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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DER ÄLTESTEN DAME

Ich habe eine seltsame Geschichte, und dies ist sie: Diese beiden schwarzen Hündinnen sind meine Schwestern; denn wir waren drei leibliche Schwestern, von dem gleichen Vater und der gleichen Mutter; die zwei anderen Mädchen aber, die eine mit den Narben und die andere, die Wirtschafterin, sind meine Schwestern von einer anderen Mutter. Als unser Vater starb, nahm eine jede ihr Teil von der Erbschaft. Nach einer Weile starb auch meine Mutter und hinterließ uns dreitausend Dinare; eine jede erhielt als ihr Erbteil tausend Dinare; ich aber war die jüngste unter ihnen. Meine Schwestern statteten sich aus und vermählten sich beide. Und nach einer Weile verschafften sich ihre beiden Gatten Waren, nachdem jeder von seiner Frau tausend Dinare erhalten hatte. Dann reisten sie alle miteinander ab und ließen mich allein. Sie waren fünf Jahre lang fort; während der Zeit verschwendeten die Gatten das Geld und wurden bankerott, und sie verließen ihre Frauen im fremden Lande. Nach den fünf Jahren kam meine älteste Schwester zu mir als Bettlerin, in zerfetzten Kleidern und einem schmutzigen alten Mantel; und sie war im elendesten Zustand. Als ich sie erblickte, war sie mir gänzlich fremd, und ich erkannte sie nicht; aber als ich sie dann erkannte, fragte ich sie: ,Was bedeutet diese' Und sie antwortete: ,O Schwester, Worte nützen jetzt nichts mehr; denn das Schicksal hat vollbracht, was uns zugedacht!' Da schickte ich sie ins Bad, kleidete sie in ein neues Kleid und sprach zu ihr: ,Liebe Schwester, du ersetzest mir Vater und Mutter; Allah hat das Erbe, das mir zugleich mit euch zuteil ward, gesegnet, und ich lebe dadurch in Wohlstand. Ich habe großen Reichtum; darin will ich mich mit dir teilen.' So erwies



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ich ihr viel Gutes, und sie blieb bei mir ein ganzes Jahr; unsere Gedanken aber waren stets bei unserer anderen Schwester. Ganz kurze Zeit darauf, siehe, da kam sie plötzlich; doch sie war in noch elenderem Zustande als dem, in dem die ältere Schwester gekommen war. Ich aber erwies ihr noch mehr Gutes als der ersten, und beide hatten ihr Teil an allem, was mein war. Nach einer Weile jedoch sagten sie zu mir: ,O Schwester, wir wünschen uns wieder zu vermählen; denn wir können es nicht ertragen, ohne Gatten dazusitzen. 'Da erwiderte ich ihnen: ,Ihr meine Augen, euch ist es bislang in der Ehe nicht gut gegangen; denn heutzutage ist ein vortrefflicher Mann selten zu finden. Darum sehe ich in eurer Rede keinen Nutzen; auch habt ihr ja schon die Ehe erprobt.' Aber sie wollten meinen Rat nicht annehmen und vermählten sich ohne meine Einwilligung; trotzdem gab ich ihnen von meinem Gelde Mitgift und Ausstattung; und so zogen sie davon mit ihren Männern. Doch nach einer kurzen Weile verrieten ihre Gatten sie und nahmen ihnen, was sie besaßen, gingen davon und ließen sie im Stich. Da kamen sie beschämt zu mir, und sie entschuldigten sich und sagten: ,Zürne uns nicht! Du bist zwar jünger als wir an Jahren, aber vollkommener an Einsicht. Wir wollen hinfort nie wieder von Heirat reden; so mache uns zu deinen Dienerinnen, daß wir unsern Bissen essen können.' Da rief ich: ,Willkommen, meine Schwestern! Mir ist nichts teurer als ihr.' Ich nahm sie auf und war nun doppelt freundlich. Und ein volles Jahr lang blieben wir so beisammen. Da aber beschloß ich, ein Schiff nach Basra auszurüsten; und ich befrachtete ein großes Fahrzeug und belud es mit Waren und Gütern für den Handel und mit dem Proviant, der für eine Reise nötig ist. Und ich sprach zu meinen Schwestern: ,Wollt ihr zu Hause bleiben, bis ich von meiner Reise zurückkehre,



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oder begleitet ihr mich lieber?' Sie antworteten: ,Wir wollen mit dir reisen; denn wir ertragen die Trennung von dir nicht.' So gestattete ich ihnen mitzukommen. Mein Geld aber teilte ich in zwei gleiche Teile, von denen ich den einen mit mir nahm, während ich den anderen aufbewahren ließ; denn ich sagte mir: ,Vielleicht trifft das Schiff ein Unglück, und wir bleiben dennoch am Leben, dann werden wir bei der Rückkehr finden, was für uns von Nutzen ist.' Wir fuhren nun einige Tage und Nächte hindurch. Aber das Schiff ging mit uns in die Irre, da der Kapitän nicht auf den Weg geachtet hatte; und so kam es in ein anderes Meer, als das wir suchten. Eine Weile merkten wir das nicht; denn der Wind war uns günstig zehn Tage lang, und als dann der Wächter hinaufstieg, um Ausschau zu halten, rief er: ,Gute Nachricht!', stieg erfreut herunter und sagte: ,Ich habe etwas gesehen wie eine Stadt; aber es sieht aus wie eine Taube.' Da freuten auch wir uns, und ehe noch eine Stunde verstrichen war, erschien uns in der Ferne eine Stadt. Wir fragten den Kapitän: ,Wie heißt diese Stadt, die wir da vor uns sehen?' Doch er erwiderte: ,Bei Allah, ich weiß es nicht; denn ich sah sie noch nie zuvor, noch auch segelte ich jemals in diesem Meere. Doch jetzt ist ja alles zu einem guten Ende gekommen, und ihr braucht nur in diese Stadt hineinzugehen. Leget eure Waren aus; und wenn ihr verkaufen könnt, so verkaufet und kaufet dafür ein, was nur immer dort sein mag. Könnt ihr aber nicht verkaufen, so wollen wir nur zwei Tage liegen bleiben, Vorrat einnehmen und dann weitersegeln.' Wir liefen alsbald in den Hafen ein, und der Kapitän ging in die Stadt und blieb eine Weile weg; als er zu uns zurückkam, sagte er: ,Auf! Geht in die Stadt und staunt ob der Werke Allahs an seinen Geschöpfen und betet, daß ihr bewahrt bleibt vor seinem Zorn!' So gingen wir denn zur Stadt



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hinauf, und als ich zum Stadttor kam, sah ich dort Menschen mit Stöcken in den Händen. Wie ich aber näher hinzutrat, zeigte es sich, daß sie durch Gottes Zorn zu Stein verwandelt waren. Dann gingen wir hinein in die Stadt und fanden alle ihre Einwohner in schwarzen Stein verwandelt. Darinnen war keine bewohnte Stätte noch jemand, der ein Feuer angeblasen hätte. Grauen faßte uns bei diesem Anblick, und wir gingen dahin durch die Basare; da fanden wir die Waren noch daliegen und auch das Gold und das Silber, so wie alles verlassen war. Wir sahen es uns an und sagten: ,Mit alledem hat es wohl eine eigene Bewandtnis.' Nun verteilten wir uns in den Straßen der Stadt, und ein jeder verlor den anderen aus dem Auge beim Sammeln des Reichtums, des Geldes wie der kostbaren Stoffe. Ich selber aber ging zur Burg hinauf und fand, daß sie stark befestigt war. Dann trat ich in das Schloß des Königs ein und fand all die Geräte aus Gold und Silber. Auch sah ich den König dasitzen inmitten seiner Kammerherren, seiner Statthalter und seiner Minister; er trug Kleider, die durch ihre Kostbarkeit den Sinn verwirrten. Und als ich näher an den König herantrat, sah ich ihn auf einem Throne sitzen, der eingelegt war mit Perlen und Edelsteinen; sein Gewand war aus Goldtuch, und jeder Edelstein darauf blitzte wie ein Stern. Rings um ihn standen fünfzig Mamluken, gekleidet in mancherlei Seide, gezogene Schwerter in ihrer Hand. Als ich das sah, war ich starr vor Erstaunen; doch ich ging weiter und trat in das Frauengemach ein, dessen Wände behangen waren mit Vorhängen aus goldgestreifter Seide. Und hier sah ich die Königin liegen in einem Gewande, das mit klaren Perlen besetzt war; auf ihrem Haupte war ein Diadem mit vielerlei Edelsteinen, und um ihren Hals hingen Ketten und Geschmeide. Alles, was sie trug, Kleidung und Schmuck, war unberührt, aber sie selber war



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durch Allahs Zorn zu schwarzem Stein geworden. Nun sah ich eine offene Tür, zu der ging ich; sie führte zu einer Treppe von sieben Stufen. Ich stieg hinauf und kam in einen Saal, getäfelt mit Marmor und ausgestattet mit goldgewirkten Teppichen; in der Mitte stand ein Thron aus Wacholderholz, eingelegt mit Perlen und Edelsteinen und besetzt mit zwei ganz großen Smaragden. Und dort war auch eine Nische, deren Vorhang an einer Perlenschnur herabgelassen war; und ich sah ein Licht aus der Nische hervorstrahlen, stieg hinan und fand einen Edelstein, so groß wie ein Straußenei, der am oberen Ende der Nische auf einem kleinen Throne lag; von dem ging ein helles, weithin scheinendes Licht aus. Jener Thron aber war belegt mit allerlei seidenen Stoffen, die den Beschauer durch ihre Schönheit verwirrten. Als ich all das erblickte, erstaunte ich sehr; doch dann sah ich an jenem Orte noch brennende Kerzen, und ich sagte zu mir: ,Irgendjemand muß diese Kerzen angezündet haben.' Darauf ging ich weiter und kam in einen anderen Raum; und ich forschte und ging umher in allen Räumen. Dabei vergaß ich mich selbst vor dem Erstaunen über all diese Dinge, das mich gepackt hatte. Und so versank ich in Sinnen, bis die Nacht hereinbrach. Nun wollte ich hinausgehen; aber da ich das Tor nicht wußte, so verlor ich den Weg, und ich kehrte nach der Nische zurück, wo die brennenden Kerzen waren. Ich setzte mich auf das Lager und hüllte mich ein in eine Decke, nachdem ich ein paar Verse des Korans gesprochen hatte. Dann wollte ich schlafen, aber ich konnte es nicht; denn die Schlaflosigkeit verfolgte mich. Als es Mitternacht ward, hörte ich eine liebliche Stimme den Koran singen; aber die Stimme war ganz leise. Erfreut ging ich der Stimme nach, bis ich an eine Kammer kam, deren Tür ich angelehnt fand. Ich öffnete die Tür und schaute hinein: es war eine Kapelle mit einer Gebetsnische,



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die von Hängelampen und zwei Kerzen erhellt war. Ein Gebetsteppich war darin ausgebreitet, auf dem ein Jüngling saß, schön anzuschauen. Und vor ihm lag auf ihrem Gestell eine Abschrift des Korans, in der er las. Und ich staunte, daß er allein unter dem Volke der Stadt am Leben war, trat ein und grüßte ihn; und er hob die Augen auf und erwiderte meinen Gruß. Da sprach ich zu ihm: ,Ich beschwöre dich bei dem, was du im Buche Allahs gelesen hast, antworte mir auf meine Frage!' Der Jüngling aber sah mich an, lächelte und sprach: ,O Dienerin Allahs, tu mir kund, weshalb du hierhergekommen bist; dann will ich dir kundtun, was sowohl mir wie dem Volke dieser Stadt widerfahren ist und wie ich gerettet wurde.' Ich erzählte ihm also meine Geschichte, und er staunte darüber. Dann fragte ich ihn nach der Geschichte des Volkes dieser Stadt, und er antwortete: ,Habe Geduld mit mir eine Weile, o meine Schwester!' Darauf schloß er das heilige Buch und barg es in einem Beutel aus Atlas. Er ließ mich dann an seiner Seite Platz nehmen, und ich sah ihn an: siehe, er war wie der Mond, wenn er in voller Schöne am Himmel thront, an Schönheit so reich, von Formen so weich; er war süß anzuschauen wie ein Laib von Zucker, ebenmäßig von Gestalt, wie der Dichter von seiner Art in diesen Versen gesungen hat:

Der Sterndeuter schaute einst, da erschien ihm in der Nacht
Der liebreizende Jüngling in seiner Schönheit Pracht.
Ihm hatte Saturn gegeben sein wunderbar schwarzes Haar
Und ihm die Farbe des Moschus geschenkt fur sein Schläfenpaar.
Mars hatte sich beeilt, die Wange ihm rot zu schmücken,
Und der Bogenschütz ihm gesandt die Pfeile aus seinen Blicken.
Merkur hatte ihm verliehen den allerschärfsten Verstand,
Der Große Bär von ihm die Blicke der Neider gewandt.
Da stand der Deuter verwirrt ob dessen, was er erblickt;
Und der Vollmond küßte die Erde vor ihm, der ihn ganz berückt.



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Ja wahrlich, Allah der Erhabene hatte ihn gekleidet in das Gewand der Vollkommenheit und hatte es auf seiner Wange umsäumt mit strahlender Lieblichkeit, wie der Dichter von ihm gesungen hat:

Ich schwöre beim Duft seiner Lider und bei seiner schlanken Gestalt,
Und bei den Pfeilen, die er gefiedert mit Zaubergewalt;
Bei seinen weichen Formen, seines Blickes zartem Licht;
Bei seiner weißen Stirn, seinen Locken, so schwarz und dicht;
Und bei der Braue, die mir den Apfel des Auges stiehlt,
Die mich überwältigt, wenn sie verbietet oder befiehlt;
Bei seinen rosigen Wangen, dem Haarflaum, so wunderbar fein,
Und den korallenen Lippen, der Zähne Perlenreihn;
Bei seinem Halse und bei seinem Leibe, der schön sich neigt,
Und der auf seiner Brust Granatapfelblüten zeigt;
Bei seinen schweren Hüften, die beben, mag er gehn
Oder auch ruhn, und bei seinem Leibe, so schlank und schön;
Bei seiner seidigen Haut und bei seinem Atem, so weich,
Ja, bei alledem, was ihn an Schönheit machte so reich;
Bei seiner mildtätigen Hand, seiner Zunge Redlichkeit,
Und bei seiner edlen Geburt, seiner Macht, so hoch und weit:
Der Moschus hat, wird er bereitet, von ihm nur seinen Duft;
Von seinem Wohlgeruch kommt die Ambrawolke der Luft.
So auch die strahlende Sonne: vor ihm muß sie erbleichen;
Ja, sie kann nicht einmal dem Span seines Nagels gleichen!

Und ich sah ihn an mit einem Blick, der tausend Seufzer der Sehnsucht in mir weckte; und mein Herz war von Liebe zu ihm ergriffen. Ich fragte ihn nun: ,O mein Gebieter, tue mir kund, wonach ich dich fragte.' Er antwortete: ,Ich höre und gehorche! 'Wisse, o Dienerin Allahs, diese Stadt war die Hauptstadt meines Vaters, des Königs, den du auf dem Throne sahest, verwandelt durch Allahs Zorn in schwarzen Stein; und die Königin, die du in der Nische sahest, ist meine Mutter. Sie und alles Volk der Stadt waren Magier, und sie beteten das Feuer an statt des Königs, dem alles untertan; sie schworen bei Feuer



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und Licht, bei Schatten und Sonnenbrand und bei dem kreisenden Firmament, das die Welt umspannt. Mein Vater aber hatte keinen Sohn, bis er gegen das Ende seines Lebens mit mir gesegnet wurde; und er zog mich auf, bis ich emporwuchs, und das Glück kam mir in allem entgegen. Nun aber lebte bei uns eine hochbetagte Frau, eine Muslimin, die im Innern an Allah und seinen Propheten glaubte, wenn sie sich äußerlich auch meinem Volke anschloß. Mein Vater setzte volles Vertrauen in sie, da er sie als zuverlässig und tugendhaft kannte, und behandelte sie mit immer wachsender Freundlichkeit; denn er vermeinte ja, daß sie seines Glaubens wäre. Als ich nun fast herangewachsen war, gab mich mein Vater in ihre Obhut und sagte: ,Nimm ihn und erziehe ihn und lehre ihn die Regeln unseres Glaubens; unterrichte ihn gut und pflege ihn sorgsam.' Da nahm die Alte mich zu sich und lehrte mich den Glauben des Islams und die göttlichen Vorschriften der Reinigung, der religiösen Waschung und des Gebets, auch ließ sie mich den Koran auswendig lernen und sagte: ,Diene niemandem als Allah dem Erhabenen!' Und als ich dies alles in mich aufgenommen hatte, sagte sie zu mir: ,Mein Sohn, verbirg diese Dinge vor deinem Vater und offenbare ihm nichts, damit er dich nicht töte.' So verbarg ich es vor ihm und blieb dabei, bis wenige Tage darauf die alte Frau starb. Das Volk der Stadt aber ward in seiner Gottlosigkeit und Anmaßung und seinem Irrtum nur noch ärger. Eines Tages jedoch, während sie noch immer so dahinlebten, siehe, da vernahmen sie einen Rufer, der mit lauter Stimme gleich brüllendem Donner schrie, daß alle nah und fern es hörten: ,Ihr Leute dieser Stadt, laßt ab von der Anbetung des Feuers und betet zu Allah, dem allerbarmenden König!' Schrecken befiel die Leute der Stadt, und sie versammelten sich bei meinem Vater, der ja König der Stadt war,



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und fragten ihn: ,Was bedeutet diese Stimme des Schreckens, die wir gehört haben? Sie hat uns erschüttert durch das Übermaß ihres Grauens.' Er aber erwiderte ihnen: ,Lasset die Stimme euch nicht mit Furcht und Schrecken erfüllen oder euch von eurem Glauben abtrünnig machen.' Da beugten sich ihre Herzen vor den Worten meines Vaters, und sie ließen nicht ab, das Feuer anzubeten, sondern blieben verstockt in ihrem Götzendienst, bis ein volles Jahr vergangen war, nachdem sie die erste Stimme vernommen hatten. Da erscholl ihnen ein zweiter Ruf, und sie vernahmen ihn und noch einen dritten zu Anfang des dritten Jahres; so hörten sie ihn in jedem der drei Jahre einmal. Doch immer noch verharrten sie in ihrem Frevel, bis eines Tages mit dem Morgengrauen der Grimm und Zorn des Himmels über sie kam; da wurden sie alle in schwarzen Stein verwandelt, sie mitsamt ihren Haustieren, großen und kleinen. Und von den Einwohnern dieser Stadt wurde niemand verschont außer mir allein. Seit dem Tage, an dem das Furchtbare geschah, lebe ich nun so, wie du mich siehst, beständig im Gebet und im Fasten, und mit dem Lesen des Korans beschäftigt; aber diese Einsamkeit, in der ich niemanden zur Gesellschaft habe, kann ich jetzt nicht mehr ertragen.' Darauf sprach ich zu ihm, der mein Herz gefangengenommen hatte: ,O Jüngling, willst du mit mir zur Stadt Baghdad ziehen und die Schriftgelehrten und Rechtsgelehrten besuchen, daß du wachsest an Weisheit, Verstand und Kenntnis des Glaubens Und wisse, daß die Dienerin, die vor dir steht, eine Herrin ihres Volkes ist und über Mannen, Eunuchen und Diener gebietet. Ich habe bei mir ein Schiff, beladen mit Waren, und gewißlich trieb mich das Schicksal in diese Stadt, damit ich Kunde erhielt von diesen Dingen; denn es war vorherbestimmt, daß wir uns treffen sollten.' Und ich ließ nicht ab, ihn zur Reise zu überreden und mit



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sanften Worten in ihn zu dringen, bis er bereit war und einwilligte.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 18. Nacht anbrach, fuhr sie fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Dame nicht abließ, den Jüngling zu überreden, mit ihr zu ziehen, bis er darin eingewilligt hatte. ,Ich schlief nun' — so sagte sie zum Kaufen - ,in jener Nacht zu seinen Füßen, und ich wußte vor Freude kaum, wo ich war. Als aber der Morgen dämmerte, standen wir auf, traten in die Schatzgewölbe ein und nahmen alles, was nicht beschwert und doch von hohem Wert; dann gingen wir vom Schloß zu der Stadt hinab, wo wir die Sklaven und den Kapitän trafen, die nach mir suchten. Als sie mich sahen, freuten sie sich, und ich berichtete ihnen alles, was ich gesehen hatte; ich erzählte ihnen auch die Geschichte des jungen Prinzen und den Grund der Verwandlung dieser Stadt -kurz alles, was ihnen widerfahren war. Da staunten alle darüber; als aber meine Schwestern, diese beiden Hündinnen, mich an der Seite jenes Jünglings sahen, wurden sie eifersüchtig und zornig und planten Arges gegen mich. Wir gingen nun in Freuden an Bord; wir waren hocherfreut, weil wir so große Güter gewonnen hatten, doch meine größte Freude galt dem Jüngling. Dann warteten wir ab, bis der Wind uns günstig war, hißten die Segel und stachen in See. Meine Schwestern setzten sich zu mir, und wir plauderten; da fragten sie mich: ,O Schwester, was willst du mit diesem schö— nen Jüngling tun?', und ich antwortete: ,Ich will ihn zum Gemahl nehmen!' Darauf wandte ich mich zu ihm, trat auf ihn zu und sagte: ,O mein Gebieter, ich will dir einen Vorschlag machen, indem ich keine Abweisung von dir erfahren möchte. Es ist aber dieser: wenn wir nach Baghdad kommen, meiner



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Heimatstadt, so biete ich als deine Sklavin mich selbst dir zur heiligen Ehe, und du sollst mir Gemahl und ich will dir Gemahlin sein.' Er gab zur Antwort: ,Ich höre und gehorche!' Und ich wandte mich zu meinen Schwestern und sprach zu ihnen: ,Mir ist dieser Jüngling Genüge; jeder, der von meinem Gut besitzt, mag es behalten.' Sie erwiderten mir: ,Du hast recht gehandelt'; aber sie planten Böses gegen mich. Wir segelten nun immerfort weiter bei günstigem Winde, bis wir aus dem Meere der Gefahr heraus und in das Meer der Sicherheit hinein fuhren. Dann waren wir nur noch wenige Tage unterwegs, bis wir nahe bei der Stadt Basra waren. Ihre Mauern lagen schon sichtbar vor uns, da sank der Abend über uns herein. Als uns nun der Schlaf umfangen hielt, erhoben sich meine Schwestern, trugen mich mit meinem Bett und warfen mich ins Meer; und sie taten das gleiche mit dem jungen Prinzen. Er aber konnte nicht gut schwimmen und ertrank; und Allah nahm ihn auf unter die Glaubenszeugen. Und ich, ach wäre ich doch mit ihm ertrunken! Aber Allah hatte bestimmt, daß ich gerettet wurde; denn als ich mich im Meere befand, ließ er mir einen Balken zuteil werden, den ich erkletterte; und die Wellen warfen mich hin und her, bis sie mich auf der Küste einer Insel landeten. Ich ging den Rest jener Nacht auf der Insel umher; und als der Morgen dämmerte, sah ich einen Pfad, so schmal, daß gerade ein Menschenfuß darauf treten konnte; der stellte eine Verbindung zwischen Insel und Festland her. Sobald nun die Sonne aufgegangen war, trocknete ich meine Kleider in der Sonnenwärme, aß von den Früchten der Insel und trank von ihrem Wasser; dann wanderte ich auf dem Fußpfad und ging so lange, bis ich dem Festlande nahe war. Als aber zwischen mir und der Stadt nur noch zwei Stunden Weges waren, siehe, da flog jählings eine große Schlange auf mich zu,



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so dick wie eine Dattelpalme; wie sie mir so entgegenkam, sah ich, daß sie bald nach rechts und bald nach links glitt, bis sie mir ganz nahe war; und ihre Zunge hing eine Spanne weit aus ihrem Maule zu Boden und fegte der Länge nach durch den Staub. Und hinter ihr war ein Drache, der verfolgte sie; er war lang und dünn, etwa von der Länge einer Lanze. Sie floh vor ihm und wandte sich nach rechts und nach links, aber schon packte er sie am Schwanz; da flossen ihre Tränen, und ihre Zunge hing noch weiter heraus, weil sie so eilig floh. Mich erfaßte Mitleid mit ihr, und so griff ich einen Stein auf und warf ihn nach dem Kopf des Drachen, der auf der Stelle verendete; da entfaltete die Schlange zwei Flügel und flog zum Himmel empor, bis sie mir aus den Augen schwand. Ich aber setzte mich voll Staunen über dieses Abenteuer nieder; denn ich war müde und schläfrig, und so schlief ich eine Weile ein. Doch als ich erwachte, sah ich ein Mädchen mir zu Füßen sitzen; sie hatte zwei schwarze Hündinnen bei sich und rieb meine Füße. Da schämte ich mich vor ihr, setzte mich auf und fragte sie: ,Schwester, wer bist du?' Und sie erwiderte: ,Wie bald du mich vergessen hast! Ich bin die, für die du eine gute Tat vollbrachtest; du sätest die Saat der Dankbarkeit und tötetest meinen Feind; denn ich bin die Schlange, die du von dem Drachen befreitest. Ich bin eine Dämonin, und dieser Drache war ein Dämon; er war mein Feind, und meine Rettung ist allein durch dich gekommen. Als du mich aber von ihm befreit hattest, flog ich auf dem Winde zu dem Schiff, aus dem dich deine Schwestern warfen, und ich trug alles, was darin war, in dein Haus. Das Schiff versenkte ich, und deine Schwestern verwandelte ich in diese beiden schwarzen Hündinnen; denn ich weiß alles, was dir von ihnen widerfahren ist; der Jüngling aber ist ertrunken.' Dann hob sie mich und die beiden Hündinnen empor



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und brachte uns auf das Dach meines Hauses; im Innern des Hauses aber fand ich alle Güter, die auf dem Schiffe gewesen waren, ohne daß etwas verloren gegangen wäre. Dann sprach sie, die die Schlange gewesen, zu mir: ,Bei den Zeichen, die auf dem Ringe unseres Herrn Salomo -über ihm sei Friede! — eingegraben sind: wenn du nicht jeden Tag einer jeden dieser zwei Hündinnen dreihundert Schläge austeilst, so will ich kommen und dich ebenso verzaubern wie jene.' Ich erwiderte: ,Ich höre und gehorche.' Und seither, o Beherrscher der Gläubigen, habe ich nie unterlassen, ihnen die Zahl der Schläge auszuteilen; doch ich habe Mitleid mit ihnen, und sie wissen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn sie gegeißelt werden, und verzeihen es mir. Dies ist meine Geschichte und meine Erzählung!'

Der Kalif geriet darob in Erstaunen. Dann sprach er zu der zweiten Dame: ,Und du, wie kamest du zu den Narben auf deinem Leibe?' Da begann sie


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