gefährten und Freunde um



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mich. Und so lebte ich dahin bei Speise und Trank, bei Spiel und Sang. Ich aß gut, ich trank gut und genoß die Freuden der Geselligkeit, so daß ich bald all die Gefahren und Schrecken, die ich durchgemacht hatte, wieder vergaß; auch hatte ich ja unzählbare und unberechenbare Reichtümer auf jener Reise gewonnen. Dies also sind die wunderbarsten Dinge, die ich auf meiner dritten Reise erlebt habe: so Allah der Erhabene will. kommt morgen wieder zu mir, damit ich euch die vierte Reise erzähle, die noch wunderbarer ist als all die früheren Reisen.' *

Darauf befahl Sindbad der Seefahrer wie gewöhnlich, dem Festländer Sindbad hundert Quentchen Gold zu geben. Dann ließ er die Tische breiten, und als das geschehen war, aß die Gesellschaft zu Abend. Und dabei unterhielten sich alle noch immer voll Verwunderung über die Geschichte und alles, was darin vorgekommen war. Nach dem Essen gingen sie ihrer Wege; auch Sindbad der Lastträger machte sich, nachdem er sein Gold an sich genommen, auf den Heimweg, immer noch staunend über das, was er von Sindbad dem Seefahrer gehört hatte, und verbrachte die Nacht in seinem Hause. Als aber der Morgen sich erhob und die Welt mit seinen leuchtenden Strahlen durchwob, stand er auf, sprach das Frühgebet und begab sich zu Sindbad dem Seefahrer. Wie er dort eintrat und ihn begrüßte, hieß jener ihn fröhlich und freundlich willkommen und ließ ihn an seiner Seite sitzen, bis die andern Gäste sich einfanden. Das Essen ward gebracht, und als man gegessen und getrunken hatte und guter Dinge war, hub Sindbad der Seefahrer an und erzählte ihnen


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