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Kapitel 

Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


5. Mutter Erde

Von dem Kult einer germanischen Göttin erzählt Tacitus sehr eingehend, von dem Kult der Nerthus.

Die Reudigner, Avionen, Angeln, Wariner, Eudosen, Suarthonen und Nuithonen, deutsche Völker, zwischen Flüssen und Wäldern wohnend , verehren insgesamt die Nerthus, das ist Mutter Erde, und glauben, daß sie sich in die menschlichen Dinge mischt und zu den Völkern gefahren kommt. Auf einem Eiland des Meeres liegt ein unentweihter , ihr geheiligter Wald, da stehet ihr Wagen mit Decken umhüllt , nur ein einziger Priester darf ihm nahen. Dieser weiß es, wann die Göttin im heiligen Wagen erscheint; zwei weibliche Rinder ziehen sie fort und jener folgt ehrerbietig nach. Wohin sie zu kommen und zu beherbergen würdigt, da ist froher Tag und Hochzeit; da wird kein Krieg gestritten, keine Waffe ergriffen, das Eisen verschlossen.

Nur Friede und Ruhe ist dann bekannt und gewünscht; das währt



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so lange, bis die Göttin genug unter den Menschen gewohnt hat, und der Priester sie wieder ins Heiligtum zurückführt. In einem abgelegenen See wird Wagen, Decke und Göttin selbst gewaschen: die Knechte aber, die dabei dienen, verschlingt der See alsbald.

Ein heimlicher Schrecken und eine heilige Unwissenheit sind daher stets über das gebreitet, was nur diejenigen anschauen, die gleich darauf sterben.

Auf welcher Insel die Göttin gefeiert wurde, wissen wir nicht, manche Anzeichen deuten auf Seeland. Tacitus erklärt die Nerthus als Mutter Erde. Dabei denkt er gewiß daran, daß ihr Kult mit dem Kult einer phrygischen, in Rom bekannten Gottheit, einer Mutter Erde, viele Ähnlichkeiten hatte. Aber auch germanische Zeugnisse machen es wahrscheinlich, daß die Nerthus wirklich eine Mutter Erde war.

Wenn die alten Engländer den Pflug ansetzten und die erste Furche zogen, so sprachen sie das feierliche alte Gebet: "Gesegnet seist du, Erde, der Menschen Mutter. Sei du wachsend in Gottes Umarmung, erfüllt von Frucht, den Menschen zum Nutzen." Einen wunderschönen Nachklang dieses Gebetes hören wir in der Edda. Die aus langem Schlaf erwachende Brünhild ruft: "Heil euch Göttern, Heil euch Göttinnen, Heil dir, fruchtschwere Flur!" Die Vorstellung von einer Mutter Erde war also den Germanen bis tief in das Mittelalter hinein vertraut.

Es scheint nun, als hätten unsere Vorfahren an den Wortstamm , der Erde bedeutete, verschiedene Suffixe angehängt, gewissermaßen , um ihre überall aufquillende Fruchtbarkeit anzudeuten . In der gleichen Bedeutung stehen eru (althochdeutsch), erce (altenglisch), ertha (gotisch) nebeneinander. Ein langer altenglischer Segen aus der christlichen Zeit, der Heidnisches und Christliches seltsam durcheinandermengt, zeigt unter christlichen Beschwörungen und Vorschriften die folgende großartige Anrufung: Erce, Erce, Erce, der Erde Mutter, es vergönne der allwaltende, ewige Herrscher, daß die Äcker sprießen und gedeihen im Wettstreit



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der Fruchtbarkeit. Er vergönne dem Korne Wachstum, der breiten Gerste, dem weißen Weizen, der ganzen Flur. — Wir vermuten, in einer reineren Fassung dieses Segens wurden Erce und Erde als Mutter angerufen (Erce, Erce, Erce, du Mutter Erde), die, von Gott umarmt, Fruchtbarkeit der Felder den Menschen spendete.

Aus unsern Zeugnissen geht weiter hervor, daß die Germanen ihre Mutter Erde als Göttin im Frühjahr anriefen. Den Glauben an die Mutter Erde teilen sie mit vielen Völkern, er mag ein Erbe sein aus der indogermanischen Urzeit. Die Jungfrau Maria empfanden unsre Vorfahren als ihre Göttin, weil sie, wie die alte Erde, eine mütterliche Göttin, weil sie die Mutter war. Weiter noch, die Erde wächst in Gottes Umarmung. Wer aber kann dieser befruchtende Gott anders sein als der Vater Himmel? Auch den Vater Himmel haben wir bei den Germanen entdeckt, außerdem ist die Ehe zwischen Vater Himmel und Mutter Erde eine uralte und weitverbreitete Vorstellung. Bei den Indern der wedischen Zeit war sie schon verblaßt, die nordamerikanischen Indianer reden von Mutter Erde und Vater Sonne, die Lappen von Akko, dem Großvater, dem Himmelsgott, oon Akku, der Großmutter, der Erdgöttin. Einige Völker glauben auch, am Anfang der Welt seien Himmel und Erde eng verbunden gewesen und man habe sie gewaltsam trennen müssen, damit ihre Kinder in freiem Licht hätten atmen können.

Bei Tacitus bringt der Priester die Nerthus nach ihrer Umfahrt in das Heiligtum zurück. Nehmen wir nun an, die Nerthus war die Mutter Erde, und wir dürfen es nunmehr, sie wurde wie die altenglische Mutter Erde im Frühjahr gefeiert, so wäre der Priester, ihr Begleiter, der Vertreter des Vaters Himmel und vollzöge am Schluß der Feier mit ihr die heilige Ehe. Auch diese Vermutung wird richtig sein. Denn ein nordischer Bericht aus dem späten Heidentum, der uns noch öfter fesseln wird und der beinahe klingt wie eine Wiederholung der Aussagen des Tacitus,



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teilt uns mit, daß der Himmelsgott Frey und seine Priesterin, die Gottheit der fruchtbaren Erde, durch eine heilige Ehe verbunden waren.

Auch der Name Nerthus weist in dieselbe Richtung, er ist jetzt endlich zuverlässig gedeutet worden, von Erich Berneker. Nerthus (ner+thus) heißt das eintauchende oder ' das in die Erde verschwindende Wesen. Die Mutter Erde könnte keinen treffenderen Namen tragen. Im Herbst und Winter scheint sie im dunkeln Schoß der Fluren und Felder zu versinken. Im Frühjahr taucht sie blühend und grünend tausendfach ans helle Licht. Noch mehr aber, die Göttin taucht tief in das heilige Naß des Himmels und geht aus diesem Bade in neuer, prangender, segensschwerer Fülle hervor . Die geweihte Verbindung von Wasser und Land, von Meer und Erde erklärt uns, daß Nerthus eine Göttin der Erde ist und zugleich von meeranwohnenden Völkern verehrt wird.

Der unentweihts Wald auf einem abgelegenen Eiland, das Heiligtum der Nerthus, ist ein echt germanisches Heiligtum. Auch die Umfahrt der Göttin auf einem Wagen ist ein sehr alter germanischer Brauch. 1902 wurden in Thrundholm auf Seeland (vgl. oben S. 55) eine runde mit dünnem Gold belegte Scheibe gefunden, dazu Räder, offenbar von einem Wagen, auf den die Scheibe gelegt war, und schließlich hübsche Bronzepferdchen, diese hatten die Bestimmung, den Wagen zu ziehen. Erfahrene Archäologen setzen das Werk in die Zeit zirka 1000 v. Chr. und preisen seine vorzügliche Arbeit. Die Scheibe war das Abbild der Sonne und eine Votivgabe, der Sonne wurde ihr Abbild dargebracht, damit sie selbst scheine und zu allen Völkern gefahren käme. — Im heiligen Hain der Germanen wurden weiße Rosse gehalten, kein Sterblicher durfte sie berühren, sagt wieder Tacitus an einer berühmten Stelle der Germania, nur der Priester schirrte sie an den heiligen Wagen, König und Fürsten gingen neben ihnen und alle beobachteten ihr Wiehern und ihr Schnauben als das höchste Orakel,



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an das Hoch und Niedrig, Priester und Laie glaubten. — Die Umfahrt eines Götterbildes, wohl auf einem Wagen, bezeugt uns für die Goten im 5. Jahrhundert Sozomenos. — Donar fährt auf einem Wagen über den Himmel, wir wissen von einem Bilde Thors, im Tempel zu Drontheim, das auf einen Wagen gesetzt war, den Böcke zogen. 'Dies Bild entspricht also dem alten germanischen Bild der Sonne. Der Himmelsgott Balder stieg wie Frey auf einen Wagen und hielt auf ihm seine heilige Umfahrt. — Der Wagen der Göttin, d .h . wohl das Bild der Göttin auf ihrem Wagen, ist verhüllt. Das Volk verhüllt noch immer einen Gott, wenn es seine Unsichtbarkeit andeuten will. So laufen die Burschen, die das Heer der Seelen darstellen, vermummt über die Wege. Der Frühlingsgott, der Pfingstl oder der Wassermann, wird in der grünenden Blätterhülle ganz verborgen. — Das Zeichen, daß die Göttin sich nahte, war etwa das Erblühen einer ihr heiligen Blume oder das Ergrünen eines ihr heiligen Baumes. — Weibliche Rinder als Zugtiere sind Symbole der Fruchtbarkeit. Sie begegnen im Germanischen recht selten, da und dort bei dem ersten Umziehen des Pfluges über die Felder. Die Vermutung läßt sich nicht ganz abweisen, daß Tacitus hier den Kult der germanischen Göttin mit dem der phrygischen magna mater verwechselte, diese führte man auf rinderbespannten Wagen durch die Stadt Rom und ihr Bild und ihr Wagen wurden im Tiber gebadet, d. h. vom Umgang mit den Menschen gereinigt. Vom Bad der Nerthus berichtet wieder Tacitus, sollte er auch diese feierliche Lustration von der orientalischen auf die germanische Göttin übertragen haben? Uns wenigstens ist kein sicheres germanisches Beispiel der Lustration bekannt. — Wie damals Priester und Sklaven den Wagen begleiteten, so umdrängte bis in die Gegenwart hinein bei Frühlingsfesten den Frühlingsgott oder den Träger des Pfingstbaums die jubelnde Menge. Heute ebenso wie vor Jahrtausenden herrschl Freude, wenn er naht, die Felder und Fluren umschreitet,



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die Häuser betritt. Jeder gibt ihm gern eine Gabe, Symbole der Fruchtbarkeit, von denen wieder Fruchtbarkeit ausgehen soll. Auch der Priester wird bei dem feierlichen Umzug der Nerthus kaum versäumt haben, Opfer und Geschenke zu sammeln. — Die Knechte, die bei dem feierlichen Umzug dienten, stürzte man ins Wasser, das war ein Opfer für die Göttin, damit sie andere Menschen verschone und, wie wir noch immer glauben, zugleich ein Regenzauber . Wie die Knechte ganz mit Wasser bedeckt wurden, so sollten die Fluren später im heiligen Regen ertrinken. Als derber Spaß wurde dieser Regenzauber noch bis in unsre Zeit geübt, als Beschluß mancher Frühlingsfeier.

In der Feier der Nerthus schließen froher Jubel, helle Hoffnung , zitternde Scheu vor dem Heiligen und ein grausamer Opfertod einen geheimnisvollen und tragischen Bund. Ein religiöses Drama rauscht an uns vorüber, in dem die Stimmen der Freude in dumpfem Schreck und in banger Furcht vor dem dunkeln Geheimnis der Gottheit verklingen. Aus den Berichten über die Feier des Tiu, über den Hain des Foseti weht uns ein ähnlicher Schauder entgegen; wie fein und tief hat Tacitus diese Stimmung empfunden und gedeutet.

Gerade diese Kontraste, diese Tiefe, der erhabene, religiöse Gehalt fehlt den Frühlingsfeiern, die sonst der Feier der Nerthus auffallend gleichen, die sie erhellen und die wieder oon ihr erhellt werden und die in seltenem Reichtum in vielen Jahrhunderten bei den Germanen und ihren Nachbarvölkern lebten. Die Feier der Nerthus war eben ein germanisches Frühlingsfest, Mutter Erde zog zu ihren Völkern, verlangte ihre Opfer und verhieß ihnen ihre Fruchtbarkeit. Der Bericht des Tacitus, wenn er vielleicht auch in weniger bedeutenden Einzelheiten irrt, führt uns in Altertum und Gegenwart zugleich, mitten in das religiöse Leben der Germanen, das Jahrtausende hindurch trotz allen Christentums lebendig blieb. Eine seltene Fügung, daß uns dieser Bericht erhalten



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ist, wir empfinden sie doppelt dankbar bei der Armut unsrer andern Zeugnisse über die germanischen Götter!

Einige besonders interessante Meldungen über Feste, die denen der Nerthus ähnlich sind, führen wir aus verschiedenen Jahrhunderten und Ländern an, damit der Chor dieser Stimmen die Bedeutung des römischen Berichts noch verstärke. Viel reicher sind die Zusammenstellungen, die Wilhelm Mannhardt in seinen Wald- und Feldkulten machte.

Der nordische, genauer schwedische Bericht, den wir schon erwähnten und den der christliche Berichterstatter allerdings bös zugerichtet hat, sagt aus, Frey sei, von einer Priesterin begleitet und mit ihr vermählt, auf einem Wagen den Winter hindurch zu den Menschen gefahren, überall mit Jubel begrüßt, mit kostbaren Opfern gern bedacht, und er habe den Fluren Fruchtbarkeit gespendet . Das ist wohl nichts anderes als das Nachleben des Nerthuskults im Nordischen. Die Schwangerschaft der Frau, sagt der Bericht, habe den Bauern als ein gutes Zeichen gegolten.

Eine im 13. Jahrhundert verfaßte niederländische Schrift erzählt , daß im 12. Jahrhundert die Priester und Kleriker unter der Teilnahme des ganzen Volkes bei den Feiern des Oster- und Pfingstfestes aus ihren Frauen eine gewählt, sie mit Purpur und Krone geschmückt, auf den Thron erhoben, mit Decken verhüllt und zur Königin erkoren hätten. Dann stimmten sie zu ihrer Ehre Lieder an, unter Begleitung von Musik, und feierten sie, vom Götzendienst berauscht, wie ein Götzenbild.

Hier haben wir das Frühlingsfest, die von den Priestern verehrte und verhüllte Göttin, auf einem Thron, wie früher auf einen Wagen gesetzt und im Angesicht des ganzen Volkes gefeiert.

Marie Andrée Eysn berichtet in ihrem Buch, Volkskundliches aus dem bayerisch-österreichischen Alpengebiet:

"In jedem Weiler, in jedem Dorfe im Pinzgau ist eine Familie, die eine Frautafel ' besitzt, ein Madonnenbild, Mariä Heimsuchung



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darstellend, meist ein Ölgemälde des 17. und 18. Jahrhunderts. Solch ein Bild, welches das ganze Jahr über in der besten Kammer, obern Geschoß des Hauses aufbewahrt war, wird in die Stube herabgebracht und in einer mit Fichtenzweigen und künstlichen Blumen geschmückten Ecke aufgestellt. Spät abends versammeln sich davor die Dorfbewohner, es werden Psalter gebetet und ,Fraulieder' gesungen, dann das Bild auf einer Kraxe (Traggestell) befestigt und spät in der Nacht, begleitet von fackeltragenden Burschen und Mädchen, Männern und Frauen unter Gesang frommer Lieder nach dem Gehöft eines wohlhabenden Bauern getragen, zuweilen weit entfernt oder hoch gelegen, wo es freudig erwartet wird. Nachdem es auf seinen vorgerichteten, gezierten Platz gebracht, wiederholen sich Gebet und Lieber; dann werden alle Ankommenden mit Brot und Käse, Schnaps und gedörrtem Obst, ,Kucheln' und Krapfen, je nach den Vermögensverhältnissen des Bauern, bewirtet, und fröhliche, zuweilen aber auch mehr als übermütige Tänze schließen die Feier.

Das Bild bleibt bis zur nächsten Nacht, in welcher es in ebensolcher Weise wieder abgeholt und in ein anderes Gehöft gebracht wird, das sich glücklich schätzt, es zu beherbergen, denn wohin es kommt, bringt es Segen, Gedeihen und Fruchtbarkeit.

Die Umzüge des Bildes dauern bis zur Christnacht, in welcher diese ,Frautafeln' in ebenso feierlicher Weise zur Pfarrkirche getragen und auf den Seitenaltären aufgestellt, nach der Christmette aber wieder an ihren Ort in dem ursprünglichen Hause zurückgebracht werden."

Diese Maria, die Maria Gravida, wird auch im Bayrischen Wald verehrt. Wie die Priesterin des Frey ist die Mutter Gottes bei diesen Feiern in gesegneten Umständen, ein Symbol der Fruchtbarkeit. Nur an einer feierlichen Zeit des Jahres erscheint die Nerthus ihren Verehrern, wird das Bild der Maria herumgetragen. Sonst bleibt sie das ganze Jahr am geweihten Plag.



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Die Nerthus fährt auf ihrem Wagen, begleitet vom Priester, unser Bild wird auf einem Traggestell befestigt und bei seinem Umzug von Burschen und Mädchen, Männern und Frauen begleitet. Helle Freude war bei der Nerthus und ist bei der Maria das Kennzeichen der Feier, und zu beiden Feiern gesellten sich Opfer, reiche Bewirtung, Tanz und Gesang, man vergleiche wieder den Bericht über Frey und den niederländischen des 12. Jahrhunderts. Die Feier in Bayern wurde so ausgelassen, eine solche Gaudi, daß die Geistlichkeit endlich einschritt und das Fest überhaupt verbot. Mit Fichtenzweigen und künstlichen Blumen wurde das Bild, vordem es die Fahrt antrat, geschmückt. Ursprünglich verhüllten es wohl Bäume und Blumen des Frühlings. Das Fest wurde in Bayern in die Zeit der Jahreswende verlegt, wie manche andere Frühlingsfeste auch. In die Nacht mag es sich in alter Zeit geflüchtet haben, weil die Geistlichkeit eine heidnische Feier am hellen Tage nicht duldete.

Die Verwandtschaften im ganzen und im einzelnen zwischen der germanischen, der schwedischen, der niederländischen, der bayerischen Feier, zwischen dem 1., dem 12. und dem 19. Jahrhundert werden jedem auffallen. Unsere Beispiele zeigen unwiderleglich, mit welcher Treue germanische Völker an uralten Bräuchen festhalten können.

Die Völker, bei denen die Nerthus umzog, gehörten zu den Ingaewonen, zu den am Meere hausenden, und ihr Gott hieß Ing. Sein Namen erscheint noch im Beinamen des Frey, der im schwedischen Yngwifrey oder Yngunarfrey heißt (die Bedeutung des wi und des unar sind noch nicht zweifelsfrei aufgehellt), und in dem Namen des schwedischen Königsgeschlechts, der Ynglinge. Den Ing selbst nennt ein altenglisches Runenlied, das in stabreimenden Versen die Bedeutung der germanischen Runennamen uns erklärt und in geheimnisschweren Versen aussagt, er sei zuerst bei den ostdänischen Männern gesehen worden, dann ging er nach



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Osten, über die Wogen schritt er und sein Wagen rollte ihm nach. Ein Gott, am Meere hausend, über Land und Meer, zu verschiedenen Völkern ziehend, ein Wagen sein Gefährt oder auch ein Wagen ihm folgend, das sind immerhin Merkmale, die den Ing in nächste Nähe der Nerthus stellen. Sonst regen die Verse wohl die nachschaffende Phantasie an, geben aber der Wissenschaft keinen festen Halt.

Ein Teil der Germanen, sagt Tacitus, opfert der Isis. Ihr Wahrzeichen sei wie ein Schiff gestaltet und ihr Kult stamme daher aus der Fremde, wenn man auch nicht wisse, was sein Grund und Ursprung sei. Die Isis war demnach eine die Schiffahrt begünstigende Göttin. Der Annahme des Tacitus, sie sei aus der Fremde eingewandert, brauchen wir nicht zu folgen, wenn wir bei den Germanen Götter finden, die gerade die Schiffahrt beschützen. Ein solcher ist anscheinend der eben genannte Ing und war sicher der nordische Njördh, von dem Snorri uns mitteilt, daß er da wohne, wo es Schiffszaun (Noatun) heißt und daß er dort walte über des Windes Lauf und das Meer und das Feuer beruhige. Man solle ihn bei der Seefahrt anrufen. Der Name Njördh (Njördhr) entspricht nach den im Nordischen waltenden Lautgesetzen Laut für Laut der germanischen Nerthus und ist ihr auch im Wesen recht verwandt. Doch ist seine Herrschaft gewissermaßen weiter aufs Meer hinausgerückt.

Die Isis kommt dadurch der Nerthus nah, sie gewinnt ein germanisches Antlitz. Seinen Zügen können wir eine noch lebendigere Zeichnung geben, denn die Isis des Tacitus ist wahrscheinlich dieselbe Göttin wie die Nehalennia, von der uns Votivsteine manche Kunde geben. Nehalennia heißt nämlich Schiffsherrin (nea in neal-ennia lautet ab zu noa in noatun und beide sind urverwandt mit lateinisch navis, navalis). Die Votivsteine zeigen das Bild der Göttin, wie sie entweder den linken Fuß auf den Steven eines Schiffes stellt oder wie sie auf ein Ruder zu ihrer Rechten sich



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stützt. Neben ihr stehen Neptun und Herkules in römischer Auffassung , und Früchte, Fruchtkörbe, Füllhörner als Symbole des Reichtums, man erkennt die Verwandtschaft mit Njördh. Die Steine sind von Kaufleuten wohl als Dank für glücklich und erfolgreich überstandene Fahrten oder für andere Wohltaten der Göttin gewidmet. Zwei wurden in Dentz gefunden, vierundzwanzig in Dornburg auf der Insel Walcheren im 17. Jahrhundert vom Dünensand befreit und 1845 sorgfältig beschrieben und abgebildet. 1848 wurde über die Hälfte bei einem Brande schwer beschädigt oder zerstört.

Vom Jahre 1133 wird berichtet, daß ein Bauer aus Inden (im Gebiet von Jülich) im nahen Wald ein Schiff zimmern ließ, das auf Rädern lief und durch vorgespannte Menschen an Stricken zuerst nach Maastricht gebracht wurde, wo Mastbaum und Segel hinzukamen. Dann wurde es hinauf nach Tungern, Lonz usw. im Lande umhergezogen, überall unter großem Zulauf und Geleit des Volkes. Wo es anhielt, war Freudengeschrei, Jubel und Tanz, namentlich der mit ausgelassener Lust erfüllten Frauen. Das ging um das Schiff herum bis in die späte Nacht. Die Ankunft des Schiffes sagte man den Städten an, die ihre Tore öffneten und es feierlich einholten. Die Weber wurden zum Schiffsumzug gezwungen , dafür durften sie dem übrigen Volk den Zuzug wahren und Pfänder erheben. Der Zorn der Geistlichen bewog endlich den Grafen von Löwen, den Umzug mit Gewalt zu verbieten.

Solche Schiffsumzüge sind alte Frühlingsfeste, von vielen Völkern . gern begangen und bis in die Gegenwart lebendig. Die Schifffahrt auf den enteisten Flüssen wurde in frohem, feierlichem Bild dargestellt, damit sie auch in Wirklichkeit bald beginnen könne. Die Göttin, der diese Feier galt, wird der alten Nehalennia geglichen haben, als Göttin der Schiffahrt und des Frühlings war sie auch der Nerthus recht ähnlich. Wie die Nerthus wurde sie von der jubelnden Menge umdrängt, wie jene schuf sie, wohin sie kam,



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Freude und fuhr von einem Volk zum andern. Die Verwandtschaft dieser Feier mit den niederländischen des 12., mit der bayrisch-österreichischen des 19. Jahrhunderts, wieder im ganzen und in den Einzelheiten, wird uns alle wieder überraschen.

Der Bericht von 1133 trägt als besonderes Merkmal die Züge einer ausgelassenen und überschäumenden, echt rheinischen Fröhlichkeit , er versetzt uns in die Stimmung des rheinischen Karneval. Wir glauben sogar, daß wir in ihm den ältesten deutschen Karnevalsbericht besitzen, leitet man doch wohl mit Recht Karneval von carrus navalis ab, von dem Wagenschiff, d. h. von dem wie hier auf Räder gestellten Schiff, das als Symbol des Frühlings die vom Winter befreiten Völker aufjauchzen macht. Das Fest der Nerthus verwandelt sich nun vor uns in einen Ahnherrn der deutschen Karnevalsfeste.

Jetzt weisen wir darauf hin, daß Nerthus eine Göttin, Njördh ein Gott ist. Dieser Njördh ist aber ein weichlicher, fast weibischer Gott und im Norden vermählt mit einer starken männlichen Frau, der Skadhi. In ihrer Ehe verdoppeln sich gewissermaßen beide Geschlechter, das Mannweib verbindet sich mit dem Weibmann. Auch Skadhi erscheint seltsamerweise in einer nordischen überlieferung als Mann. In der nordischen Sage darf Skadhi nur die Füße des Gottes sehen, der ihr Gemahl werden soll. Dies Gebot treffen wir vor allem in orientalischen Gewichten, bei Wesen, deren Geschlecht zweifelhaft ist. Vielleicht stellten sich einige germanische Stämme die Nerthus, die Mutter Erde, die Männer und Frauen hervorbringt, als ein doppelgeschlechtiges Wesen vor. Die magna mater, die wir schon nannten, die besonders in Kreta, Kleinasien, Phrygien und Lydien verehrt wurde und deren Fest dem Fest der Nerthus glich, galt auch als mannweibliche Göttin. Andere orientalische und einige Götter der Primitiven sind ebenfalls androgyn. Eine nordische Gottheit Fjörgyn erscheint außerdem als männlich und als weiblich. Von dieser Gottheit behaupten alte



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nordische Gewährsmänner, sie sei die Erde. Fjörgyn war den Germanen, und wohl schon den Indogermanen bekannt. Der Name ist verwandt mit gotisch ferguni, Gebirge, mittelhochdeutsch virgunt, Name eines Gebirgszugs, lateinisch quercus, Eiche, litauisch Perkunos, , der Donnergott, indisch Pardschanja, der Regengott; die Gottheit haust im Eichenwald, der aus der Erde sprießt. War ihr der mächtige Eichenwald, die silva Hercynia, heilig? Wenn uns nun Tacitus sagt, die Germanen hätten den Tuisto, den Sohn der Erde gefeiert, so vermuten wir, daß der Römer sich hier geirrt hat und daß tuisto das ist das Zwitterwesen, das Mannweib, eben die Erde selbst war, wie noch im Nordischen der Riese Ymi, aus dem die Menschen sich erzeugten, ein doppelgeschlechtiger Riese scheint.

Zwei Vorstellungen von der Mutter Erde, die eine, daß aus ihrer Umarmung mit dem Vater Himmel alle Frucht wachse, die andere, daß sie selbst als doppelgeschlechtiges Wesen Männer und Frauen hervorbringe, liefen, wie es scheint, bei den Germanen nebeneinander.

Man beachte noch das Folgende: die Göttin Nerthus begleitet ein Priester, den Gott Frey eine Priesterin, den Gott Balder behütet eine Frau, Göttinnen wachen über sein Schicksal. Die niederländischen Priester erheben und krönen eine ihrer Geliebten. Männer ziehen das Schiff der Nehalennia, Frauen umtanzen es. Der altenglische Priester reitet, ohne Schwert, auf einer Stute.

Und: der Sohn des Zwitterwesens Tuisto ist mannus, der Mann; der Sohn des zweigeschlechtigen Ymi ist bur, der Geborene, der erste Mann, der Sohn der zweigeschlechtigen Fjörgyn ist Donar-Thor, der stärkste, der männlichste Gott.

Wir denken nun an unsere Analyse der longobardischen Fabel zurück (S. 50). Was wir dort ermittelten, wird durch unsere neuen Beobachtungen überraschend bestätigt. Bei Gottheiten der Fruchtbarkeit und der Zeugung stellen die Germanen, Niederdeutsche,



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Niederländer, Schweden, Longobarden in wechselnden Variationen die Vertreter beider Geschlechter neben- und gegeneinander. Sie suchen die Gewalt der geschlechtlichen Kraft auch dadurch zu verstärken , daß sie einem Wesen die Kraft beider Geschlechter geben, eine zugleich primitive und großartige Anschauung.

Durch diese Genealogien wird ein Zug im Wesen Donars noch stärker betont: der männliche und schöpferische. Er, der über Ehe und Zeugung wacht, wie bei den Römern die Mutter Erde selbst, erscheint uns nun als der starke Sohn der Mutter Erde und scheint aus ihren unerschöpflichen Tiefen immer neue Kräfte zu heben. Vielleicht feierten die Germanen ihn als den großen Demiurgos, den Schöpfer und Ordner der Welt, der Bereich seiner übereinstimmung mit Zeus und Jupiter würde sich dann mächtig erweitern. In einem sehr alten griechischen Gebet wird Zeus als Sohn der Erde angerufen. Noch die Edda sagt uns, Thor habe die Zehe eines Gottes an den Himmel geworfen, wo sie nun als Stern leuchte, er habe die Wetzsteinfelsen abgesprengt, die nun überall auf der Erde liegen, er habe mit seinem Hammer Vertiefungen ins Felsgebirg geschlagen, er habe die Ebbe hervorgerufen, ihm danke der Lachs seinen schmalen Schwanz. Es war wohl auch Thor, nicht Odhin, der die Augen des Riesen Thiazi als Sterne an den Himmel setzte.

Unser Kapitel über die Mutter Erde hat uns in ein neues Zeitalter der Mythologie getragen. In diesem herrschten die weiblichen und mannweiblichen Gottheiten und alter Glaube von Fruchtbarkeit und Zeugung schwoll vor uns auf, alte Wünsche junger unverbrauchter Völker nach dem Segen der Flur und der Fülle der Kinder. Die Vorstellungen haben noch nicht die klare Bestimmtheit und die festen Umrisse wie die von Tiu, Donar und Wodan und stammen aus einer Zeit, die vor jenen Göttern lag. Dafür sind sie viel länger lebendig geblieben, weil sie älter und kindlicher waren und erhielten sich bis in die Gegenwart hinein



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in allen germanischen Ländern. Schon in ihren Anfängen aber, und das war ein neues Ergebnis unserer Studien, steigerten unsere Vorfahren ihren ältesten Glauben zu starken Kontrasten und zu dunkler Tragik oder zu großartiger Naivität. Und sie ließen aus ihm ihren stärksten volkstümlichen Gott in seiner weltenbildenden Kraft aufsteigen.


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