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Kapitel 

Die deutschen Heldensagen


von

Friedrich von der Leyen

Zweite, völlig neubearbeitete Auflage München 1923

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung

Oskar Beck


2. Amleth

Die Sage von Amleth besitzen wir in der ausführlichen Darstellung des Saro Grammaticus (12./13. Jahrhundert).

Horvendill (deutsch Orendel, nord. Aurwandil), ein leuchtend tapferer Held, besiegte den Coller im Zweikampf auf einer lieblichen Insel und sorgte für sein ehrenvolles Begräbnis. Seine Gemahlin war Gerutha (deutsch Gertrud), und sein Sohn Amleth. Der Bruder Fengo neidete dem Horwendill sein Glück, tötete ihn und führte seine Frau Gerutha heim.

Amleth, dem die Aufgabe der Vaterrache zufiel, stellte sich blödsinnig, damit ihn der König für ungefährlich hielte und damit er seine Rachepläne in Ruhe schmieden könnte. Es regte sich wohl am Hof des Fengo der Verdacht, daß Amleth klug und verschlagen sei, doch wußte er seine Feinde immer von neuem durch Beweise der Narrheit zu täuschen, nur sagte er jedesmal in der Hülle des Unsinns die Wahrheit. So saß Amleth einmal am Herd, wühlte mit den Händen in der Asche, schnitzte hölzerne Pflöcke und härtete sie am Feuer. Auf die Frage, was er treibe, antwortete er, er verfertige Pfeile zur Rache für seinen Vater. Alle lachten, aber die Pflöcke waren ihm später bei seinem Rachewerk wirklich von Nutzen. Nun wollte man den Amleth durch ein schönes Mädchen verführen und dadurch zeigen, daß er ein natürlicher Mensch war wie die anderen und kein Verrückter. Jedoch ein milchbruder ging mit, um ihn zu warnen, und der Jüngling setzte sich verkehrt aufs Pferd, so daß alle lachten, und gebärdete sich närrischer als je.

Seine Begleiter sagten, als sie einen Wolf sahen, das sei ein Füllen. Amleth erwiderte: davon sind zu wenig im Gestüt meines Oheims. Die Begleiter sahen dann ein großes Ruder eines gestrandeten Schiffes. Das sei ein sehr großes Messer, meinten sie. Damit kann man freilich einen sehr großen Schinken schneiden, antwortete Amleth und meinte mit dem Schinken das Meer. Den Sand nannten seine Begleiter Mehl, Amleth erwiderte: er sei gewiß von den weißlichen Meeresstürmen gemahlen (hier ist ein Wortspiel, im Nordischen heißt mjöl das Mehl und melr der Sand).



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Als Amleth das Mädchen bewältigen wollte, warnte ihn sein Freund durch eine Bremse, an deren Hinterleib er einen Strohhalm befestigt hatte. Das sollte, wie man sagt, bedeuten, daß Aufpasser in der Nähe stünden. Deshalb schleppte der Jüngling das Mädchen dahin, wo keine Menschen waren, und vollbrachte dort an ihr seinen Willen. Da sie ihn liebte, versprach sie ihm gern Schweigen. Amleth sagte zu Hause, er habe das Mädchen beschlafen und dabei auf dem Huf eines Pferdes (d. i. die Blume Huflattich, sie heißt im Dänischen Pferdehuf), einem Hahnenkamm (das ist wieder die Blume) und dem Tafelwerk eines Daches (das ist Schilf) geruht. Alle lachten und verstanden nicht den Doppelsinn. Das Mädchen aber beteuerte, Amleth habe ihr nichts getan und man glaubte ihr. Dem freundlichen Warner sagte Amleth auf seine Weise seinen Dank.

Nun wollten den Jüngling seine Feinde dadurch überführen, daß sie ihn seiner Mutter gegenüberstellten und dabei durch einen Späher belauschen ließen. Amleth stellte sich, als er die Mutter sah, ganz toll. Er sprang wie ein Hahn auf das Stroh, unter dem der Lauscher versteckt lag, spürte ihn, durchbohrte ihn, zerstückelte ihn und warf die Stücke durch den Abtritt dann den Schweinen zum Fraß vor. Darauf schmähte er seine Mutter mit den entsetzlichsten Vorwürfen und schalt sie wegen ihrer tierischen Lüsternheit. Als er gefragt wurde, ob er jenen Späher nicht gesehen, antwortete er achselzuckend, jener sei in die Kloake gefallen, im Kote dort versunken und von den Schweinen schließlich gefressen worden.

Fengo schickte den Amleth, dessen Wesen ihm unheimlicher und unheimlicher wurde, nun nach England. Seinen Begleitern gab er Briefe mit, des Inhalts, daß der König von England ihn töten sollte. Amleth fand die Briefe; er schabte aber die Schriftzeichen fort und schrieb darauf, seine Begleiter sollten getötet werden. Am Hofe des Königs behauptete Amleth nach dem Essen, das Brot sei blutig gewesen, der Wein habe nach Eisen geschmeckt, das Fleisch habe nach Leichen gerochen, der König habe Knechtesaugen und die Königin drei Gewohnheiten von Mägden. Alles stellte sich bei genauen Nachforschungen als richtig heraus. Der englische König gab nun dem Amleth seine Tochter zur Ehe, die Begleiter ließ er aufhängen. Zur Sühne, als Wehrgeld, empfing Amleth Gold, das er im Feuer schmelzen und in ausgehöhlte Stöcke gießen ließ.

Nach einem Jahre genau kehrte Amleth zurück, als des Königs



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Mannen grade seine Leichenfeier lärmend begingen, so hatte er es mit seiner Mutter verabredet und sie hatte über die Decke der Halle ein Gewebe gespannt. Das anfängliche namenlose Erschrecken und die Bestürzung, als vor den Halbberauschten der Totgeglaubte plötzlich erschien, wich bald dem übermut der Trunkenheit. Man fragte den Amleth nach seinen Begleitern, da zeigte er die Stöcke, und dieser Einfall wurde wieder mit Jubel begrüßt. Darauf berauschte Amleth die Edelinge ganz, ließ das Netz, das seine Mutter gespannt, von der Halle herunter, verwirrte es durch die Pflöcke, die er vordem gehärtet, in das Unauflösliche und legte Feuer an den Saal, in dem nun alle Mannen verbrannten. Darnach begab er sich in das Schlafgemach seines Oheims, nahm dessen Schwert und befestigte an dessen Stelle das eigene, bei dem man ihm, damit er sich nicht damit schade, durch Scheide und Schwert einen Nagel geschlagen. Amleth weckte den Oheim, zeigte ihm die brennende Halle; nun begehre er die Rache für seinen Vater. Fengo sprang auf, vergeblich suchte er das Schwert aus der Scheide zu ziehen und erhielt den Todesstoß.



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In dieser seltsamen und großartigen Dichtung werden wir wie bei der von den Halfdansöhnen durch die Fülle der Ereignisse und durch die vielen Doppelsinnigkeiten zuerst verwirrt. Auch erkennen wir wie dort das Bestreben, eine abwechslungsreiche Handlung zu bilden und die Spannung zu dehnen, dazu die Absicht, die Klugheit Amleths überall zu erhöhen. überhaupt sind im Inhalt und in der Entwicklung die Ähnlichkeiten zwischen Amleth und der Geschichte von Helgi und Hroar auffällig genug, eine enge Verwandtschaft von ihnen wahrscheinlich. Hier wie dort vorgebliche Narrheit, eine immer sich verschiebende und endlich ausgeführte Rache am Mörder des Vaters, am Oheim, Doppelsinn der Worte und manche Märchenmotive. Hier Rausch, dort Traum und Rausch, und in beiden jähe Verwandlung von Rausch und von Traum in furchtbarer Wirklichkeit. Dem Amleth fehlt der Zauber und Regin, bei den Halfdansöhnen fehlt das Mädchen und die Mutter. Auch der Wahnsinn äußert sich in beiden Geschichten anders, er verbindet sich mit der von Amleth viel organischer.



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Wir sind nun auch bei der Amlethsage zu dem Schluß berechtigt, daß eine ältere, einfachere Dichtung zugrunde liegt und daß ihre Vorgänge in der Pflege späterer Erzähler sich wuchernd vermehrten. Die späten Zutaten abzuschälen und die Dichtung selbst, die die Anspielung eines Skalden vielleicht in das Ende des zehnten Jahrhunderts weist, wieder herzustellen, ist keine ganz unlösbare Aufgabe, wenn auch viele Einzelheiten ungewiß bleiben . — Unter den Zutaten sind einige märchenhaft. Von der Briefvertauschung und von Amleths Scharfsinnsproben am Hof des englischen Königs hat die Forschung so gut wie sicher gemacht , daß sie vom Orient stammen und nicht vor dem elften Jahrhundert in unsre Sage kamen, und zwar die Scharfsinnsproben nach Dänemark. Auch ein Wortspiel, das mit dem Pferdehuf, dem Hahnenkamm und dem Dachtafelwerk, bringt einen dänischen Pflanzennamen und klingt, in seiner Freude an krausem und buntem Doppelsinn, nach dem Märchen. Ebenso empfindet man die närrische, tolle Grausamkeit Amleths gegen den Lauscher eher als kindische Märchengrausamkeit denn als Grausamkeit einer heroischen Dichtung. Daß Amleth wie Aschenbrödel am Herde hockt und sich in seiner Narrheit verkehrt auf das Pferd setzt, das sind wieder verbreitete Märchenmotive und späte Ausschmückungen. Als eine Einfügung, die im Organismus der Rachesage keine Bedeutung hat und nur die Mannigfaltigkeit der Begebnisse ins Romantische steigern soll, erscheint uns schließlich die Verführung des Mädchens. Wir dürfen sie ebenfalls abtrennen.

Andere Motive der Amlethsage sind der klassischen Sage von Brutus entnommen. Sie deuten auf einen Erzähler gelehrter Bildung, der eine germanische Dichtung aus der klassischen überlieferung bereichern wollte. In der Brutussage, wie Livius sie uns erzählt, stellt sich Brutus dumm, weil er den Nachstellungen seines königlichen Oheims entgehen will, der ihm den Vater getötet.



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Brutus wird dann den Söhnen des Tarquinius als Spaßmacher beigegeben. In Delphi opfert er einen einfachen Reisestab, der aber im Innern einen goldenen Stab birgt, er opfert ihn als Symbol seines Geistes. Diesen Stab nahm also der Erzähler , den der töricht sich gebärdende Brutus an seinen Amleth erinnerte, in unsre Dichtung. Doch ließ er das Motiv nicht unverändert, sondern glich es der germanischen Anschauung an: bei ihm ist das Gold im Stab Wergeld für die Erschlagenen. Schließlich fügte er die Stäbe mit großer Kunst in den Organismus der Dichtung: die Antwort Amleths: meine Gefährten sind diese Stäbe, gab den erschrockenen und verstörten Mannen des Königs die Sorglosigkeit zurück. — Das Geschick, die Gelehrsamkeit und die Kunst in diesem Brutusteil machen wahrscheinlich, daß sein Einfüger ein Isländer war.

Alsdann begegnen wir in Saxos Bericht einer Menge von Doppelsinnrgkeiten und Wortspielen. Sie weisen wieder auf einen Isländer als Dichter und sind erst allmählich so zahlreich geworden . Das erste Wortspiel ist das mit den Pflöcken, der Pflock heißt im Nordischen nämlich krókr und krókr heißt zugleich die Nachstellung, das zweite ist das von mjöl Mehl und melr Sand, dann kommen die Vergleiche vom Wolf und Füllen, von Messer und Ruder, von Meer und Mühle. Der letzte, der vom Meer, ist einem isländischen Skalde des zehnten Jahrhunderts bekannt, er nennt das Meer Amleths Mühle.

Die für uns nicht ganz klare Warnung durch die Bremse ist ebenfalls in der Manier der Skalden. Auch die Szene von Amleth und seiner Mutter, die dann Sato durch seine Rhetorik und sein Pathos etwas aufdonnerte, hat in der nordischen Dichtung ein Gegenstück. In der Dichtung von den Schildungen tritt einmal Hrolf seiner Mutter Yrsa, die sich mit dem geizigen Adils vermählt, ähnlich entgegen wie Amleth der Gerutha. Die isländische Dichtung mag deshalb die Mutterszene enthalten haben.



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Wir gelangen nun etwa zu dieser isländischen Dichtung: Amleth, dem Fengo den Vater erschlug und mit dessen Mutter er sich vermählte, stellt sich blöde und neckt den König und die Seinen durch doppeldeutige Worte. Die Mutter tritt Amleth mit strafenden Worten gegenüber, dann macht er sie zu seiner Verbündeten. Weil Fengos Verdacht wächst, geht er vom Hof des Königs nach England. Als man ihn tot glaubt, kehrt er bei einem Gelage zurück, verbrennt die Mannen des Königs und tötet den Wehrlosen, dem er das Schwert vorher geraubt.

Diese Schöpfung erweiterten und bereicherten isländische Erzähler durch künstliche und gelehrte Zutaten, dann ist sie wohl nach Dänemark gewandert. Dort hat sie sich mit bem Schmuck des Märchens geschmückt.

In der isländischen Dichtung erkennen wir noch eine schöne, mächtig anschwellende Steigerung. Zuerst erscheint der Bursche, den alle verlachen und doch ein wenig fürchten. Dieser Amleth wächst vor unsern Augen, tritt der Mutter strafend gegenüber, gewinnt ihre mächtige Hilfe und dann, unbarmherzig wie das Schicksal selbst, rächt er den Vater. Vor allem die Schlußszene: Amleths Erscheinung und Rache ist von einer grandiosen dramatischen Wirkung. Der Jüngling, den sie tot glauben, steht leibhaftig unter den halbberauschten Mannen, die lachend und mitleidig von ihm reden: er verbrennt die Trunkenen und zeigt dem wehrlosen König, bevor er ihn erschlägt, mit einer wilden Gebärde die brennende Halle.

Nun meldet sich ebenso gebieterisch wie bei der Dichtung von den Halfdansöhnen die alte Frage: war die isländische Dichtung von Amleth die Umdichtung eines germanischen, genauer eines dänischen Liedes des siebenten Jahrhunderts? Da wiederum jedes äußere Zeugnis fehlt, werden wir eine Gewißheit auch hier nicht erreichen. Wir können nur sagen, daß die Verwandtschaft von Amleth mit den Liedern der Völkerwanderung vielleicht



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noch enger als die des Liedes von den Halfdansöhnen. Die große Erscheinungsszene am Schlusse ist, wie wir bald erfahren werden, der Szene wie Ermanarich überfallen wird, ähnlich. Wir erinnern auch hier 1%f) einmal an die Geschichte von Chlotar , wie er sich dem Feinde zeigt, der ihn tot glaubt (S. 49). Fengos Tod, dem man die Waffe nahm, entspricht, wie uns bekannt dem Tod des gotischen Turismod und dem Alboins ((3.23). Wie bei Alboin verbindet sich auch bei Amleth die Frau mit dem Rächer, um den Helden ganz wehrlos zu machen, dem der Tod bestimmt ist.

Von Amleth als König erzählt Saxo Grammaticus noch mancherlei, breit, märchenhaft und indem er schon einmal verwandte Motive wiederholt. Auch in Island hat die Sage von Amleth weiter gelebt, im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert erscheint sie dort als Märchen, und erhielt sich bis zur Gegenwart. Die dummen und klugen Antworten und die Narrenstreiche sind das Rückgrat dieses Märchens geworden, sein Held heißt Brj ám. — Vor allem aber hat Shakespeare, wie jedermann weiß, den Bericht des Saro zu seinem Drama umgebildet. Die alte Dichtung war ein treues und wildes Abbild der Sitten und der Welt unsrer Vorfahren, ihrer Rache, ihres Heldentums und ihrer Verschlagenheit. Shakespeares Drama gibt das Bild der Germanen , in deren Brust mit dem Christentum und seinen Zweifeln die Feigheit des Gewissens, des Gedankens Blässe und die Furcht vor der anderen Welt lähmend, quälend und vernichtend einzog, während die Sehnsucht nach dem großen, ungebrochenen Heldentum der Vorfahren niemals erlöschen kann.


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