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Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


9. Der Gottesdienst

Der älteste Tempel der Germanen war der Wald. Die Götter des Himmels und des Gewitters, des Kampfes und der Fruchtbarkeit, sie alle wurden im heiligen Hain verehrt, wahrscheinlich seit Jahrtausenden. Bei den Sachsen und Friesen dauerte die Verehrung der Götter im heiligen Wald bis tief in die christliche Zeit. Namen wie Heiligenforst und andere bewahren das Andenken an heidnische Götterwälder. Nach einem Kampf zwischen Franken und Sachsen ließ sich ein schwerverwundeter Sachse heimlich aus



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seiner Burg in einen dem höchsten Gott geweihten Hain tragen (779 n. Chr.).

Undurchdringliche endlose Wälder bedeckten in den germanischen Jahrhunderten die deutschen Länder und erhöhten ihr dunkles Geheimnis, und welcher Eindruck, wenn der Sturm die Wipfel packte, die Äste brach, wenn die Sonne die ewige Dämmerung zu erhellen suchte, wenn ihre Lichter und Flecken über den Boden glitten oder wenn im Frühling die tausend Stimmen der Vögel übermächtig durcheinanderschallten! Aus dem Dunkel des Urwaldes trat dem Drusus jene germanische Frau entgegen; den Arm gegen ihn aufreckend, rief sie ihm die feierlichen, schicksalsschweren Worte entgegen, die ihn zur Umkehr zwangen und die er nicht lange überlebte.

Tiefe zauberische Einsicht und wilde Kraft, naives gutmütiges Zutrauen und seltsame Unberührtheit, das blieb durch alle Jahrhunderte das Wesen der germanischen Geister, die im Walde hausten.

Unter dem gewaltigen Blätterdach und in den Höhlen urweltlicher Bäume lebten Mensch und Tier und der Baum überlebte die lange Reihe der Geschlechter. An einem mächtigen Baum hing nach dem Glauben unsrer Vorfahren Schicksal und Leben einer Sippe. Die Gemeinde verehrte alte stolze Bäume als Heiligtümer, hielt unter ihren Zweigen ihre Beratungen und waltete dort auch des Rechtes. Die stolzesten Bäume scheinen in den Himmel zu wachsen; ihre breiten Wipfel scheinen das Himmelsdach zu tragen und zu stützen. Ein solcher Baum war vielleicht die irminsul, das Heiligtum der Sachsen, die große Säule, die alles stützte, wie ein mittelalterlicher Geschichtsschreiber sagt. Die wundervolle Vorstellung des germanischen Nordens von der Weltesche, die der Schutz und zugleich das Sinnbild der Welt war, die ihr Schicksal teilt und die sich am heiligen Quell des Lebens erhebt, die zum Himmel aufragt und die ihr Gezweig über die ganze Erde breitet, diese Vorstellung ist eine grandiose Steigerung alten germanischen Glaubens.



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Tacitus behauptet an der berühmten Stelle der Germania, daß die Germanen keine Tempel und keine Götterbilder kannten. Er sagt: sie glauben nicht, daß man die Götter in Häuser einschränken und daß man ihnen eine menschenähnliche Gestalt geben dürfe, weil sie zu erhaben seien. Aber derselbe Tacitus erzählt an anderer Stelle vom zerstörten Tempel der Tamfana und die weißen Rosse im heiligen Hain und den Wagen und die Zugtiere der Nerthus muß doch ein, wenn auch primitiver heiliger Bau beschützt haben, ein Tempel also. Ebenso haben die Germanen, wie uns die Bedeutung des Wortes ans (Gott aus Götterbild S. 70) und wie uns das Sonnenbild von Thrundholm lehrten, freilich noch unbeholfene Götterbilder besessen. Die Bilder und Zeichen des Kriegsgottes, die im heiligen Hain hingen, und die unsre Vorfahren in die Schlacht trugen, waren wohl die Waffen des Gottes (Speer, Schwert, Hammer usw.) und die Bilder der dem Gott geweihten Tiere. In späterer Zeit weiß Gregor von Tours (s. Jahrhundert ) bei den Franken von Tempeln mit Götterbildern, in denen man wie heute noch in den Kirchen, kranke Glieder in hölzernen Nachbildungen aufhing und der hl. Willibrord brach auf der Insel Walcheren in ein Heiligtum ein und zerstörte es, wahrscheinlich war es eines der Nehalennia. Die christlichen Bekehrer in England, in Friesland und in Deutschland eiferten dann oft genug gegen die heidnischen Götterbilder und haben sie auch verbrannt, oder sie versuchten, wie ein berühmter Brief des Papstes Gregor verrät, den heidnischen Gottesdienst ins Christliche umzudeuten . Die Bilder werden noch immer nicht sehr kunstvoll gewesen sein und meist aus Holz geschnitzt. Und das wird den Irrtum des Tacitus erklären. Kostbare und kunstreiche Tempel und Götterbilder waren den Germanen fremd, diese vor allem wird der Römer als Tempel und Götterbilder haben gelten lassen. In tieferem Sinne behält er also recht. Den echten Schauer des Heiligen empfanden unsere Ahnen in der dunklen und großen Natur;



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die Tempel und Bilder waren ihnen Werkzeug und Hilfsmittel, keine Offenbarung und Gestaltung des Göttlichen. Auch die Wörter in den germanischen Sprachen für Tempel und Heiligtum bedeuten ursprünglich nur: heiliger, schützender Ort, Steinhaufen als Altar, Opferstätte, Hain.

Wie uns die Ortsnamen zeigen, wurde den germanischen Göttern auch auf Bergen gehuldigt, besonders dem Wodan — es waren wohl waldige Anhöhen — ebenso auf Wiesen und an Gewässern. Namentlich die dem Ahnenkult entwachsenen Gottheiten wirkten und webten an solchen Stätten.

Auf einem Gebiete finden wir im Deutschen, im Altenglischen und im Norden bisweilen nicht nur einen, sondern mehrere Götter verehrt, wie in späterer Zeit der heilige Tempel zu Upsala die Bildsäulen dreier Götter, die des Odhin, des Thor und des Frey zeigte. Sollte die Heiligkeit der geweihten Orte sich dadurch erhöhen , daß man in ihnen mehr als einen Gott wirksam glaubte oder suchte der Kult eines Gottes mit dem des andern zu wetteiferns

Im Wald und in der großen Natur hatte der germanische Gottesdienst seine Heimat. Die Votivtafeln, die Totenbretter, die Marterln, die Bildstöcke, die Sühnekreuze, die wir heute in katholischen Ländern überall sehen, besonders im katholischen Deutschland, führen das religiöse Fühlen des Volkes wieder in den Schatten der Bäume, zu Wind und Wetter und Sonne zurück.

Die Zeit der Götteropfer war vor allem Frühjahr und Herbst, wie im wesentlichen noch heute, die Zeit der Saat und der Ernte. Im Frühjahr war die Zeit der Bittopfer, im Herbst war die Zeit der Dankopfer und im Frühjahr sollten viele magische Bräuche die Fruchtbarkeit von Feld und Mensch entwickeln und ausbreiten. Dem Donar war der fünfte Wochentag, der Donnerstag, heilig, wohl auch nicht jeder Donnerstag, sondern vor allem die Donnerstage des Frühjahres. Donnerstag und Dienstag, die Tage des Donar und des Tiu, waren Tage des Gerichtes. Außerdem war



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und ist noch immer die Zeit der Jahreswende eine heilige Zeit und Opferzeit, jene langen, dunklen, stürmischen Nächte, die den Abgeschiedenen gehören, als trauriger Ersatz für das Leben des ganzen Jahres, das früher ihr eigen war. Bei vielen Völkern herrscht die unverbrüchliche Sitte, daß man einen oder einige Tage des Jahres den Toten weiht.

Die Götter empfangen als Opfer Speise und Trank, auch Tiere. Zum Dank für ihre Hilfe errichteten ihnen germanische Bürger nach römischem Vorbild Weihsteine. Einige Götter fordern Menschenopfer: die Flußgottheiten, Nerthus, der Himmelsgott, der Kriegsgott, der Gott der Zauberei. Bei Mißwachs opferten Schweden und Burgunden sogar ihre Häuptlinge. Auch der Gott des Himmels verlangte vielleicht zu bestimmter Zeit einen Freien als Opfer, sonst mußten Sklaven und Kriegsgefangene für die germanischen Götter bluten und wurden oft unter grausamen Martern einem schrecklichen Tode ausgeliefert, erhängt oder ertränkt oder lebendig begraben oder gerädert oder man brach ihnen den Rücken. Nach der Aussage des Tacitus versenkten die Germanen Feige, Schwache und Unzüchtige in die Sümpfe oder bedeckten sie mit Dornen. Nicht nur Tacitus, auch die Schriftsteller des s. Jahrhunderts und die nordischen Berichte bezeugen uns das Menschenopfer. Donar, der deutscheste der Götter, hat es allerdings nie verlangt. Die Todesstrafe war aber keine leichtfertige Grausamkeit , sie hatte eine religiöse Bedeutung, sie sollte die Götter gnädig stimmen oder ihren Zorn versöhnen. Wie lange hat man noch, um der Geister Huld zu gewinnen, lebende Menschen in Häuser eingemauert ! Auch die Schiffe ließ man beim Stapellauf über Rollen gleiten und dabei den Leib eines Menschen zerquetschen.

Auf dem Schlachtfeld blieben die Leichen der Feinde unbestattet. Die Schädel wurden an Bäume geheftet, die Beute zerstört und zerschlagen, die Anführer auf Opfersteinen hingerichtet. So verfuhren die Germanen auch mit den Römern, die nach der Schlacht



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im Teutoburger Walde in ihre Hand gerieten und so verfuhren schon die Cimbern. Welch einen Anblick muß solch ein Schlachtfeld geboten haben!

Von Tieropfern sind besonders die Pferdeopfer erwähnt, auch Opfer von Ebern und Ferkeln; bei den Longobarden Opfer von Ziegen. Alles waren Tiere der Fruchtbarkeit. Gesang und Tanz, Trunk und Mahl hat diese Opfer oft begleitet. Frühzeitig ersetzte man das Tier durch das Tierbild, das man gern aus Backwerk herstellte.

Die Ehrfurcht der Germanen vor den Göttern war unbedingt. Sie warfen sich vor ihnen auf den Boden und wagten nichts in ihrem Heiligtume zu berühren, das Unnahbare und Unsichtbare war ihnen das Göttliche. Auch beim Gebet warfen sie sich nieder und bedeckten mit ihren Händen das Gesicht oder sie blickten auf nach Norden und in den hohen Himmel.

Neben den Göttern wurden die Ahnen verehrt. Wir haben ihren Kult in manchen Ausgestaltungen und bei verschiedenen germanischen Stämmen beobachtet und verfolgten ihn bis in die Bronzezeit. Am Rhein vermischte sich der Ahnenkult mit dem Glauben an die keltischen Mütter. In Westen und in Niederdeutschland scharten sich die Toten zu einem Totenheer zusammen, das durch die Lüfte braust und dem ein gespenstischer Führer voranstürmt. Bei den Ost- und Nordgermanen des Tacitus und bei den Goten verschmelzen sich Ahnenkult und Heldenverehrung, endlich trat auch der Himmels- oder Kriegsgott als Vater der Helden vor uns.

Die Abgeschiedenen bleiben bald bei ihrer Sippe und ihren Nachfahren, Glück und Untergang der Enkel hängt dann von der Verehrung der Ahnen ab oder sie erheben sich in die Lüfte und fahren im Wind und ziehen mit ihm in die Berge und brechen mit ihm aus den Bergen hervor oder sie ruhen mit ihren Gebeinen im Grab. Welche dieser Anschauungen die älteste ist oder ob und wie sie sich ablösen, läßt sich nicht sagen. Vielleicht de



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standen sie überhaupt gar nicht nacheinander, sondern gingen nebeneinander her, wie eigentlich noch heute. In den Bergen hausen nach dem Glauben des Volkes noch karl der Große und Friedrich Barbarossa, manchmal steigen aus ihnen die Abgeschiedenen hervor. Meeranwohnende germanische Völker meinten, das Reich der Abgeschiedenen sei jenseits des Meeres, die Toten müßten das Meer erst überfahren.

Der Geschichtschreiber der Goten, Prokop, schildert im s. Jahrhundert , wie die Toten geheimnisvoll und still nach der Insel Brittia übergesetzt werden. Die schwermütigen Verse, mit denen das altenglische Heldengedicht Beowulf anhebt, erzählen, wie die trauernden Männer den verschiedenen König Skyld mit seinen leuchtenden Waffen in ein Schiff legen und dies der dunklen Flut anvertrauen, er verschwindet in dieselbe wunderschwere Ferne, aus der er vor Jahrzehnten auch kam. Den gestorbenen Sinfjötli trägt der Vater ans Meer, da kommt auf einem kleinen Nachen ein Ferge und nimmt den Helden, ihn allein, zu sich, den Sigmund schickt er fort. Der Ferge war Odhin. Diese Episode in der nordischen Nibelungensage ist deutschen, vielleicht sogar keltischen Ursprungs.

In einem nordischen Grab der älteren Bronzezeit fand man, und solche Funde sind nicht vereinzelt, als Grabbeigaben für den Verstorbenen den Vorderzahn eines Pferdes, die Knochen eines Wiesels, das Stück eines Klauengliedes, wahrscheinlich eines Luchses, ein Stückchen von der Luftröhre eines Vogels, den Wirbelknochen einer Schlange. Diese Beigaben sollten dem Verstorbenen die Kraft von Pferd, Wiesel, Luchs, Vogel und Schlange auch im Jenseits sichern. Die in dem Gräberfeld von Nordendorf gefundene Spange rief den Schutz von Wodan und Donar auf den Abgeschiedenen herab; eine Frau Ava gab sie dem Freunde mit ihren letzten Segenswünschen. Wie oft soll Donar auch auf späteren Grabsteinen die beschützende Kraft der Runen weihen! Die Germanen bestatteten die Helden in der Pracht ihrer Rüstung auf



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ihren Rossen und gaben ihnen alles mit, woran sie im Leben ihr Herz gehängt. Wir denken an Alarich, den Gotenkönig, und an sein Grab im Busento. Und welche Schätze nahmen Attila und welche Beowulf ins Jenseits herüber!

Die uralte Sitte der Grabbeigaben ist also auch bei den Germanen bezeugt, in Zeiten, bis zu denen keine geschichtliche Überlieferung dringt. Wir könnten ihre Steigerung in das Heroische namentlich bei den Goten beobachten. Grabbeigaben und anderer Zauber, der gewalttätiger ist, haben den Sinn, den Toten ins Grab zu bannen und seine Wiederkehr zu verhindern. Die Leichen der Toten aber, die im Leben zaubermächtig waren, besonders Frauen, suchte man durch Lieder aus dem Grab zu wecken, damit sie die Zukunft enthüllten. Lieder dieser Art von gespenstischer und gewaltiger Phantasie erhielt uns das späte nordische Heidentum. Daß sie den Germanen nicht fremd war, schließt man wohl mit Recht aus dem Namen haijurunnas. So heißen nach Jordanes die Zauberweiber der Goten. Ursprünglich hießen wohl die Lieder die diese Weiber aus dem Tode weckten. Das Wort blieb noch im Altenglischen und im Althochdeutschen in der Bedeutung necromantia erhalten. Die Sitte der Leichenverbrennung gelangt in der zweiten Hälfte der Bronzezeit bei unsern Vorfahren zur Herrschaft , um die Wende unsrer Zeitrechnung tritt sie zurück. Von der Verbrennung erzählt noch Tacitus, auch von der Beigabe von Waffen und Pferd und von der Beisetzung der Reste in einem Hügel.

Den Zauber lernten wir als Heilzauber, als Kriegszauber, als Wetterzauber und als Fruchtbarkeitszauber kennen. Die Göttinnen der Erde und des Himmels walteten über Segen und Wachstum der Flur und der Menschen; damit sie deren Fruchtbarkeit erhöhten, zeigte man ihnen verstärkte geschlechtliche Kraft. Sonnen- und Himmelsgott empfingen als Gaben ihre Bilder, Donar empfing seine Hämmer. Tiu und Wodan und die Kriegsgöttinnen



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waren des Kriegs- und Heilzaubers mächtig. Wodan entfachte und beschwor auch die Flammen. Die nachdrücklichsten germanischen Zauberformeln, zugleich die dramatisch am wirksamsten vorbereiteten , erhielten uns die Merseburger Zaubersprüche: entspring den Haftbanden, entfahr den Feinden! und: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Glied, als ob sie geleimt seien. —

Wahrsagung als eine bei den Germanen besonders geübte religiöse Sitte schildert uns Tacitus. Wir wissen schon von der Beobachtung und Deutung der Stimmen der heiligen Pferde. Auch Flug und Stimme der Vögel wurde, wie wieder Tacitus meldet, ausgelegt. Fogalrarta, Vogelstimme, übersetzt im Althochdeutschen (ähnlich auch im Altenglischen) das Lateinische auspicium und augurium. Der König der Warnen Hermigisel erblickt reitend einen Vogel auf einem Baum, hört ihn singen und sagt dem Gefolge, nun sei ihm der Tod geweissagt; in vierzig Tagen werde er sterben. Wer von uns denkt hier nicht an die Weissagungen der Meisen an Sigurd, nachdem er den Fafni getötet? Weise Vögel, die das Schicksal der Könige und erlauchter Helden wissen, heben auch manche andere nordische Heldenlieder in den Schauer des überirdischen. Gute und böse Vorzeichen, von denen der Aberglaube unsrer Tage noch voll ist und die uns die nordische überlieferung ins Heroische steigert, werden die Germanen auch gekannt haben.

Von einer Art der Wahrsagung erhielten sich Reste bei den Finnen, sie wird noch im 8. Jahrhundert bei den Friesen erwähnt. Zweige eines Baumes (der Buche?) wurden in Stückchen gebrochen, Zeichen auf sie eingeritzt und auf ein weißes Gewand geworfen. Der Wahrsagende betete nun zu den Göttern, nahm dreimal je ein Stückchen auf und erklärte das eingeschnittene Zeichen. Der Wille des Gottes, der sich so offenbarte, wurde bedingungslos befolgt. Die eingeritzten Zahlen werden eine Art Bilderzeichen gewesen sein, mit einem bestimmten heiligen oder



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orakelhaften Sinn, und Vorläufer der Runen, der Priester oder der Hausvater erschlossen ihre Bedeutung. Das alles setzt einen ausgebildeten und entwickelten Opferdienst bei den Germanen voraus.

Die Wirkung des Zaubers erhöhten später die Runen. Ebenso wie das antike Alphabet hatte die germanische Runenreihe eine zusammenfassende magische Bedeutung. Auch einzelnen Runen, z. B. denen von Ty und Thor, traute man später besonders starken Zauber zu, ebenso den Reihen von acht oder zehn Zeichen. Später ritzte man die Runen in zauberkräftige Amulette, um deren Kraft zu steigern. Die erweckte Walküre Sigrdrifa erzählt dem Sigurd von zauberkräftigen Runen, die Mimi kannte und die geritzt waren auf die Tatzen des Bären, die Pfoten des Wolfes und den Schnabel des Fischadlers, den Nagel der Norne und den Schnabel der Nachteule . Runen auf Grabsteinen waren oft Abwehrzauber, sie bedrohten die Störer der Grabruhe und erbaten die Hilfe der mächtigen Götter.

Der Glaube an die magische Kraft des Haares begegnete uns in mancher germanischen überlieferung. — Sigurd verbirgt dem sterbenden Fafni, der ihn darnach fragt, den Namen, denn es war, bemerkt der Aufzeichner des Liedes, ein Glaube aus alter Zeit, daß das Wort eines dem Tode verfallenen Mannes viel vermöge, wenn er seinen Feind verwünsche, indem er dessen Namen nannte. Wie mit dem Haar lieferte der Mensch eben mit seinem Namen seine Zauberkraft dem zauberkundigen Feinde aus. Eine Menge von Formen hat dieser Wahn bei allen Völkern angenommen . Uns überrascht es fast, daß wir ihn im Germanischen nur einmal finden. Doch sei an die germanische Sitte erinnert, daß ein Held mit seinem Namen zugleich ein Geschenk empfing und daß Geber und Empfänger des Namens dadurch in einen engen Bund treten. Auch den Schutz der Götter suchte man sich dadurch zu sichern, daß man ihren Namen in den eigenen Namen aufnahm. — Das gemeinsame Blut war das stärkste Band der



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Sippen, die Blutsbrüderschaft die stärkste Verbrüderung der Helden , Loki und Odhin waren in alten Zeiten Blutsbruder. — Als im Norden die Asen und Wanen Frieden schlossen, gingen sie alle um ein Gefäß herum und spieen ihren Speichel hinein. Zum Zeichen der Freundschaft spucken sich noch heute manche Völker ins Gesicht. — Nach einer Aussage einer späten lombardischen Chronik bannt das zauberkräftige Haupt eines Erschlagenen die Flammen, im Nordischen raunt das Haupt des weisen Mimi dem Odhin tiefe Weisheit zu. Fertigte man darum Becher aus dem Schädel der erschlagenen Feinde und trank aus ihnen, daß sich ihre Tapferkeit auf den Sieger übertrage? — Paulus Diaconus erzählt von einem Mann, der sich in eine Fliege verwandelte, um das Gespräch zweier Verschwörer zu belauschen. Der eine hieb der Fliege einen Fuß ab und der Mann war nachher am Fuße verstümmelt. Deutsche Sagen melden Entsprechendes von Heren, die sich in Katzen verwandeln und denen der Fuß abgeschlagen wird. Der böse Kobold in der nordischen Göttersage, Loki, wählt auch die Gestalt einer Fliege, um einen Diebstahl auszuführen.

Wie voll von seltsamem Zauber war doch die Welt unsrer Vorfahren und wie anders als unsre ist ihre Welt, in der ein Baum den Blitz anzieht, in der die Wassertiere das Wasser besitzen , in der die Riesen dem Gott seinen Blitzhammer stehlen und in der die Gestirne unsicher schwanken! Wir wundern uns nicht, wenn die alten Deutschen den Zauberer und die Zauberei auch nach ihrem Tode fürchteten, wenn sie ihn lieber noch einmal erschlugen , ihn köpften, ihm einen Pfahl durch die Brust stießen oder seine Asche in die Winde streuten.

Bei den Cimbern führten Priesterinnen, ehrwürdig und grauhaarig und weiß gekleidet, mit ehernem Gürtel umgürtet und mit bloßen Füßen die gefangenen Feinde zu einem geräumigen ehernen Kessel. Sie stiegen auf einer Leiter hinauf und durchschnitten die Kehle des Opfers. Aus dem Blut, das in den Kessel rann, wahrsagten



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sie. Das ist das älteste Zeugnis über germanische Wahrsagerinnen. Im Heer des Ariowist mahnten wahrsagende Frauen, den Kampf nicht vor Neumond zu beginnen. Tacitus nennt unter den germanischen Wahrsagerinnen die Albruna und die Brukterin Weleda. Ihr galt eine besondere Verehrung, sie verhandelte nur durch einen Getreuen mit ihren Bittstellern, für die Menge unsichtbar, weilte sie in einem Turm. Dio Cassius erzählte von der Seherin, die dem Drusus aus dem Walde entgegentrat, er weiß noch von der semnonischen Seherin Ganna (zu gand, Zauberstab). Eine semnonische Seherin Waluburg nannte ja auch das neu entdeckte Ostrakon (S. 17). Der fränkische König Guntram befragte ebenfalls eine Wahrsagerin, wenn er die Zukunft erfahren wollte. Sueton kennt eine hessische Wahrsagerin, die Winniler wurden, wie wir wissen, von der Gambare geführt (S. 49f.), und einer Wahrsagerin Thiota gedenken die Fuldischen Annalen oon 847, sie war von Schwaben nach Mainz gekommen. Diese Zeugnisse, aus einem Jahrtausend von der Wissenschaft aufgelesen, bestätigen die schöne Angabe des Tacitus oon dem Schauer der Heiligkeit und des Sehertums (des sanctum und providum), der die germanischen Frauen umweht. Sie bestätigen auch unsre Feststellung vom Alter und von der Bedeutung der germanischen Göttinnen, denn ursprünglich werden die Wahrsagerinnen im Dienst der Göttinnen gewaltet haben. An die Göttin wendet sich noch die Gambara und überwindet mit ihrer Hilfe den Gott. Im Norden bewahrten sich die Zauberfrauen, die Wölwur, bis in das letzte Heidentum ihr hohes Ansehen. Das tiefste nordische Götterlied, die Wöluspa, heißt Weissagung der Seherin. Wir finden bei vielen alten Kulturvölkern und auch bei primitiven eine besondere Verehrung der Frauen, diese steigert sich bisweilen zu dem sogenannten Mutterrecht. Religiöser und schöner hat sich diese Verehrung nirgends gestaltet als bei unsren Vorfahren.

Von unsren Darlegungen aus gewinnt der Bericht eine neue



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religionsgeschichtliche Bedeutung, daß die Priester der Alcis weibliche Tracht trugen; aus der Priesterin wurde der Priester in weiblicher Tracht und aus diesem der Priester. Das Widerspiel sind die Winnilerfrauen, die der Art der Männer sich dem männlichen Gotte zeigen, und die das Zeichen der Männlichkeit, die langen Haare, gewissermaßen überbieten.

Dem germanischen Priester lagen die höheren Aufgaben des Gottesdienstes ob. Sie waren die Bürgen, daß der Wille und das Gebot der Götter richtig erfüllt werde. Die Frau besaß das ihr eingeborene Ahnungsvermögen und die weibliche Erfassungsgabe — wir dürfen ruhig sagen den Mutterwitz —, vom Manne wurde schöpferische Einsicht, genaue Kenntnis des Rituals und kombinatorisches Vermögen gefordert. Das geht schon aus den Angaben des Tacitus über das Wahrsagen, über den Dienst bei der Nerthus und bei den Alcis und bei den heiligen Pferden hervor. Die Burgunden nannten ihren Opferpriester sinista, d. h. den Ältesten, den Erfahrensten und Vornehmsten, die Priester gehörten dem Adel an. Man nannte sie auch Gesetzeskünder. Sie waren dem König ebenbürtig, vielleicht versahen auch die Könige das priesterliche Amt. Im Kriege besaßen die Priester als die von Gott Beauftragten die Strafgewalt, bei den heiligen Versammlungen geboten sie Schweigen. Wüßten wir nun nicht durch unsre Zeugnisse von dieser Bedeutung der Priester, so müßten wir sie erschließen aus der Form des germanischen Gottesdienstes. Die Fülle der Namen und Beinamen, die der priesterliche Gottesdienst den Himmelsgottheiten und dem Wodan gab, waren uns Beweise für die hohe Stufe, die der germanische Gottesdienst erreichte. Auch die von uns absichtlich betonte künstlerisch hohe Vollendung der germanischen Gebete, Hymnen und Zaubersprüche bezeugen in den Jahrhunderten der Völkerwanderung bei vielen germanischen Stämmen, namentlich bei den Goten, eine hohe priesterliche Kunst, der Kunst der germanischen Heldendichtung ebenbürtig. Wir rufen



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uns noch einmal die altenglischen Segen und Gebete, das Wessobrunner Gebet, die gotisch-germanische Runenreihe, die Nordendorfer Runenspange, die Beschwörungen Donars ins Gedächtnis. Die Lieder, die bei dem Opfer erklangen unter dem Tanz der Gläubigen, die feierlichen Wahrsagungen und die dunklen und die tiefen Antworten auf dunkle und tiefe Rätselfragen, die Lieder, die die Toten zum Leben weckten, und die andern, die ihm zur Ehre und Freude angestimmt wurden, diese ganze großartige religiöse Dichtung der Germanen ist uns wohl für immer verloren.

Neben der priesterlichen bestand eine volkstümliche und allgemeine Verehrung der Götter. Das Haupt der Familie leitete den häuslichen Gottesdienst. Votivsteine und der Mütterkult beweisen , daß einzelne und gerade Angehörige der niederen Schichten den Göttern ihren Dank und ihre Opfer darbrachten. Die ganzen Stämme und Stammverbände kamen zu den heiligen Zeiten zum Fest und zum Opfer, wie wir das oon den Semnonen, von der Nerthus, von den Verehrern der Tamfana, von den Alemannen erfuhren. Ebenso übten ganze Völker ihren Zauber, wenn etwa die Franken die kriegsgefangenen Goten in den Fluß warfen, um das Schicksal zu erfahren. Eine priesterliche Kaste und eine priesterliche Herrschaft, wie bei den Kelten die Kaste der Druiden, hat sich bei den Germanen kaum entwickelt. Manche germanische religiöse Dichtungen tragen auch volkstümliche Merkmale, die Sagen z. B. über die Schöpfung der Welt, über den einarmigen Himmelsgott, über die Kämpfe oon Donar mit Ungeheuern. Jenes Durcheinander von hoch und niedrig, von heilig und irdisch in Zaubersprüchen und Göttersagen haben wir ebenfalls als volkstümliche Kunst gedeutet. Besonders Donar erweist sich auch von dieser Seite als der volkstümlichste deutsche Gott.

Der Gottesdienst der Germanen steigt schon in früher Zeit von grausamen und unbeholfenen Übungen empor zu jenem Schauder, den Goethe der Menschheit bestes Teil nennt, und erhebt sich zu



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einer seltsamen großartigen Kunst. Die Zauberei und die niederen religiösen Formen der Verehrung entwickeln sich am Fuße der hohen Religion weiter und folgen ihren eigenen Gesetzen. Oft mag ein Herüber und Hinüber der Wirkung stattgefunden haben.


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