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Kapitel 

Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


7. Die Göttinnen

Von den Göttinnen haben wir Freyja, Gullweig und Gefjon schon charakterisiert. Die nordische Frigg unterscheidet sich in ihrem Wesen kaum von der germanischen Frija, das Frauenhafte, der Mutterwitz, Anmut und Liebe bleibt ihr Teil. In den Grimnismal weiß sie ja ebenso wie in der alten Longobardengeschichte ihren Günstling zu beschützen. Im Merseburger Zauberspruch will sie das Pferd des Balder heilen, im Nordischen nimmt sie allen Dingen den Eid ab, dem Balder nicht zu schaden, und fleht die Götter an, sie möchten doch den Entschwundenen aus der Hölle zurück



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bringen. Sie gibt dem Odhin, der sich zur Fahrt zum Riesen Wafthrudni rüstet, ihren Segenswunsch, als seine Vertraute ist sie in sein ganzes Wissen eingeweiht. Keine andere Göttin begleitet ein so reiches und stolzes Gefolge. Die Vorwürfe, die der Loki der Lokasenna und die Saxo gegen Frigg schleudern, gelten zum Teil der Freyja, zum Teil mag die dunkle Erinnerung nachwirken, daß Frigg vor Odhin einem anderen Gott, dem Himmelsgott, gehörte.

Wie die Frigg, so umgibt den Odhin eine Schar leuchtender Göttinnen, die Walküren. Deren Entwicklung ist der Odhins sehr ähnlich. Wie jener sind sie zaubermächtig, herrschen über den Krieg und die Toten und fahren durch die Lüfte. Weil sie dort hausen, nahmen sie, stärker noch als Odhin, Eigenschaften von Wind- und Wolkenfrauen an. Sie brachten über die Felder Fruchtbarkeit, man stellte sie sich als leuchtende Schwäne vor. Die Germanen und die Esthen verglichen zuweilen die Wolke mit dem Schwan. In einigen Eddaliedern sind die Walküren ja noch Gottheiten für sich. Ihrer drei oder ihrer neun fliegen sie über den nächtlichen Himmel oder durch die schwarzen Wälder. In einem dem Helgi geltenden Lied sehen die Helden sie im Schmuck des Helms, in blutgeröteter Rüstung: die Speere, denen Funken entsprühen, in der Hand, reiten sie über den flammenden Himmel. — Odhin, den sein Herz ja immer zu den Göttinnen zog, wurde von den Wikingern mit d en Walküren beschenkt, die uns als die eigentlichen Walküren erscheinen: in Odhins Auftrag walten sie über den Schlachten, bestimmen die Helden, die fallen sollen, und begrüßen die Verklärten, strahlend und in mädchenhafter Schönheit, oben in Wallhall.

Die Seele, die tags im Leibe wohnt, sich nachts von ihm trennt, faßten die alten Nordleute auf als eine Art Gefolgsgeist des Menschen, sie nannten sie Fylgja (die Folgerin). Diese Fylgjen sind vom Menschen unzertrennlich, begleiten und beschützen ihn wie ein guter Engel und bleiben unsichtbar. Nur im Traum zeigen sie sich manchmal, meist in Tiergestalt, sie erscheinen dem Menschen



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auch, kurz bevor er stirbt. Eine wunderschöne Variation ist der Glaube, daß der sterbende Held die Walküre erblickt, die ihn beschützt und zum Tode wählt. Der Glaube an die Fylgja war während der ganzen Heidenzeit sehr lebendig und wird uns oft drastisch beschriebe. Das Volk dachte sich die Fylgjen als Frauen, vervielfältigte sie und gab einem Menschen eine ganze Anzahl, dem Vornehmen zum Beispiel mehr und stärkere als dem Geringen. Man brachte ihnen Opfer dar und hütete sich, sie zu erzürnen, man glaubte auch, daß sie bestimmte Geschlechter aufsuchten und von einer Generation in die andere übergingen. Unter dem Einfluß des Christentums spalteten sich die Fylgjen in gute und böse Geister. Neben den vielen Fylgjen oder Disen, wie man sie auch nannte — sie erinnern uns zuweilen an die alten matres der seiten und Germanen, bleiben jedoch viel schattenhafter —, verehrten die Nordleute stärkere Schicksalsgöttinnen, in denen sich der Fylgjenglaube verdichtete. Eine parallele Erscheinung wäre etwa die vielen Gottheiten der Fruchtbarkeit neben der einen Mutter Erde. Diese höheren Gottheiten hießen Nornen. Die Gottheit war weiblich, weil die Germanen, wie wir wissen, die Frauen als Weissagerinnen verehrten, als Zauberinnen fürchteten und an sie glaubten als an die Vertrauten der Gottheit, zum Unterschied von anderen Völkern, wie etwa den Juden, bei denen Propheten, Weissager, Heilige und Engel Gottes Gebote ausrichten.

Die Nornen walteten nach der Meinung der Nordleute über jede Tat des Menschen. Die älteste und ehrwürdigste unter ihnen hieß Urd (altdeutsch wurt), das Schicksal. Was er Rühmliches und was er Böses vollbrachte, war des Schicksals Werk, nicht das des Menschen, der trug dafür keine Verantwortung, ihn traf nur das ihm Veschiedene Los. Dieser Fatalismus war wohl die Weltanschauung der Germanen, er verleitete sie aber nicht wie orientalische Völker zur stummen und tatenlosen Ergebenheit in die Dinge, die doch niemand abwenden kann. Die Helden unter



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den Germanen trugen stolz und aufrecht, was ihnen auferlegt wurde, und lebten und handelten, als gäbe es keine Vorherbestimmung.

Da ihre Tätigkeit eine dreifache war, da sie das Leben gaben, darüber walteten und es nahmen, setzte sich der Glaube an drei Nornen durch. Die Wöluspa sagt von ihnen: "sie schnitzten am Losstab, legten fest das Leben den Menschenkindern und das Schicksal der Männer" . Die Nornen gehören zum Geschlecht der Riesen, sie sind älter als die Götter und sind nach der Meinung der Edda auch mächtiger, denn sie führen den Willen des Schicksals aus, das über Göttern ebenso thront wie über Menschen.

Daß eine der Nornen, wieder die Urd (man faßte Urd falsch auf als "das Gewordene"), über die Vergangenheit waltete, die andere Werdandi über die Gegenwart, dritte Skuld über die Zukunft, ist eine nordische, unter gelehrten Einwirkungen entstandene Deutung, kein uralter Glaube, und unter dem Einfluß des Christentums hat der Nornenglaube sich weiter vervielfältigt und zersetzt.

Von den Sagen über die Nornen sei hier die von Nornagest erzählt.

Als er in der Wiege lag, über der zwei Kerzen brannten, traten die drei Nornen zu ihm. Zwei verhießen ihm Gutes, die dritte war im Gedränge der Gäste zu Boden geworfen und rief: "Ich schaffe, daß das Kind nicht länger lebt als die Kerze neben ihm brennt." Die älteste Norne löschte rasch die Kerze und mahnte die Mutter, sie nicht anzuzünden , und diese gab sie dem Kind erst und erzählte ihm, welche Bewandtnis es mit ihr habe, als es herangewachsen war. Nornagest behielt sie bei sich und lebte dreihundert Jahr, die ganze Zeit, in der das nordische Heldentum blühte und verwelkte. Als das Christentum kam, schloß Nornagest mit ihm seinen Frieden, mochte aber nicht länger leben, er begab sich in das Gefolge des Königs Olaf und erzählte ihm die Sage vom Sigurd, danach seine eigene Gewichte. Dann zündete er die Kerze an und legte sich nieder. Als er die letzte ölung empfing, verlosch das Licht, und in dem gleichen Augenblick war auch der Held verschieden.



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Diese Sage ist der alten griechischen vom Meleager sehr ähnlich. Auch zu dessen Mutter traten, als das Kind in der Wiege lag, drei Schicksalsgöttinnen: die Moiren. Die erste gab ihm Tapferkeit, die zweite Großmut, die dritte prophezeite, er werde nur so lange leben, wie der auf dem Herd liegende Brand vom Feuer nicht verzehrt sei. Die Mutter löschte den Brand und hob ihn auf. Meleager aber, herangewachsen, erschlug die Brüder seiner Mutter, sie wollte es rächen, warf den Brand in die Flammen und Meleager mußte sterben.

Viele Forscher glauben, die Sage von Nornagest sei in Anlehnung an die von Meleager entstanden. Da sie spät ist, und da die Dichter jener Zeit manche literarischen Kenntnisse besaßen, darf man diese Möglichkeit nicht abstreiten. Hervorheben aber muß man, daß die zwei Hauptmotive, auf denen die Sage beruht — die neidische Norne und das in eine Kerze oder in einen Brand gebannte Leben — damals jedes für sich weitverbreitet, im Norden auch außerhalb der Meleagersage bekannt waren und daher nicht notwendig von dort entlehnt sind.

Wichtiger scheint das Folgende: die Sage von Nornagest hat einen ganz anderen Sinn als die von Meleager. Diese zeigt, daß der Mensch nicht klüger sein soll als das Schicksal. Verhütet er ein gegenwärtiges Unheil, so beschwört er ein viel schlimmeres, zukünftiges herauf. Hätte die Mutter den Brand gleich ausbrennen lassen, sie hätte nur den Sohn verloren, als er noch klein war und für sie noch nicht viel bedeutete. So verlor sie die Brüder, erfuhr vom Sohn den schmerzlichsten Kummer und muße ihn selbst töten. — Nornagest dagegen triumphiert über das Schicksal. Er stirbt keines vorzeitigen Todes, sondern lebt das Leben des ganzen nordischen Heldentums. Als er genossen, was nur jene übermenschlichen Helden genießen können, brauchen ihn die Götter nicht zu rufen; mit einem Dank- und Lobgesang auf sein Dasein, versöhnt mit dem neuen Glauben, geht er gern in den Tod.



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Die Zahl der Göttinnen ist auch im Norden ansehnlich. Aber sie sind weniger reich gestaltet und haben, wenigstens in den uns zugänglichen Aussagen, nicht mehr die Bedeutung, die sie in den germanischen Berichten besitzen, sie treten weit hinter ben Göttern zurück. Dafür hob auch sie die Kunst der Wikinger in jene Sphäre von Schicksal und Heldentum, in der das beste Leben der nordischen Götter sich leuchtend vor uns ausbreitet.


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