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Kapitel 

Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


Einleitung zum Deutschen Sagenbuch

Die deutsche Sage begleitet das deutsche Volk von seinen dunklen Anfängen die Jahrtausende hindurch bis in unsere Gegenwart. Durch grauenvolle Kriege, durch inneren Hader und durch andere unselige Verhältnisse ist die deutsche Entwicklung immer aufs neue zurückgeworfen oder zerstört worden. Die Geschichte selbst scheint den Zusammenhang mit unserer eigenen Vergangenheit zerrissen zu haben, das Leben und die Kunst unserer Vorfahren sind uns oft fremder, entrückter als die ganz unverwandter Völker. Die Sage blieb in aller dieser Unbeständigkeit dem Volke treu und blieb dieselbe deutsche Sage. Jakob Grimm sagt, sie sei neben dem Menschen wie sein guter Engel schützend hergegangen. Treu und einfältig bewahrt sie uralten, ehrwürdigen und unheimlichen, segnenden und vernichtenden Glauben, sie breitet ihren Zauber um den See und den Wald, die Berge und die Burgen der Heimat, und ihre einfachen Worte scheinen zugleich deren tiefstes Wesen zu enthüllen. Von den ersten unbeholfenen Regungen des Glaubens, des Rechtes, der Sitte führt sie uns langsam zu einer bestimmteren, lebendigeren Anschauung von Natur und Geist, gibt uns ihre Hexen und Zauberer, Kobolde und Wichte, Elfen und Nixen, Feld, und Waldgeister, Zwerge und Riesen. Die aus Furcht und Ehrfurcht gemischte Verehrung der Ahnen, der Glaube an die zauberischen Kräfte des Geistes, der demütige und hoffende Aufblick zum Vater Himmel, zur Mutter Erde, der Wunsch nach Fruchtbarkeit und Glück schaffen im Lauf der Jahrhunderte die erhabenen, völkerbeschattenden Gebilde der Götter. Die Sage folgt verklärend auch den Helden des Volkes und wirft über sie ein schimmerndes, aus Wunder und Wirklichkeit naiv und seltsam gewebtes Gewand. Manche Kunde aus fernen Ländern und oon ihren Abenteuern dringt in sie ein, aber



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langsam streift sie das Fremdartige darin, auch manches Bunte und Schöne ab, bis nur das bleibt, was sie wirklich mit sich verschmelzen kann. Auch von den wandelbaren Schicksalen des Landes, von seinen Fürsten und Herren, behält sie nur, was in der Seele des Volkes wiederklingt.

Von den Werken, die deutsche Sagen aus allen deutschen Ländern und aus allen Jahrhunderten zusammenstellten, bleibt das unvergänglichste die deutschen Sagen der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. Von diesem Buche ging auch eine tiefe und stille Wirkung aus auf deutsche Kunst und Dichtung. Hellseherische, ungewöhnliche Gelehrsamkeit hat sich in ihm, wie in anderen Büchern der Brüder, verbunden mit schwärmerischer Liebe und natürlichem Verständnis für alles, was zum Volk gehört, und mit einfachem Kindersinn: solches Beieinander von Gaben wird dem Gelehrten sehr selten gegeben.

Das Werk der Brüder Grimm, die Schätze, die nach ihnen fleißige Hände zusammentrugen, und die Erkenntnisse der Sagenforschung sind in unserm deutschen Sagenbuch gesichtet und verwertet; außerdem bringen wir, was seinerzeit die Brüder Grimm ausschlossen, die Göttersagen.

Das deutsche Sagenbuch zerfällt in vier Bände. Der erste Band enthält die Göttersagen (die Götter und Göttersagen der Germanen), der zweite die deutschen Heldensagen, der dritte die deutschen Sagen im Mittelalter, der vierte Band endlich die deutschen Volkssagen. Jeder der Bände ist eine Einheit für sich, aber von dem einen Band fällt neues Licht und neue Aufklärung auf den anderen, und erst das ganze Werk umschließt die ganze Welt der deutschen Sage.

Der erste Band sucht zuerst das Wesen und die Entwicklung der germanischen Götter zu schildern, im engen Anschluß an die uns erhaltenen Zeugnisse, etwa von Beginn unsrer Zeitrechnung bis ins 8. und 9. nachchristliche Jahrhundert. Dann wendet er sich



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in den Norden und erzählt und erklärt nach bestem Vermögen die Göttersagen, die uns vor allem die Edda aufbewahrt. Damit wird der Bereich der deutschen Göttersagen wohl überschritten. Aber die Grundlagen der nordischen Göttersagen sind germanisch. Und die Erkenntnis der Entfaltung der Sagen erleuchtet nicht allein Geist und Glauben, Gestaltungskraft und Götterverehrung des germanischen Nordens. Auch die germanischen Götter und Göttersagen zeigen ihr ganzes Antlitz erst dem Forscher, der gelernt hat, mit den nordischen Augen zu sehen; ohne das nordische Licht bleiben sie gar zu oft im Dunkel, gewaltige, doch unverstandene Denkmäler.

überwältigender, erschütternder noch in seiner Tragik als in den Göttersagen, offenbart sich das Germanentum in seinen Heldensagen: den Sagen, die aus der Zeit der großen Völkerwanderung stammen. Fast alle Lieder, die das Heldentum der Germanen besangen, sind uns für immer verloren: was wir noch besitzen, sind einige Fragmente. Aber dies Erhaltene ist köstlich genug, und anstatt dem Verlorenen vergeblich nachzuklagen, sollten wir uns des Geretteten freuen. Wenige ahnen, wie reich und wie groß dies immer noch ist.

Der zweite Band unsres Sagenbuches gibt, wiederum in genauem Anschluß an das Erhaltene, zuerst eine umfassende übersicht der aus der germanischen Zeit der Heldendichtung geretteten Schätze. Hier ist das A und das O, der ewige Kern der germanischen Heldenlieder, Heldenepen, Heldensagen. Nur wer ihn kennt, der gewinnt den rechten Blick für das Werk der späteren Geschlechter , das in allen germanischen Ländern so viel reicher und mächtiger blühte, als die Göttersagen. In unsrer Darstellung folgt der germanischen Heldendichtung die Heldendichtung Englands und Dänemarks, Norwegens und Islands, dann vor allem die deutsche Heldendichtung bis zum Ausgang des Mittelalters. Die Spiegelung der Heldenwelt eines germanischen Landes in der Welt des andern



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wird das wahre Gesicht dieser Schöpfungen in allen Ländern, ihre Besonderheiten und ihre Größe klar und ganz zeigen.

Die beiden ersten Bände des Werkes tauchen in die älteste deutsche Vergangenheit; sie dringen noch hinter die Geschichte in das Dunkel des Mythus und eine ihrer schönsten Aufgaben bleibt der Nachweis, daß in den ersten Schöpfungen deutscher Einbildungskraft Geist vom edelsten deutschen Geiste lebt und daß die Keime des deutschen Wesens und seiner Entwicklung in jener Zeit wuchsen, deren Dunkel dem Licht der Forschung ein wenig weicht und deren heroischer Umriß vor uns großartig auftaucht.

Der dritte Band, der die Sagen des Mittelalters umfaßt, schließt sich an die deutschen Heldensagen dicht an. Er reiht die Sagen, die vom Jahrhundert Karls des Großen bis zum Jahrhundert Kaiser Maximilians, des letzten Ritters, in die Dichtung herüberwanderten, aneinander. Dieser Band schildert ein Leben, das schon im hellen Sonnenschein der Geschichte vor uns liegt. Die Sagen geben wir wieder nach ihren besten Aufzeichnungen, die Verwandlung der Geschichte in Sage wird sich uns in tausend lebendigen Einzelheiten zeigen. Die ersten Bände müssen aus leisen und verwehten Spuren vergangne Größe erschließen, sie bewegen sich allzuoft auf trügerischem Boden, und wie viele der entscheidenden, wichtigen Fragen bleiben für immer ohne Antwort! Die deutsche Sage des Mittelalters breitet sich in verwirrender Fülle vor uns aus, wir können nur wenig von der überreichen Ernte bergen. Gerade dieser Band kann nicht als Abschluß, er muß als Anfang der Forschung gelten. Die Sagenforscher haben den Reichtum den Geschichtschreibern, diese ihn wiederum den Sagenforschern überlassen, so daß, rühmliche Ausnahmen abgerechnet, keiner der beiden Berufenen ihn wirklich gepflegt hat. Wir hoffen, den Anstoß zu geben zur Sühnung dieser alten Schuld. Die Aufgabe des Erzählers ist hier, das Leben gewähren zu lassen und es doch mit klarer Ordnung zu durchdringen.



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Der letzte, den deutschen Volkssagen gehörende Band bewegt sich zugleich in den ältesten und jüngsten Zeiten der Sage; er gibt die ersten, heute noch lebendigen Vorstellungen wieder über Traum, Schlaf und Tod, über Zauberei und Verdammnis, über die Beseeltheit der Natur, so, wie sich dies alles in der Sage spiegelt. Zugleich verfolgt er, wie die heidnischen und elementaren Motive mit dem Christentum und der inneren Geschichte unsres Volkes sich verschmolzen und wie diese Gebilde heute noch die Gewässer, Wald, Feld und Wiesen, Berg und Tal beleben und auch die Behausungen der Menschen mit ihrem seltsamen Wirken erfüllen.

Die deutschen Sagen der Brüder Grimm stehen wie ein unsichtbarer Schutzgeist hinter diesem Bande. Die Brüder haben die Sagen aus ihrer Vergessenheit erlöst und den Deutschen ihren schlichten und tiefen Zauber gezeigt. Von den folgenden Sammlungen offenbarte jede, wie erstaunlich reich in allen deutschen Landschaften der Besitz an deutscher Sage ist. Eine Auswahl aus diesem Reichtum ist eben unsre Aufgabe, jede Landschaft bringt ihre eigenen Sagen. Namentlich die noch lebendigen Sagen und Vorstellungen sollen in diesen Band fließen.

Wir versuchen aus der Fülle der Volkssagen, die zuerst jeder Bändigung zu widerstreben scheint, ein klar gegliedertes, organisch sich aufbauendes Ganzes zu schaffen, so daß jeder, der sieht, wie die Sagen nun beieinanderstehen und sich ergänzen, ihre Wurzeln erkennen, sie in ihrem Wachsen begleiten und ihre Verzweigungen überblicken kann. Dieser aus dem Wesen der Dinge sich ergebende Aufbau ersetzt manche Erklärung, alle freilich nicht. Denn die Vorstellungen und der Glaube, aus denen die Sage entstand, sind nicht jedem klar, sogar der Forscher muß sie manchmal mühsam erspähen, sie haben sich, während die Sage von Mund zu Mund ging, verdunkelt und verwirrt. Außerdem sind alte und junge, heidnische und christliche, deutsche und fremde Bestandteile in der Sage oft fast unlöslich verschlungen. Diese scheinbare Unklarheit



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vieler Stücke hat manchen von der Sammlung der Brüder Grimm ferngehalten. Werden aber die Wurzeln der Sage freigelegt und der Grund ihrer Zusammensetzungen, Wandlungen, Entstellungen aufgedeckt, so kehrt das echte, immer junge und sich umbildende Leben in diese Gebilde zurück. Ihr eigentlicher und vielfältiger Zusammenhang mit uns ist wieder gefunden, und damit enthüllt sich auch der Sinn, den sie für unsere Gegenwart haben.

Unser deutsches Sagenbuch bietet seine Schätze allen an, die erfüllt sind von treuer und stiller Liebe zur deutschen Heimat, besonders jenen, die in deutscher Vergangenheit und deutscher Dichtung das Wesen des eigenen Wesens suchen und wiederkennen und sich an dieser Erkenntnis erfreuen und stählen wollen. Jeder Band läßt, soweit wir das erreichen konnten, die Sagen selbst reden und das Ziel der Erklärungen bleibt, die Sagen zum Tönen und Reden bringen, deren Mund für immer geschlossen schien.

Wir stellen in unserm Buch die Sagen nicht aus und wir zeigen und erläutern sie nicht, wie Schätze eines Museums, sondern wir wünschen ihnen ein neues Leben, eine neue volkstümliche Wirkung . Die Anmerkungen stehen jedesmal für sich und unter sich; sie können den, der nur die Sagen liest, niemals stören und sie Sorgen, daß alle, die darnach verlangen, sich über die hier behandelten Fragen und Aufgaben der Wissenschaft selbst unterrichten oder unsre Vermutungen und Ergebnisse nachprüfen können. Auch der Forscher und Gelehrte soll von diesem Buche seinen Gewinn haben, dessen Ehrgeiz ist, zugleich ein gutes Volksbuch zu sein und die Anforderungen der Wissenschaft redlich zu erfüllen. Wir möchten, daß es die Liebe zur Heimat in den heranwachsenden Geschlechtern weckt und stärkt, daß es den unterrichtenden Lehrer auf die Vorstellungen und Wünsche führt, die in jungen Seelen lebendig wirken, daß es auch dem Gelehrten die unlösliche Verbindung von deutscher Sage, deutschem Wesen und deutscher Geschichte zeigt.



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Niemand, der von den deutschen Sagen etwas weiß, darf bestreiten, daß in ihnen Werte liegen, die uns Sagen anderer Völker nie ersetzen können. Ihre schöpferische Kraft und ihr überquellender Reichtum sind den Wundern der deutschen Sprache ebenbürtig. Die erhabenen Denkmäler unsrer mythischen und heroischen Vorzeit, unzählige echte und lebendige Erinnerungen aus unsrer ganzen Geschichte, das alte und immer junge, ahnungsreiche, einfältige Wähnen und Grübeln unsres Volkes, seine unermüdlichen Versuche, den ewigen Rätseln von Natur und Geist, Leben und Tod ihr Geheimnis abzuringen: das steht in der deutschen Sage alles nebeneinander, ein Beisammen von Vergangenheit und Gegenwart, Jenseits und Diesseits, Alter und Jugend, das kaum ein anderes Volk kennt und nun schon seit zwei Jahrtausenden am Werk. Die deutschen Sagen zeigen klar und einfach die Kräfte und die Grenzen deutschen Wesens, die wir kennen müssen, wenn wir für unsere Zukunft arbeiten wollen, und von ihnen strahlt ein starkes, unbeirrbares Heimatgefühl in unsere ruhelose, verworrene Gegenwart.

Das berühmte Gedicht der Edda vom Anfang und vom Ende der Welt, die Wöluspa, sagt von der Weltesche: "Der hohe Baum steht immer grün an des Schicksals Quell." Dies Wort haben wir als Geleitwort für das deutsche Sagenbuch gewählt: auch die Sage führt ihre Wurzeln in die tiefsten und dunkelsten Gründe, auch sie erhebt sich am Quell des Schicksals, sie belebt sich und wächst durch sein heiliges Naß und sie verbreitet, dem Baume gleich, durch die Jahrtausende hindurch immer grün, ihr mächtiges Geäst schützend und erfrischend über die ganze deutsche Welt.


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