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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM FROMMEN ISRAELITEN, DER WEIB UND KINDER WIEDERFAND

Einst lebte unter den Kindern Israel ein trefflicher Mann, der großen Reichtum besaß; der hatte einen frommen und gesegneten Sohn. Als ihm das Ende nahte, setzte sein Sohn sich zu seinen Häupten und sprach: ,O mein Gebieter, gib mir ein Vermächtnis!' Da sagte der Vater: ,Mein lieber Sohn, schwöre nie bei Gott. es sei wahr oder falsch!' Darauf starb der Mann, und der Sohn blieb nun allein. Einige verworfene Gesellen unter den Kindern Israel aber hörten von dem Vermächtnis. und so kam denn einer nach dem andern von ihnen zu ihm und sagte: ,Dein Vater schuldet mir soundso viel, und du weißt darum. Gib mir nun zurück, was ihm anvertraut war, oder schwöre!' Der Sohn wollte das Vermächtnis seines Vaters hüten, und so gab er denn einem jeden alles, was er verlangte. Und die Gesellen trieben ihr Spiel so lange mit ihm, bis sein Vermögen ein Ende nahm und er in die größte Armut kam. Nun hatte jener Sohn auch eine fromme und gesegnete Frau, die ihm zwei kleine Söhne geschenkt hatte; zu ihr sprach er damals: ,Die Leute haben mich immer mehr mit Forderungen bedrängt; und solange ich noch Geld hatte, um mich durch Bezahlung vor ihnen zu retten, habe ich es ausgegeben. Jetzt aber haben wir nichts mehr; und wenn noch mehr Forderungen an mich gestellt werden, so geraten wir beide, du und ich, in große Not. Darum ist es das beste, wenn wir uns durch die Flucht an einen Ort retten, an dem uns niemand kennt und wo wir unter dem Volk unser Brot verdienen können.' Er bestieg also mit ihr und mit seinen beiden Knaben ein Schiff, ohne



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zu wissen, wohin er sich begeben sollte; aber: Allah richtet, und niemand kann sein Urteil umstoßen.' Und darüber heißt es im Liede:

O der du aus der Heimat fliehst aus Furcht vor Feindschaft:
Wer flüchtet, dem wird oft ein rasches Glück zuteil.
Sei nicht betrübt ob der Verbannung; oftmals findet
Der Fremdling, weit entfernt von seinem Heim, das Heil.
Denn mußten alle Perlen in den Muscheln wohnen,
So wäre ihre Stätte nicht in Königskronen.

Das Fahrzeug aber erlitt Schiffbruch; da rettete sich der Mann auf einer Planke, auch seine Frau konnte auf einer Planke fortschwimmen, und ebenso wurden die beiden Söhne, jeder auf einer andern Planke, dahingetragen. Die Wogen trennten sie; die Frau trieb an Land, einer der Knaben ward an ein anderes Land geworfen, und den zweiten Knaben nahmen Schiffsleute mitten im Meere auf. Den Mann aber verschlugen die Wellen zu einer verlassenen Insel; dort ging er an Land, vollzog die religiöse Waschung, ließ den Gebetsruf erschallen und verrichtete das Gebet. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 480. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Mann, als er auf der Insel an Land gegangen war, die religiöse Waschung vollzog, den Gebetsruf erschallen ließ und das Gebet verrichtete. Da kamen plötzlich vielerlei und mannigfache Geschöpfe aus dem Meere und beteten mit ihm. Und als er mit dem Gebet fertig war, ging er zu einem Baume der Insel und aß von seinen Früchten, um seinen Hunger zu stillen; dann fand er auch einen Wasserquell, trank daraus und pries Allah, den Allgewaltigen und Glorreichen. So lebte er drei Tage lang, und sooft



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er betete, kamen die Völker des Meeres heraus und beteten wie er. Nach dieser Zeit aber hörte er, wie eine Stimme rief: .O du frommer Mann, der du deinen Vater ehrst und den Willen deines Herrn achtest, sei nicht traurig! Siehe, Allah, der Allgewaltige und Glorreiche, wird dir alles wiedergeben, was du verloren hast. Denn auf dieser Insel sind Schätze und Reichtümer und Kleinodien, die Allah dir zum Erbteil geben will; die befinden sich an dem und dem Orte. Hebe sie, wir werden Schiffe zu dir senden! Dann sei gütig gegen die Menschen und laß sie zu dir kommen; Allah, der Allgewaltige und Glorreiche, wird ihre Herzen dir geneigt machen!' Da ging er zu jenem Ort auf der Insel, und Allah ließ ihn die Schätze dort heben. Alsbald begannen auch schon die Schiffsleute zu ihm zu kommen. und er schenkte ihnen reichliche Gaben, indem er zu ihnen sprach: ,Möchtet ihr doch die Menschen zu mir herfuhren; so will ich ihnen das und das geben und das und das für sie tun.' Darauf kamen die Menschen aus aller Herren Ländern zu ihm, und es gingen kaum zehn Jahre darüber hin, so war die Insel bevölkert, und jener Mann ward ihr König. Einem jeden, der zu ihm kam, gab er Geschenke, und sein Name ward auf der Erde bekannt und weit und breit genannt.

Nun war sein älterer Sohn zu einem Manne gekommen, der ilm unterrichtete und erzog. Und auch sein jüngerer Sohn war in die Hand eines Mannes geraten, der ihm die beste Erziehung angedeihen ließ und ihn das Kaufmannsgewerbe lehrte. Und die Frau war zu einem Kaufmann gekommen, der ihr sein Hab und Gut anvertraute und feierlich gelobte, daß er nicht schlecht an ihr handeln, sondern ihr helfen wollte, Allah, dem Allgewaltigen und Glorreichen, zu gehorchen. Er pflegte auch mit ihr zu Schiffe Reisen zu machen, und er nahm sie überallhin als Reisegefährtin mit.



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Da begab es sich, daß der ältere Sohn von dem Ruf jenes Königs hörte, und er machte sich auf den Weg zu ihm, ohne zu wissen, wer er war. Und als er zu ihm kam, nahm der König ihn auf, machte ihn bald zu seinem Vertrauten und ernannte ihn zu seinem Schreiber. Aber auch der jüngere Sohn hörte von dem Ruf jenes gerechten und frommen Königs, und er machte sich gleichfalls auf den Weg zu ihm, ohne zu wissen, wer er war. Und als er zu ihm kam, machte der König ihn zum Verwalter seiner Geschäfte. So lebten die beiden eine ganze Weile im Dienste des Königs, ohne daß der eine den anderen erkannte. Schließlich drang auch zu dem Kaufmann, bei dem die Frau war, die Kunde von jenem König und von seiner Gerechtigkeit und Wohltätigkeit gegen die Menschen. So nahm er denn eine große Menge von prächtigen Gewändern und auserwählten Kostbarkeiten des Landes mit sich und fuhr auf einem Schiff zusammen mit der Frau zum Ufer jener Insel. Dort ging er an Land, begab sich zum König und brachte ihm ein Geschenk dar. Als der es anschaute, war er hocherfreut und befahl, dem Mann eine schöne Gegengabe zu überreichen. Und da sich nun unter den Geschenken einige Spezereien befanden, deren Namen und Nutzen der König von dem Kaufmann erfahren wollte, so sprach er zu ihm: ,Bleib heut nacht bei uns!' ——«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 481. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kaufmann, als der König zu ihm sprach: ,Bleib heut nacht bei uns!' zur Antwort gab: ,Ich habe auf dem Schiff ein anvertrautes Pfand, und ich habe gelobt, niemand anders als mich selbst mit seiner Obhut zu betrauen: das ist eine fromme Frau, ihre Gebete haben



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mich reich gemacht, und ihre Ratschläge haben mir Segen gebracht.' Da sagte der König: ,Ich will zuverlässige Männer zu ihr schicken; die sollen die Nacht über bei ihr verweilen und sich indie Wache über all ihre Habe teilen.' Der Kaufmann willigte darin ein und blieb beim König; der aber entsandte seinen Schreiber und seinen Verwalter zu ihr mit dem Auftrage: ,Gehet hin und bewachet das Schiff dieses Mannes in der Nacht, so Gott der Erhabene will!' Die beiden gingen also hin, stiegen auf das Schiff und setzten sich nieder, der eine im Bug, der andere im Heck, und sie verbrachten einen Teil der Nacht damit, daß sie den Namen Allahs, des Allgewaltigen und Glorreichen, anriefen. Dann aber rief der eine dem anderen zu: ,Du, Mann, der König hat uns befohlen zu wachen, und wir müssen uns vor dem Schlafe in acht nehmen. Komm, wir wollen uns unterhalten mit Geschichten der Zeit und mit dem, was wir selber erlebt haben an Freud und Leid!' Der andere erzählte darauf: ,Bruder, was mich angeht, so widerfuhr mir das Leid, daß mich das Schicksal von meinem Vater und meiner Mutter und meinem Bruder, der so wie du hieß, getrennt hat. Und das kam so: Unser Vater fuhr mit uns von dem und dem Lande ab, und dann erhoben sich widrige Winde gegen uns; da ging unser Schiff unter, und Allah trennte uns voneinander.' Wie der erste das hörte, sprach er: ,Bruder, wie hieß denn deine Mutter?' ,Soundso', erwiderte der andere. Weiter fragte der erste: ,Und wie hieß dein Vater?' ,Soundso', gab der andere zur Antwort. Da warf sich ein Bruder dem andern in die Arme und rief: ,Bei Allah, du bist wirklich mein Bruder!' Und nun begann einer dem anderen zu erzählen, was er in seiner Jugend erlebt hatte, während die Mutter hörte, was sie sagten; doch sie verbarg ihr Geheimnis und faßte ihre Seele in Geduld. Als aber die Morgenröte aufstieg, sprach der eine



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von den beiden zum andern: ,Komm, Bruder. wir wollen in meiner Wohnung weiter plaudern!' ,Gern', erwiderte jener, und so gingen beide von dannen. Bald darauf kehrte der Kaufmann zurück; jedoch fand er die Frau in großer Kümmernis. Da fragte er sie: ,Was ist dir zugestoßen? Was ist dir widerfahren?' Sie gab zur Antwort: ,Du hast mir gestern abend zwei Männer geschickt, die mir in Bösem genaht sind; und ich bin um ihretwillen in großer Not gewesen.' Da ergrimmte der Kaufmann und begab sich alsbald zum König und berichtete ihm, was die beiden Getreuen getan hätten. Der König ließ die beiden eilends kommen; denn er liebte sie wegen der Ergebenheit und Frömmigkeit, die er an ihnen erprobt hatte. Darauf ließ er auch die Frau kommen, auf daß sie ihm mit eigenen Worten berichte, was von jenen beiden verübt sei. Als sie nun vor ihm stand, fragte er sie: ,Frau, was hast du von diesen beiden Getreuen erlebt?' Sie erwiderte: ,O König, ich beschwöre dich bei Allah dem Allmächtigen, dem Herrn des Thrones, des prächtigen, befiehl den beiden, die Worte, die sie gestern nacht gesprochen haben, zu wiederholen!' Der König gebot nun den beiden: ,Sagt, was ihr gesprochen habt, und verschweigt nichts davon!' Als die beiden ihre Worte wiederholten, sprang der König plötzlich von seinem Thron auf stieß einen lauten Schrei aus, warf sich ihnen entgegen, umarmte sie und rief: ,Bei Allah, ihr seid wirklich meine Söhne!' Und nun entschleierte die Frau ihr Antlitz und rief: ,Und ich bin, bei Allah, ihre Mutter!' So waren sie nun alle wieder vereint, und sie lebten herrlich und in Freuden, bis der Tod sie abberief. Preis aber sei Ihm, der seinen Knecht rettet, wenn er Ihm naht, und keinen enttäuscht, der auf Ihn Hoffnung und Zuversicht gegründet hat. Und wie trefflich lautet das Dichterwort darüber:



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Ein jeglich Ding hat seine Zeit allhier auf Erden;
Bald wird's getilgt, o Bruder mein, bald bleibt's bestehn.
Drum soll ein Kummer, der dich traf, dich nicht betrüben;
Im Leide können wir der Freude Zeichen sehn.
Manch einer ist betrübt und trägt des Kummers Zeichen,
Indes sich seinem Innren die Freude offenbart!
Wie mancher ist verschmäht, verhaßt dem Menschenauge
Und doch durch Gottes Gnade vor der Schmach bewahrt! Der ist es hier, den Leid geprüft, den Not gequält hat,
Und manches Unheil stellte einst bei ihm sich ein.
Ihn trennte das Geschick von den geliebten Seinen;
Sie wurden weit zerstreut nach dem Zusammensein.
Dann tat sein Herr ihm wohl und brachte sie ihm wieder;
In allen Dingen steht bei unserm Herrn der Rat.
Drum preiset Ihn, der mächtig alle Wesen leitet
Und der sein Nahn durch Zeichen offenbaret hat!
Er ist der Nahe, den Verstand nicht fassen kann;
Und keine Erdenreise bringt Ihn uns nah heran.

Ferner wird erzählt


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