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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 4

IM INSEL-VERLAG


DIE ERSTE REISE SINDBADS DES SEEFAHRERS

Wisset, ihr edlen Herren, mein Vater war ein Kaufmann, einer der Vornehmen unter dem Volke und unter den Kaufherren, und er besaß viel Geld und Gut. Er starb, als ich noch ein kleiner Knabe war, und hinterließ mir großen Reichtum an Geld und Grundbesitz und Landgütern. Wie ich nun herangewachsen war, nahm ich all das in Besitz, und ich aß die besten Speisen, trank die edelsten Weine und gesellte mich zu den jungen Leuten. Ich schmückte mich mit schönen Kleidern und wandelte mit den Freunden und Gefährten. in dem Glauben, das müsse immer so bleiben und mir zum besten dienen. So trieb ich es lange Zeit hindurch, aber schließlich erwachte ich aus meiner Sorglosigkeit. Und als ich dann wieder zu Verstande kam, bemerkte ich, daß meine Waren waren und daß mein Stand schwand. Ja, ich sah, daß alles dahin war, was ich besessen hatte, und so kam ich voll Schrecken und Entsetzen zur Besinnung. Da dachte ich an einen Ausspruch, den ich früher einmal von meinem Vater gehört hatte; das war ein Spruch unseres Herrn Salomo, des Sohnes Davids -über beiden sei Heil! —. und der



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lautet: Drei Dinge sind besser als drei andere: der Tag des Todes ist besser denn der Tag der Geburt; ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe; und das Grab ist besser als die Armut.' Und ich machte mich auf, sammelte, was mir noch an Hausrat und Kleidern verblieben war, und verkaufte es: dann verkaufte ich meinen Grundbesitz und was ich sonst noch mein eigen nannte, und schließlich hatte ich dreitausend Dirhems zusammengebracht. Nun kam es mir in den Sinn, eine Reise in fremde Länder zu machen, indem ich des Dichterwortes gedachte, das da lautet:

Durch Mühsal wird die steile Hält erklommen;
Wer Ruhm begehrt, der schlummert nicht bei Nacht.
In Meerestiefen taucht, wer Perlen suchet;
Und so gewinnt er Geld und Gut und Macht.
Wer glaubt, solch Werk' sei mühelos getan,
Verliert das Leben bald in seinem Wahn.

So faßte ich denn meinen Entschluß, machte mich auf und kaufte mir Waren und Güter und allerlei Sachen, auch Dinge, die zur Reise nötig waren; und da meine Seele nach einer Reise zur See verlangte, so bestieg ich ein Schiff und fuhr nach der Stadt Basra, zusammen mit einer Schar von Kaufleuten. Von dort reisten wir auf dem Meere weiter, viele Tage und Nächte; wir kamen von Insel zu Insel, von Meer zu Meer und von Land zu Land. Überall, wo wir landeten, trieben wir Handel und tauschten Güter ein. Und während wir so auf dem Meere dahinsegelten, kamen wir eines Tages zu einer Insel, die so schön war, daß sie einem Paradiesesgarten glich. Der Kapitän machte dort mit uns halt; und nachdem er die Anker ausgeworfen hatte, legte er die Landungsplanke an, und alle, die sich auf dem Schiffe befanden, gingen auf der Insel an Land.



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Nachdem sie sich dort Herde errichtet hatten, zündeten sie Feuer darin an und machten sich an Arbeiten mancherlei Art. Die einen kochten, die anderen wuschen, wieder andere schauten sich um. Ich gehörte zu denen, die auf der Insel umhergingen. Als dann alle Reisenden bei Essen und Trinken, Kurzweil und Spiel versammelt waren, rief plötzlich der Kapitän, der an Bord des Schiffes stand, uns Ahnungslosen mit lauter Stimme zu: ,Ihr Leute, rettet euer Leben! Lauft. kommt an Bord und beeilt euch mit dem Kommen! Laßt eure Sachen im Stich! Flieht, solang ihr noch lebt, rettet euch vor dem Verderben! Die Insel da, auf der ihr seid, ist keine Insel; sie ist ein großer Fisch, der mitten im Meere feststeht. Sand hat sich auf ihm abgelagert, so daß er nun wie eine Insel aussieht und Bäume auf ihm gewachsen sind. Als ihr das Feuer auf ihm anzündetet, da merkte er die Hitze und bewegte sich. In diesem Augenblick wird er mit euch in die Tiefe versinken, und dann werdet ihr alle ertrinken. Drum bringt euch in Sicherheit, ehe das Verderben über euch kommt!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 539. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kapitän des Schiffes den Reisenden zurief: ,Bringt euch in Sicherheit, ehe das Verderben über euch kommt! Laßt die Sachen im Stich!' und daß die Leute, als sie seine Worte hörten. fortliefen und eilends auf das Schiff kletterten; ihre Sachen, Kleider, Kessel und Feuerherde ließen sie liegen. Einige erreichten das Schiff noch, andere kamen zu spät; denn schon hatte jene Insel sich bewegt, und bald verschwand sie in der Tiefe mit allem, was darauf war, und darüber schloß sich das tosende Meer mit den brandenden Wogen ringsumher. Ich war einer von denen, die



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auf der Insel zurückbleiben mußten, und ich versank mit ihnen im Wasser; doch Allah der Erhabene behütete mich und rettete mich vom Tode des Ertrinkens; denn er sandte mir einen großen hölzernen Zuber, eins der Geräte, in denen die Leute vorher gewaschen hatten. Besorgt um das süße Leben, hielt ich den Zuber mit der Hand fest und setzte mich rittlings darauf. und dann ruderte ich mit meinen Beinen im Wasser wie mit Riemen, während das Spiel der Wogen mich bald nach rechts und bald nach links trieb. Der Kapitän aber hatte inzwischen die Segel des Schiffes gespannt und war mit denen, die an Bord hatten kommen können, davongefahren, ohne sich um die Ertrinkenden zu kümmern. Ich schaute sehnsüchtig jenem Schiffe nach, bis es meinen Blicken entschwand; da war ich des Todes gewiß. Und dann brach die Nacht über mich herein, während ich in solcher Not war. Die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch blieb ich in der gleichen Lage; dann aber trieben günstige Winde und Wogen mich an den Fuß einer hohen Insel, deren Bäume mit ihren Ästen über das Wasser hinausragten. Ich konnte den Zweig eines hohen Baumes ergreifen und mich daran festhalten, nachdem ich schon den Tod vor Augen gesehen hatte. An jenem Zweige kletterte ich entlang, bis ich auf die Insel springen konnte. Da sah ich, daß meine Füße geschwollen und starr geworden waren und daß an ihren Sohlen Spuren von Bissen der Fische waren. Das hatte ich vorher in meiner großen Angst und Verzweiflung gar nicht bemerkt. Ich warf mich auf den Boden der Insel nieder, wie tot, verlor die Besinnung und versank in einen bleiernen Schlaf. So blieb ich bis zum andern Morgen liegen, und als die Sonne über mir aufging, erwachte ich. Da aber meine Füße geschwollen waren, bewegte ich mich weiter, so gut ich konnte; bald rutschte ich wie ein Kind, bald kroch ich auf den



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Knien. Nun waren auf der Insel viele Früchte und Quellen süßen Wassers; und so begann ich mich von jenen Früchten zu nähren. Aber noch eine Reihe von Tagen und Nächten blieb ich in derselben Verfassung; dann erst regte sich in mir neue Kraft, meine Lebensgeister kehrten zurück, und ich konnte mich besser bewegen. Da entschloß ich mich, am Strande der Insel entlang zu gehen, und sah mich zwischen den Bäumen um, was Allah der Erhabene dort wohl erschaffen haben möchte. Auch machte ich mir einen Stab aus einem Aste der Bäume und stützte mich auf ihn beim Gehen. So blieb es noch eine Weile, bis ich eines Tages bei meiner Wanderung am Strande der Insel in der Ferne eine Gestalt erblickte. Ich dachte, das wäre ein wildes Tier oder ein Ungeheuer des Meeres; doch als ich mich näherte und immer genauer hinschaute, sah ich, daß es ein edles Roß war, das dort am Strande nahe dem Meeresufer angebunden stand. Wie ich aber ganz nahe herankam, stieß es einen gewaltigen Schrei aus, so daß ich erschrak und zurücklaufen wollte. Da kam plötzlich ein Mann aus der Erde heraus, rief mich an und lief mir nach. Er sagte: ,Wer bist du? Woher kommst du? Was führt dich an diese Stätte?' ,Lieber Herr,' erwiderte ich, ,ach, ich bin ein Fremdling, ich war auf einem Schiffe, und ich fiel mit mehreren anderen, die auf ihm fuhren, ins Wasser. Da sandte mir Allah einen Zuber aus Holz. und ich setzte mich darauf, und er schwamm mit mir dahin, bis mich die Wellen an diese Insel trieben.' Als der Mann meine Worte gehört hatte, ergriff er mich bei der Hand und sprach zu mir: ,Geh mit mir!' Dann führte er mich in einen unterirdischen Gang und ließ mich in eine große Halle unter der Erde eintreten. Dort setzte er mich an den Ehrenplatz, der Tür gegenüber, und brachte mir etwas zu essen; und da mich hungerte, aß ich, bis ich ganz satt war und mich gestärkt hatte.



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Dann fragte er mich von neuem, wer ich sei und was ich alles erlebt hätte; und ich berichtete ihm alles, was mir widerfahren war, von Anfang bis zu Ende. Er hörte meiner Erzählung mit wachsendem Erstaunen zu, und so sagte ich zu ihm, als ich meinen Bericht beendet hatte: ,Bei Allah, ich beschwöre dich, lieber Herr. zürne mir nicht! Ich habe dir die volle Wahrheit über mich und meine Erlebnisse kundgetan; und nun bitte ich dich, daß du mir sagest, wer du bist, und weshalb du hier in dieser Halle unter der Erde wohnst, und warum du jene Stute an der Meeresküste angebunden hast.' Da gab er mir zur Antwort: ,Wisse, wir sind eine ganze Schar von Leuten, die über diese Insel verteilt sind. Wir sind nämlich die Stallmeister des Königs Mihrdschân, und unter unserer Aufsicht stehen alle seine Rosse. In jedem Monate bringen wir, wenn der Neumond aufgeht, die edlen Stuten hierher, die noch nicht gedeckt sind, und binden sie auf dieser Insel fest. Dann verstecken wir uns in einer solchen Halle unter der Erde, damit keiner uns sieht. Darauf kommt ein Seehengst, wenn er die Stute wittert, und steigt ans Land. Er wendet sich nach allen Seiten um, und wenn er niemanden sieht, so springt er auf und stillt sein Begehr an der Stute. Nachdem er wieder abgesprungen ist, will er jene mit sich nehmen, aber die Stute kann nicht mitgehen, weil sie ja angebunden ist. Dann fängt der Hengst an zu schreien und stößt mit dem Kopfe und schlägt mit den Hufen wider die Stute und wiehert immerzu. Wenn wir den Lärm hören, so wissen wir, daß er abgesprungen ist, und wir eilen ihm mit lautem Geschrei entgegen; der Hengst fürchtet sich dann vor uns und steigt wieder ins Meer hinab. Die Stute aber wird trächtig und bringt ein Hengstfohlen oder ein Stutfohlen zur Welt, das einen Schatz Goldes wert ist und auf Erden nicht seinesgleichen



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hat. Dies ist jetzt die Zeit, daß der Seehengst heraufkommt: und so Allah der Erhabene will, werde ich dich mit mir zu König Mihrdschân nehmen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 540. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Stallmeister zu Sindbad dem Seefahrer sprach: ,Ich will dich mit mir zu König Mihrdschân nehmen und dir unser Land zeigen. Wisse aber, wenn du uns nicht hier getroffen hättest, so hättest du sonst keinen Menschen an dieser Stätte gesehen, und du wärest elend umgekommen, ohne daß jemand um dich gewußt hätte. Ich werde so die Ursache deiner Rettung und deiner Rückkehr in die Heimat sein.' Da fichte ich den Segen des Himmels auf sein Haupt herab und dankte ihm für seine große Güte. Während wir so miteinander redeten, kam der Hengst aus dem Meere herauf und stieß einen lauten Schrei aus; dann besprang er die Stute, und als er sein Begehr an ihr gestillt hatte, sprang er ab und wollte sie mit sich nehmen; aber er vermochte es nicht, und sie begann auszuschlagen und wieherte ihn an. Da griff der Stallmeister zu Schwert und Schild, lief zur Tür des Saales hinaus und rief nach seinen Gefährten: ,Vorwärts! Auf den Hengst los!' und schlug dabei mit dem Schwerte auf den Schild. Alsbald eilte eine Schar herbei, schreiend und die Speere schwingend; vor ihr erschrak der Hengst, lief davon und stürzte sich ins Meer wie ein Wasserbüffel und verschwand in den Fluten. Darauf setzte sich der Mann nieder, aber schon nach einer kurzen Weile kamen seine Gefährten zu ihm, deren jeder eine Stute führte. Wie sie mich bei ihm erblickten, fragten sie mich, was es mit mir sei. Ich erzählte ihnen dasselbe, was ich jenem berichtet hatte. Dann traten sie zu mir, breiteten den



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Tisch hin, um zu essen, und luden mich dazu ein; so aß ich denn mit ihnen. Schließlich erhoben sie sich wieder und stiegen auf die Rosse, indem sie mir auch eine Stute zum Reiten gaben und mich mit sich nahmen. So ritten wir immer weiter dahin. bis wir zur Stadt des Königs Mihrdschân kamen. Dort traten sie bei ihm ein und machten ihn mit meiner Geschichte bekannt; er ließ mich rufen, und sie führten mich hinein und ließen mich vor ihm stehen. Da sprach ich den Gruß vor ihm, und er erwiderte ihn und hieß mich willkommen und nahm mich ehrenvoll auf; dann fragte er mich nach mir selber, und ich berichtete ihm alles, was mir widerfahren war, meine sämtlichen Erlebnisse von Anfang bis zu Ende. Er war über meine vielen Abenteuer erstaunt und sprach zu mir: ,Mein Sohn, bei Allah, du bist doppelt gerettet worden. Wäre dir nicht ein langes Leben bestimmt, so wärest du diesen Fährnissen nicht entronnen. Doch Allah sei Preis für deine Rettung!' Dann erwies er mir hohe Ehren, indem er mich an seiner Seite sitzen ließ und mich mit Reden und Taten huldvoll behandelte. Ferner machte er mich zum Hafenmeister, der alle einlaufenden Schiffe zu verzeichnen hatte. Ich wartete ihm nunmehr auf, um seine Geschäfte zu erledigen; und er bezeigte mir seine Huld und tat mir viel Gutes; auch kleidete er mich in ein schönes und prächtiges Gewand. Ja, ich wurde sogar zum Vermittler bei ihm für die Bittgesuche und erledigte die Anliegen des Volkes. So lebte ich eine lange Zeit bei ihm; aber jedesmal, wenn ich zum Hafen ging, fragte ich die reisenden Kaufleute und die Seeleute nach der Stadt Baghdad, ob vielleicht einer mir darüber Auskunft geben würde, daß ich mit ihm hätte heimfahren können. Doch keiner kannte sie, und keiner wußte jemanden, der dorthin fuhr. Darüber war ich bekümmert, und ich ward der langen Fremdlingschaft überdrüssig; allein es



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ging noch eine Weile so weiter. Eines Tages nun kam ich zu König Mihrdschân und fand bei ihm eine Schar von Indern. Als ich die begrüßte, erwiderten sie meinen Gruß, hießen mich willkommen und fragten mich nach meiner Heimat. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 541 Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Sindbad der Seefahrer des weiteren erzählte: ,Wie ich sie dann nach ihrer Heimat befragte, sagten sie, sie gehörten verschiedenen Kasten an; die einen seien Schakirîja', und das sei die vornehmste ihrer Kasten, die kein Unrecht und keine Gewalttat gegen einen Menschen begehen; andere seien Brahmanen, und das seien Leute, die keinen Wein trinken, aber doch glücklich und heiter leben bei Spiel und Gesang, und die auch Kamele, Pferde und Rinder besitzen. Ferner taten sie mir kund, daß das Volk der Inder in zweiundsiebenzig Kasten zerfällt; und darüber war ich sehr erstaunt. Im Reich des Königs Mihrdschân sah ich auch eine Insel namens Kâbil, auf der man die ganze Nacht hindurch den Klang der Tamburins und der Trommeln hört; aber die Bewohner der anderen Inseln und die Reisenden sagten uns, die Leute dort seien ein ernsthaft und verständig Volk. Und ferner sah ich in jenem Meere einen Fisch, der zweihundert Ellen lang war', und einen anderen, der ein Gesicht wie eine Eule hatte. Ja, ich sah auf jener Reise der 'Wunder und Seltsamkeiten viel, und wollte ich sie alle erzählen, so würde die Zeit nicht reichen. Ich schaute mich also auf den Inseln um und sah alles, was es dort gab, bis eines Tages, als ich wie gewöhnlich



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mit dem Stabe in der Hand am Hafen stand, ein großes Schiff mit vielen Kaufleuten einlief. Wie es in den Stadthafen und zum Ankerplatze kam, ließ der Kapitän die Segel reifen und ging am Lande vor Anker; die Landungsplanke wurde ausgeworfen, und die Mannschaft begann die ganze Ladung des Schiffes zu löschen. Sie waren aber lange bei der Arbeit, während ich immer dabeistand und alles aufzeichnete. Schließlich sagte ich zu dem Kapitän: ,Ist noch etwas in deinem Schiffe?' ,Ja, Herr,' erwiderte er, ,ich habe im Raum noch Waren, deren Besitzer uns unterwegs bei einer der Inseln ertrank, während wir weiterfahren mußten. Diese Waren sind jetzt als anvertrautes Gut bei uns; wir wollen sie verkaufen und den Erlös dafür genau buchen, damit wir ihn den Seinen in der Stadt Baghdad, dem Horte des Friedens, ausliefern können.' Da fragte ich den Kapitän: ,Wie hieß denn der Mann, dem die Waren gehörten?' ,Er hieß Sindbad der Seefahrer,' erwiderte jener, ,er ist uns im Meere ertrunken.' Als ich diese Worte von ihm hörte, sah ich ihn genauer an, und wirklich, ich erkannte ihn. Da stieß ich einen lauten Schrei aus und sagte dann: ,Kapitän, wisse, ich bin der Besitzer der Waren, von denen du sprichst! Ich bin jener Sindbad der Seefahrer, der mit einer Schar von Kaufleuten bei der Insel dein Schiff verließ. Als der Fisch, auf dem wir waren, sich bewegte und du uns zutiefst, da kamen ja manche an Bord zurück, die andern aber fielen ins Wasser. Ich gehörte zu denen, die im Meere versanken; doch Allah der Erhabene behütete mich und rettete mich vor dem Ertrinken durch einen großen Zuber, eins von den Geräten, in denen die Reisenden gewaschen hatten. Ich setzte mich darauf und begann mit meinen Beinen zu rudern, und günstige Winde und Wellen trieben mich an diese Insel. Hier ging ich an Land, und Allah der Erhabene ließ mich in seiner



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Gnade mit den Stallmeistern des Königs Mihrdschân zusammentreffen. Die führten mich mit sich, bis wir zu dieser Stadt kamen, und brachten mich vor ihren König. Dem erzählte ich meine Geschichte, und da erwies er mir seine Huld; er machte mich zum Hafenmeister dieser Stadt: es ist mir in seinem Dienste gut gegangen, und ich habe Gnade vor seinen Augen gefunden. Die Waren, die du noch bei dir hast, sind also meine Waren und mein Eigentum.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 542. zweiundvierzigste Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß damals, als Sindbad der Seefahrer zum Kapitän sagte: ,Diese Waren, die du noch bei dir hast, sind meine Waren und mein Eigentum', jener ausrief: ,Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah, dem Erhabenen und Allmächtigen! Treu und Glauben gibt es nicht mehr.' Ich aber fuhr fort: ,Kapitän, was soll das bedeuten Du hast doch gehört, wie ich dir meine Geschichte erzählte!' Darauf entgegnete er: ,Weil du mich sagen hörtest, ich hätte Waren bei mir, deren Besitzer ertrunken ist. willst du sie nun widerrechtlich an dich nehmen: das ist eine Sünde! Wir haben doch selbst gesehen, wie er ertrank, und wie noch viele andere Reisende bei ihm waren, von denen nicht ein einziger gerettet wurde. Wie kannst du nun behaupten, daß diese Waren dir gehörem' ,Kapitän,' erwiderte ich, ,hör doch auf meine Worte und verstehe den Sinn meiner Rede! Dann wirst du einsehen, daß ich die Wahrheit sage. Die Lüge ist das Kennzeichen der Heuchler.' Und dann erzählte ich dem Kapitän alles, was sich mit mir zugetragen hatte, von der Zeit an, da ich mit ihm von Baghdad abfuhr, bis wir zu jener Insel kamen, auf der wir ins Wasser versanken, auch erinnerte



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ich ihn an einige Dinge, die zwischen uns beiden vorgefallen waren. Da waren der Kapitän und die Kaufleute von meiner Wahrhaftigkeit überzeugt; und als sie mich wiedererkannten, beglückwünschten sie mich zu meiner Rettung und sagten alle: ,Bei Allah, wir haben nicht geglaubt, daß du dem Tod in den Wellen entronnen wärest. Allah hat dir wahrlich ein neues Leben geschenkt.' Dann gaben sie mir die Waren, und ich fand meinen Namen darauf geschrieben, und nichts fehlte daran. Und alsbald öffnete ich sie und holte kostbare Dinge von hohem Werte heraus; die gab ich einigen Matrosen des Schiffes zu tragen und brachte sie dem König zum Geschenke dar. Auch tat ich ihm kund, daß dies das Schiff sei, auf dem ich gewesen wäre, und fügte hinzu, daß ich alle meine Waren vollzählig wiedererhalten hätte und daß dies Geschenk von daher stamme. Darüber wunderte sich der König gar sehr, und die Wahrheit alles dessen, was ich erzählt hatte, ward ihm von neuem offenbar; und er gewann mich sehr lieb und erwies mir seine Huld in noch höherem Maße als zuvor und verlieh mir als Gegengabe ein großes Geschenk. Dann kaufte ich mir Waren und Güter und allerlei Sachen aus jener Stadt, und als die Kaufleute mit dem Schiffe wieder abfahren wollten, ließ ich alle meine Habe an Bord bringen. Darauf trat ich zum König 'ein und dankte ihm für seine überreiche Güte. Doch zugleich bat ich ihn um Erlaubnis, in mein Land und zu den Meinen heimkehren zu dürfen. Da sagte er mir Lebewohl und schenkte mir zum Abschied noch vielerlei von den Erzeugnissen seiner Stadt. Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte und an Bord gegangen war, traten wir die Reise an mit der Erlaubnis Allahs des Erhabenen. Das Glück war uns hold, und das Geschick war uns günstig, so daß wir Tag und Nacht ununterbrochen fahren konnten, bis wir bei der Stadt Basra



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ankamen. Dort gingen wir an Land und hielten uns eine kurze Zeit auf; und ich war froh, daß ich nun glücklich in mein Heimatland zurückgekehrt war. Dann begab ich mich nach der Stadt Baghdad, dem Horte des Friedens, mit meinen Lasten und Waren und Gütern, einem großen Schatze, der von hohem Werte war. Dort ging ich in mein Stadtviertel und trat in mein Haus ein; und alle die Meinen und meine Freunde eilten herbei. Nun erwarb ich mir Eunuchen und Diener und Mamluken, Odalisken und schwarze Sklaven, bis ich einen großen Haushalt hatte. Ferner kaufte ich mir Häuser und Grundstücke, noch mehr, als ich früher besessen hatte. Auch gesellte ich mich wieder zu den Freunden und verkehrte mit den Genossen noch enger als zuvor. Ich vergaß alles, was ich durchgemacht hatte, Mühsal in der Fremde, Qualen und Schrecken. Ich gab mich den Wonnen und Freuden hin, den leckeren Speisen und den köstlichen Weinen, und lebte immer so weiter. —Das also war meine erste Reise; morgen werde ich euch, so Allah der Erhabene will, die zweite meiner sieben Reisen erzählen.' *

Darauf ließ Sindbad der Seefahrer das Nachtmahl bereiten und lud Sindbad den Festländer dazu ein; dann befahl er. ihm hundert Quentchen Gold zu geben, und entließ ihn mit den Worten: ,Du hast uns heute durch deine Gesellschaft erfreut.' Der Lastträger dankte ihm, nahm das Geschenk mit und ging seiner Wege, indem er staunend darüber nachdachte, was alles geschehen und den Menschen begegnen kann. Die Nacht über schlief er in seiner Wohnung; doch als es Morgen geworden war, begab er sich wieder zum Hause Sindbads des Seefahrers und trat zu ihm ein; jener hieß ihn ehrenvoll willkommen und ließ ihn an seiner Seite sitzen. Und nachdem dann alle seine



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anderen Freunde sich versammelt hatten, ließ er ihnen Speise und Trank vorsetzen; und sie waren heiter und guter Dinge. Nun begann Sindbad der Seefahrer von neuem zu erzählen und berichtete über


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