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Kapitel 

Die deutschen Heldensagen


von

Friedrich von der Leyen

Zweite, völlig neubearbeitete Auflage München 1923

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung

Oskar Beck


Einleitung

Die große und unbarmherzige Zeit der germanischen Völkerwanderungen ist auch die Zeit, in der die unvergänglichen Schöpfungen unsrer deutschen Heldensagen wurzeln. Germanische Könige jener Jahrhunderte leben in den deutschen Heldensagen ein erhöhtes Leben: Ermanarich, Theoderich, Odoaker, Chlodwig und seine Söhne, Irminfried, Gunther, Alboin, die Schildungen und von den großen Gegnern der Germanen Attila. An ihre Seite treten die Helden, zu denen keine Geschichte vordringt, Siegfried, Beowulf, Wieland. Und andere Helden umgeben sie als Urbilder, sei es der todoerachtenden, alles hinopfernden Treue des Gefolgsmannes, sei es der niedrigen Tücke des bösen Ratgebers: Hildebrand und Berchtung von Meran, Hagen von Tronje, Bjarki und Starkad, Sibiche und Sabene.

Die ältesten deutschen Heldensagen sind uns durch die Berichte der Geschichtschreiber erhalten, die uns die Begebnisse der Völkerwanderung erzählen. Ihnen schließen sich englische und deutsche Lieder und Epen aus dem achten und neunten Jahrhundert an. Die Heldendichtung in Dänemark und im Norden erstieg im zehnten Jahrhundert die größte künstlerische Höhe, sie blühte noch im dreizehnten Jahrhundert und wanderte bis nach Island und Grönland. Auf den weltabgelegenen nordischen Inseln, den Färöern, sang man noch im neunzehnten Jahrhundert von Sigurd. Die deutschen Heldensagen fanden auch im zehnten Jahrhundert ihren Weg in die Literatur, aber in die lateinische, nicht in die deutsche. Im zwölften Jahrhundert kam für sie die Zeit der deutschen Auferstehung und um die Wende des dreizehnten die Zeit der künstlerischen Vollendung im deutschen Nibelungenlied. Dies neue Leben schoß im dreizehnten Jahrhundert mehr



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ins Kraut als in die Blüte, es breitete sich bis in das sechzehnte Jahrhundert üppig aus und fiel darnach der Vergessenheit oder der Verachtung anheim. In allen Veränderungen der Zeit und des Geschmacks hat die deutsche Heldensage das ganze Mittelalter hindurch, über ein Jahrtausend, ihre Lebenskraft und ihre Anschmiegsamkeit bewährt.

Und wie unendlich weit war der Schauplatz dieser Sagen!

Die Germanen zogen zur Zeit der Völkerwanderung durch ganz Europa. Wir finden allein die Goten in Skandinavien, zwischen Elbe und Weichsel, am Schwarzen Meer und am Balkan, in Italien und in Spanien. Die Wandalen gründeten gar in Afrika für kurze Zeit ein Reich. Der Schauplatz der Heldensagen aus der Zeit der Völkerwanderung sind denn auch bald die Balkanländer und Europas südlicher Osten, bald der Süden und der äußerste Südwest, bald das Frankenreich und Burgund, bald Dänemark und Schweden. Dieser Schauplatz breitet sich im Mittelalter noch weiter aus, da, wie wir schon hörten, die nordischen Heldensagen nach Island und Grönland und außerdem mit den Wikingern bis tief hinein nach Rußland wanderten und da die deutschen Sagen mit den Kreuzfahrern nach Konstantinopel und dem Heiligen Lande zogen.

Das alte Ideal des Helden und Fürsten war dem späteren Mittelalter noch so gegenwärtig und lebendig, daß seine Dichter Helden schaffen konnten, die den alten ebenbürtig scheinen oder gar, im Vergleich mit ihnen, verklärter sind und mit tieferer Innigkeit erfaßt. Der Starkad des Nordens, und vor allem Helgi, sind erlauchte Schöpfungen des zehnten Jahrhunderts, und der Markgraf Rüdeger, der Hagen und der Volker des deutschen Nibelungenliedes entstammen vielleicht erst dem zwölften Jahrhundert.

Sonst aber konnte es nicht anders sein, als daß die Heldensagen, die vielen deutschen Stämmen gehörten, im Laufe ihres langen Daseins viele Umgestaltungen erfuhren. Schon in den



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ältesten Heldensagen unterscheiden sich die longobardischen, fränkischen , dänischen und gotischen Dichtungen deutlich, und viel wesenhafter und tiefer sind die Unterschiede zwischen den nordischen Liedern und den deutschen Epen des Mittelalters.

Das Christentum hat zuerst die englische, dann auch die nordische und deutsche Heldendichtung geläutert und seelisch vertieft. Die Dichter des dreizehnten und der späteren Jahrhunderte standen, besonders in Deutschland, den Helden in Wesen und Beruf nicht so nah wie die Dichter der Völkerwanderung. Und auch ihre Hörer und Leser waren sehr andere geworden. Sie wollten nicht wie die Germanen Einfachheit und Strenge und Tragik, sie wollten gerührt und unterhalten sein und verlangten, nach feindlichem Zusammentreffen, einen freundlichen und versöhnenden Ausgang. Darum wächst in den späten Heldendichtungen die Sentimentalität und es wächst auch das Sonderbare und das Phantastische. In Island verbindet sich die Fabelfreude in einziger Art mit selbstgefälliger Gelehrsamkeit und allegorischem Tiefsinn. In Deutschland breitet sich der Stoff immer unförmiger, eintöniger und ermüdender aus. Die deutsche Heldensage war außerdem Einflüssen von der Spielmannsdichtung, von der französischen Heldensage, von den französischen Ritterromanen und von höfischer Frauenverehrung ausgesetzt. Und sie war durch die Zeit der Kreuzzüge zu gierig nach Abenteuern und Wundern geworden.

Wir werden von diesen Wandlungen und Verkehrungen der deutschen Heldensagen einige bezeichnende Beispiele zeigen und sie nicht allein als Entstellungen des Alten verurteilen, sondern sie aus dem Geist und den Forderungen ihrer Zeit und ihrer Umgebung zu verstehen suchen. Doch müssen wir uns dabei eine große Zurückhaltung auferlegen; in das Gewirr dieser neuen, allzu vielfältig sich verschlingenden Beziehungen dürfen wir nicht zu tief uns verlieren. Es liegt zu weit ab von der Heimat der alten Heldensagen. Im besten Falle sind es schöne und bunte Zutaten,



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wir aber streben zum Wesen und zum Urquell dieser alten, mächtigen Dichtung.

Da die alten Heldensagen seit der Zeit der Völkerwanderung alle germanischen Stämme Europas erobern konnten, da sie im Laufe vieler Jahrhunderte in vielen germanischen Ländern die Gestaltungskraft der großen germanischen Dichter immer wieder übermächtig an sich zogen, da sie germanische Hörer immer wieder erhoben und erschütterten, so müssen sie etwas von den unvergänglichen und wunderbaren Kräften des germanischen Heldentums in sich gebannt haben, das nun geheimnisvoll und überwältigend immer von neuem aus ihnen strahlend hervorbrach und Herz und Sinn der Germanen gefangen hielt.

Diese unvergänglichen und wunderbaren Kräfte zu finden und zu schildern, sei unsre große, schwere Aufgabe.

Wenn wir uns hier einer Lösung nähern wollen, so müssen wir versuchen, die Heldensagen der Völkerwanderungszeit zurückzugewinnen. Denn, wie wir schon betonten, zu keiner Zeit war die deutsche Heldensage größer und überwältigender als in jenen Jahrhunderten. Ihre ungeheuren Taten und Schicksale, ihre endlosen und unerbittlichen Kämpfe verlangten von den Germanen die höchste Steigerung ihrer Kräfte, und sie verzehrten und sie vernichteten diese Kräfte zugleich. Dies Heldentum, diese Tragik zeigt uns erhöht und verklärt die alte deutsche Heldensage und dies war auch der Halt, an dem sich die Heldendichtungen der späteren Jahrhunderte gewaltig aufrichteten.

Die Heldensagen der Völkerwanderung selbst sind uns fast alle, wie es scheint, unwiederbringlich verloren. Es ist uns aber möglich, manches von diesen alten Schätzen wieder zu erobern: aus den Berichten und Anspielungen gleichzeitiger Geschichtsschreiber, aus den ältesten uns erhaltenen Liedern und Fragmenten und aus den Liedern und Dichtungen, die wir als die Grundlagen späterer Dichtungen erschließen dürfen. Diese kostbaren Besitztümer, deren



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die meisten germanischen Stämme sich rühmen konnten, wollen wir mit sorgfältiger Liebe betrachten und stolz ausbreiten, bis wir ihren ganzen Reichtum und ihre heroische Größe erkennen. Das muß der Kern dieses Buches sein, die durchdringende Erkenntnis der Anfänge ist die Vorbedingung für die Erkenntnis der späteren Entwicklungen, besonders wenn diese Entwicklungen so verzweigt, so vielfältig und so vielzeitig sind, wie bei den deutschen Heldensagen.

Nachdem wir, solange wie es uns nur möglich war, bei der Zeit der Völkerwanderung und der ersten großen Epoche der Heldendichtung verweilten und um die Erkenntnis ihres Wesens uns bemühten, wenden wir uns zu den anderen Völkern und Zeiten, bei denen die Heldensage blühte und beschleunigen ein wenig unsern Gang.

Wir wollen uns dabei ziemlich eng an den äußeren Verlauf der Zeit schließen. Zuerst gehen wir nach England und zu seinem großen Heldenepos Beowulf, von dort nach Dänemark, Norwegen und Island, die uns den vielfältigsten Reichtum von Heldenliedern erhielten. Wir suchen hier immer die Änderungen und Wandlungen der späteren Zeit aus ihren inneren Bedingungen zu erfassen und stellen sie der Art der früheren Zeit gegenüber. Durch diese Gegenüberstellung sollen Bild wie Gegenbild möglichst scharf und klar vor uns treten und das Bild der alten Zeit noch einmal Deutlichkeit und Macht im Vergleich mit der jüngeren gewinnen. Unsere besondere Liebe muß hier der Zeit der Wikinger gehören, die in Tat und Dichtung der Völkerwanderung nah verwandt ist und lebendiger und drohender vor uns steht. Darum werden wir uns hier wieder etwas ausbreiten und die großartigen Dichtungen von den Schildungen, von Amleth und von Helgi eingehender betrachten. Den deutschen Heldensagen des Mittelalters liegen sie fern, den germanischen liegen sie nah.

Der Gewinn aus den Sagen und Epen des deutschen Mittel



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alters für die alte deutsche Heldensage ist geringer und auch ihre Bedeutung als Dichtung ist, verglichen mit den nordischen Liedern, weniger reich. Die freilich oft arg verschüttete und zugedeckte Grundlage sind wieder die Taten und Lieder der Völkerwanderung, , bei der Gudrun und bei Hetel und Hilde außerdem kühne Entführungen, wie die Wikingerzeit sie liebte und feierte.

Die Dichtung von den Nibelungen ist von den germanischen die reichste in Inhalt und Kunst, unvergleichlich im Heldentum, an Lebenskraft und an Ausdehnung im Norden und in Deutschland unübertroffen und schließlich in ihrer Mischung von Mythus und Geschichte geheimnistiefer als irgendeine andere. Diese steht am Schlusse unsres Buches und enthüllt uns noch einmal in wunderbarer und mannigfacher Vollendung das echte und gewaltige Heldentum unsrer Vorfahren, die ewige Unzerstörbarkeit seines Wesens, und die erschütternde Tragik, die im Untergang aller Helden liegt.


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