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Kapitel 

Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


1. Die Überlieferung

Wer die Berichte aus dem ersten christlichen Jahrtausend mustert, die uns von dem Glauben und von den Göttern unserer Vorfahren erzählen, der wird eine lange Zeit eine schwere Enttäuschung nicht verwinden können, so klein sieht der Ertrag zuerst aus. Einige Zaubersprüche und Runeninschriften, eine Reihe von Götternamen, einige, bisweilen nur gelegentliche Angaben bei griechischen, römischen und germanischen Schriftstellern und in den Lebensbeschreibungen der Missionare, das ist eigentlich alles. Dazu sind diese Zeugnisse oft gar nicht oder kaum verständlich oder sie lassen viele Deutungen zu und haben dann auch viele und sehr widersprechende Deutungen hervorgerufen. Besonders wichtige Zeugnisse sind auch in ihrem germanischen Wert und ihrem germanischen Charakter angezweifelt worden.

Vor dreißig Jahren etwa — und dieser Anschauung huldigen noch heute manche Gelehrte — galt als Losung der Wissenschaft der germanischen Mythologie gegenüber Resignation, das Eingeständnis , daß wir so gut wie nichts wüßten. Die Ehrlichkeit verlange diesen schweren Verzicht. Es sei die Kunde aus unsrer mythischen Vorzeit gar zu unzuverlässig und gar zu gering.

Im letzten Menschenalter ist diese Auffassung umgeschlagen. Immer zuversichtlicher und entschiedener betonen wir heute, daß die vielgeschmähten und verdächtigten germanischen Zeugnisse so arm nicht sind, wie sie unsern Lehrern und früher auch uns erschienen. Gerade ihre oft nur andeutenden, geheimnisvollen und lückenhaften Worte reizen immer von neuem, jede auch noch so



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leise Spur zu erkennen und zu verfolgen. Die Arbeit der letzten Jahre hat außerdem manche neue Kunde und Hilfe entdeckt, hat auch die Augen der Forscher oft geschärft. Die erste Aufgabe bleibt die Deutung der Namen mit Hilfe der Sprachwissenschaft: diese Hilfe nimmt an Kenntnis, Einsicht und Umblick stetig zu. Die Interpretation und Erklärung der Denkmäler aus sich selbst, ihre genaue Abgrenzung nach Zeit und Ort und Geltungsbereich, mit sorgfältigem Aufmerken auf jede Einzelheit ist das nächste Erfordernis. Soweit es geht, soll man auch die Zeugnisse in ihrer zeitlichen Folge aneinanderreihen. Ferner wirkt ein Vergleich verschiedener Aussagen erhellend auf beide Seiten, und wenn Zeugen aus getrennten Jahrhunderten fast wörtlich das Gleiche sagen oder einer den anderen willkommen ergänzt, so gewinnen wir da und dort festen Boden. In den östlichen und südöstlichen europäischen Ländern wurden drittens manche, bis heute noch nicht verwischte alte Spuren germanischen Glaubens und germanischen Geistes sichtbar. Germanische Berichte werden alsdann durch nordische und nordische durch germanische bestätigt und berichtigt, wie wir in unserer Einleitung schon andeuteten. Durch viele Jahrhunderte oft und lebhaft bezeugter Brauch, ebenso Sage und Glaube der germanischen und deutschen Völker enträtseln und beleben uns gleichfalls mehr als einmal die fragmentarische Kunde der Vorzeit. Die Erfassung und Umgrenzung der römischen Gottheiten, mit denen römische Schriftsteller die germanischen vergleichen, kann uns das Wesen der germanischen bisweilen erklären. Endlich kann ein Vergleich der deutschen Zeugnisse mit dem Glauben und dem Kultus der sogenannten primitiven Völker in alter und neuer Zeit überraschende Aufklärungen bringen, wenn man die Verwandtschaften und Ähnlichkeiten, die hier so oft und unvermutet auftauchen, , behutsam prüft und nicht in ihrer Tragweite überschätzt. Jedenfalls haben die Berichte über diese primitiven Völker und ebenso die vielen Sammlungen von deutschem Brauch und Glau



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ben und von deutschen Sagen der Gegenwart unser mythisches Material unendlich bereichert und damit neue Möglichkeiten methodischer Einsicht geschaffen. Freilich, das dürfen wir uns nicht verschweigen, daß wir unsere Bauten auf schwankem Boden mit brüchigen Steinen und trügerischem Kitt noch allzuoft errichten müssen. Und diese schmerzliche Gewißheit wird uns noch oft den Mut beengen . Aber die Wissenschaft darf auf dem Gebiet der germanischen Mythologie wieder hoffen und wagen und das frische Leben, das wieder in sie einkehrte, trug uns bereits manchen schönen und festen Gewinn ein.


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