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Kapitel 

Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


1. Die Überlieferung

Ein Vergleich der germanischen und der nordischen Aussagen und Dichtungen von unsren alten Göttern kann uns fast traurig stimmen, so viel reicher und großartiger ist der nordische Besitz. Nicht nur die Zeugnisse der Geschichtschreiber und der Missionare sind im Norden viel lebendiger und eingehender; welche Schätze bergen für uns z. B. die Geschichtsbücher des Sato Grammaticus , jenes dänischen Mönches aus dem 13. Jahrhundert, oder die große Weltbeschreibung, die Heimskringla, des Isländer Snorri aus der gleichen Zeit! Auch die isländische Saga, die älteste künstlerische Prosa der Germanen, jene einzigen Schilderungen germanischen Bauern- und Heldenlebens, führen uns von allen Seiten, weniger in die hohe Götterwelt als in den Glauben, der das ganze und tägliche Sein durchwaltet. Umgekehrt geben uns die überkünstlichen Gedichte der Skalden einen Einblick in die Götterverehrung am Hofe der Könige und sind Zeugnisse einer in sich fest abgeschlossenen adeligen und priesterlichen Welt. Die späteren Sagen, Bräuche, Märchen und die Berichte gelehrter Gewährsmänner hängen mit der Vergangenheit des Landes organischer zusammen als in Deutschland; Die Verbindung von alter und neuer Zeit wurde im Norden nie so oft und so grausam durchschnitten wie in Deutschland. Dazu ein überquellender Reichtum von Ortsnamen, die auf die Verehrung der alten Götter weisen, und die Edda! Mit Recht steht sie seit langer Zeit im Brennpunkt der Forschung über unsere und über die nordische alte Götterwelt.

Edda heißt Poetik, Lehrbuch für Dichter. Der Name gebührt eigentlich nur dem Buch des berühmten isländischen Gelehrten, Geschichtsforschers



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und Dichters Snorri Sturluson (1178 bis 1241). Seine Edda war für den werdenden Kunstdichter, den Skalden bestimmt. Die Poesie der Skalden kann nicht leben ohne gelehrte Anspielungen und künstliche Vergleiche. Diese waren schon im 13. Jahrhundert nicht leicht verständlich; weil sie vor allem eine sehr genaue Kenntnis der alten Götter- und Heldensagen voraussetzten, erzählte Snorri diese Sagen und erklärte gleichzeitig die aus ihnen stammenden Vergleiche. Dabei nannte er die Namen der Zwerge, der Riesen, der Götter, ihrer kostbaren Besitztümer usw. Es gab z. B. eine Fülle von Benennungen für das Gold, es hieß Sifs Haar, Otterbusse, erzwungene Gabe der Götter, das streitbringende Erz, Fafnis Lager, Granis Bürde usw.; diese Benennungen stammten teils aus der Göttersage (Sif war Thors Gattin) , teils aus der Nibelungensage, das setzte Snorri im einzelnen, indem er die Ereignisse der entsprechenden Sagen mitteilte, auseinander .

Die Edda Snorris fügt sich aus verschiedenen Teilen zusammen; sie heißen: die Skaldskaparmal (die Lehre von der Skaldenschaft); der Name bedeutet also ungefähr dasselbe wie Edda), die Bragaroedhur (die Erzählungen, die dem berühmten Dichter Bragi in den Mund gelegt werden) und die Gylfaginning (die Geschichte von der Verblendung des Königs Gylfi, der zu den Göttern kommt und von ihnen die Geschichte vom Anfang und vom Ende der Welt und von den einzelnen Göttern, ihrem Wesen und ihren Taten hört).

Snorri setzt in seine Darstellung oft Strophen ein, die er aus einer Sammlung von Götterliedern nahm. Diese Sammlung war lange verloren und wurde im Südwesten Islands im 17. Jahrhundert (1643) von Bryniolf Sveinsson, einem Bischof, entdeckt. Sie stammte aus dem 13. Jahrhundert und enthielt außer den Götterliedern Heldenlieder. Der Bischof nannte sie, weil ihr ein Name fehlte, wieder Edda, er hielt irrtümlich für ihren Verfasser den Priester Saemund, weil dieser der berühmteste Gelehrte



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des alten Island war. Unter Edda versteht man eigentlich heute nur noch die zuletzt entdeckte Sammlung. Zum Unterschied von der Edda Snorris (auch die jüngere Edda oder die prosaische Edda genannt) heißt sie die ältere oder die Lieder Edda.

Den früheren Gelehrten bis tief in die Mitte des vorigen Jahrhunderts galt jede Aussage aus dem Norden, ob sie nun aus später oder früher Zeit stammt, eigentlich als gleich wertvoll. Widersprach eine der anderen, so suchte man diese Widersprüche mit allen Künsten fortzuerklären. Ziemlich unbekümmert setzte man auch, einige Ausnahmen abgerechnet, das Nordische auf der ganzen Linie dem Germanischen gleich und glaubte, daß es in völliger Abgeschiedenheit von den Einwirkungen anderer Literaturen und Völker sich gehalten habe, eine Blüte rein germanischen Wesens. Heute sehen wir in dem nordischen Besitz ein Vermächtnis, zu dem die verschiedensten Zeiten, Stände und Länder, vor allem aber der Norden und seine Geistesgeschichte beitrugen. Wir betonen vielleicht zu ausschließlich die bunte, zusammengesetzte und schillernde, auch die literarische und unvolkstümliche Art mancher Aussagen. Doch gerade die strenge Scheidung und die kritische Sichtung unsrer Nachrichten, das Aufmerken auch auf leise Abweichungen und Varianten , auf Einflüsse aus anderen Kulturströmungen hat uns den nordischen Reichtum erstaunlich vermehrt und hat in die nordische Geistesgeschichte eine Mannigfaltigkeit und eine Tiefe gebracht, die frühere Generationen gar nicht ahnten und die sie in helles Entzücken versetzt hätte. Die Grundlagen der Edda tauchen tief in das germanische Altertum, ihre letzten Aufbauten ragen in den Himmel des hohen Mittelalters. Ein halbes Jahrtausend hat an diesen Liedern und Sagen geschaffen. In einem und dem gleichen Gedichte, in einer und derselben Sage liegen oft Schichten verschiedener Zeiten und verschiedener Kunst über- und nebeneinander. Dieselbe Edda führt von der verkünstelten und geheimnisstolzen Dichtung und von der Gelehrsamkeit der Skalden zu der großen



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und klassischen Dichtung der Wikinger Zeit und zu der Menge volkstümlichen Glaubens. Neben den germanischen werden in der späteren Zeit antike und irische Elemente sichtbar, die jüngere Edda verliert sich in die Fabelwelt, die seit dem 12. Jahrhundert das ganze Mittelalter bedeckte, und mönchische und weltliche Gelehrsamkeit mischen sich auch hinein. Eine ganz neue und besondere Verbindung schließen im Norden die weltlichen und geistlichen Mächte, die im Abendland vom 8. bis zum 13. Jahrhundert die Erde beherrschen . Ortsnamen, archäologische Zeugnisse, verklingende überlieferungen aus der Gegenwart ergänzen und berichtigen die Behauptungen der Eddischen Gedichte und der Eddischen Sagen über den Wert und die Geltung der Götter. Schließlich erkennen wir, daß Dänemark, Schweden, Norwegen und Island, jedes Land nach seiner Begabung, die alten Götter gehütet und gestaltet und von ihnen Abschied genommen hat.

Wir müssen also bei jedem Zeugnis sorgsam prüfen, aus welcher Zeit und aus welchem Land es wohl stammt, welchen geistigen Einwirkungen es ausgesetzt war, unter dem Zeichen welchen Stiles und welcher Auffassung es steht, ob es dem Volke oder ob es den höheren Ständen gehörte. Wirklich können wir die höchsten Götter, z. B. Odhin, durch einen seltsamen Reichtum religiösen Glaubens und künstlerischer Gestaltung aller nordischen Länder und Zeiten führen und gewinnen immer neue Einblicke in eine unablässig bewegte, bunte tiefe, heroische und gelehrte Welt. Natürlich geraten wir auch auf dem nordischen Wege an manche dunkle und leere Strecke, sei es, daß unsre Kunde versagt —denn nicht alle Länder und Zeiten und Stände haben reiche oder auch nur leidlich gute überlieferungen —, sei es, daß den starken Ungleichmäßigkeiten unserer überlieferung starke Ungleichmäßigkeiten der Forschung entsprechen. Oft haben wir auch mit Widersprüchen, Dunkelheiten und irreführenden Angaben unsrer überlieferung zu kämpfen. Die Wissenschaft von der nordischen Mythologie



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steht aber in einem blühenden und gerade in den letzten Jahrzehnten reich und hoffnungsvoll entwickelten Leben und ist noch lange nicht an ihrem Ende.

In unsrem Sinne liegt es nun nicht, die nordischen Ausformungen in alle ihre Einzelheiten zu verfolgen. Selbst wenn wir das wollten, wären wir dazu kaum imstande. An solche Unternehmung dürfen sich nur nordische Gelehrte wagen. Eine fortlaufende Gegenüberstellung von nordischen und germanischen Aussagen und Dichtungen, damit die einen die andern beleuchten und erklären, damit aber auch jede ihren besonderen Wert und ihre besondere Form zeige, das bleibt unser Ziel, an das wir an dieser Stelle noch einmal erinnern wollen. Die Methode, die Goethe die Methode der wechselseitigen Spiegelung nannte, versuchen wir auf unsere germanische und nordische Welt zu übertragen.


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