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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM MUSLIMISCHEN HELDEN UND DER CHRISTIN

Der Beherrscher der Gläubigen 'Omar ibn el-Chattâb -Allah habe ihn selig! —rüstete einst ein muslimisches Heer aus zum Kampfe wider den Feind vor Damaskus; und auf diesem Zuge belagerten sie eine der christlichen Festungen und bedrängten sie schwer. Unter den Muslimen aber befanden sich zwei Brüder, Männer, denen Allah Ungestüm und Kühnheit vor dem Feinde verliehen hatte. Nun sprach der Befehlshaber jener Festung zu seinen Fürsten und zu der Heldenschar, die bei ihm



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war: ,Würden diese beiden Muslime nur gefangen genommen oder zu Tode kommen, so wollte ich euch schon für alle übrigen Muslime einstehen!' Darum legten sie ihnen Fallen zu jeder Zeit, hielten immer Listen für sie bereit, lauerten auf sie überall und sandten viel Leute zum Überfall, bis endlich den einen von ihnen die Gefangenschaft band und der andere den Tod als Märtyrer fand. Der gefangene Muslim ward vor den Befehlshaber jener Festung geschleppt, und als der ihn erblickte, rief er: ,Den zu töten wäre ein Jammer; aber seine Rückkehr zu den Muslimen wäre ein Unheil!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 475. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der feindliche Befehlshaber jener Festung, als man den muslimischen Gefangenen vor ihn geschleppt hatte, ihn anblickte und sprach: ,Den zu töten wäre ein Jammer; aber seine Rückkehr zu den Muslimen wäre ein Unheil! Ach, wie gern sähe ich, daß er zum christlichen Glauben überträte, uns zur Hilfe und Stütze!' Darauf hub einer von seinen Rittern an: ,O Fürst, ich will ihn dazu verleiten, daß er seinem Glauben abtrünnig wird, und zwar in dieser Weise: Die Araber haben heftige Leidenschaft für die Frauen, und da ich eine Tochter, eine Maid von vollkommener Lieblichkeit, besitze, so wird er, wenn er sie sieht, durch sie verführt werden.' Da sprach der Burghauptmann: ,Er sei dir anvertraut; nimm ihn mit!' Jener nahm um also mit nach Hause. Dann kleidete er die Jungfrau in solche Gewänder, durch die ihre Schönheit und Anmut noch heller erstrahlten, brachte den Gefangenen herbei, führte ihn in das Zimmer und ließ die Speisen auftragen; die christliche Jungfrau aber stand vor ihm wie eine Dienerin, ihrem Herrn gehorsam, die darauf



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wartete, daß er ihr einen Befehl gäbe, um ihn auszuführen. Als aber der Muslim sah, was ihm drohte, nahm er seine Zuflucht zu Allah dem Erhabenen, wandte seinen Blick ab, widmete sich der Andacht zu seinem Herrn und begann den Koran herzusagen. Nun hatte er eine schöne Stimme und ein Wesen, das einen tiefen Eindruck auf die Seelen der Menschen machte; daher ward die christliche Jungfrau von inniger Liebe und heftiger Leidenschaft zu ihm ergriffen. Das dauerte sieben Tage hindurch, und schließlich sprach sie bei sich selber: ,Ach, wenn er mich doch in den Glauben des Islams aufnehmen wollte!' Über sie heißt es im Liede:

Versagen' du dich mir, du, den mein Herz erkoren?
Du bist in mir, mein Leben sei dir dargebracht!
Ich bin ja gern bereit, die Meinen zu verlassen,
Den Glauben auch, vor dem des Schwertes Schärfe wacht.
Ich zeuge: neben Allah gibt es keinen Herrn;
Das steht als Wahrheit fest; dem Zweifel ist gewehrt.
Vielleicht vereint er mich mit dem, der sich versager,
Und kühlt mein Herze, das die Liebesglut verzehrt!
Oh wird ein Tor geöffnet, das verschlossen stand,
Und dem sein Wunsch gewährt, der sich in Not befand.

Doch schließlich war sie ans Ende ihrer Geduld gekommen, und die Brust ward ihr beklommen; da warf sie sich vor ihm nieder und rief: ,Ich beschwöre dich bei deinem Glauben, leih meinen Worten Gehör!' ,Was sind deine Worte?' fragte er; und sie fuhr fort: ,Erkläre mir den Islam!' Nun erklärte er ihr den Glauben, und sie nahm den Islam an. Dann nahm sie die Reinigung vor, und er lehrte sie das islamische Gebet. Nachdem sie all das getan hatte, sprach sie: ,Mein Bruder, ich habe nur um deinetwillen und um dir nahe zu sein, den Islam angenommen.' Er erwiderte ihr: ,Der Islam gestattet die Ehe nur, wenn zwei gültige Zeugen, die Morgengabe und der Vormund



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da sind. Bei dir aber sehe ich weder die beiden Zeugen noch den Vormund noch die Morgengabe. Wenn du jedoch Mittel und Wege fändest, daß wir diesen Ort verlassen könnten, so hoffe ich das Land des Islams zu erreichen, und dann will ich dir geloben, daß ich im Islam keine andere Frau haben werde als dich allein.' ,Ich werde einen Weg dazu finden', antwortete sie, rief alsbald ihren Vater und ihre Mutter und sprach zu ihnen: ,Dieses Muslims Herz ist weich geworden, und es verlangt ihn danach, unseren Glauben anzunehmen, und seinen Wunsch, mich zu gewinnen, will ich ihm erfüllen. Aber er sagt: ,Dies geziemt sich nicht in einer Stadt, in der mein Bruder den Tod gefunden hat. Könnte ich sie verlassen, auf daß mein Herz sich tröste, so würde ich tun, was man von mir verlangt.' Es liegt nichts Arges darin, daß ihr mich mit ihm an einen anderen Ort ziehen lasset; ich will euch beiden und dem König für alles bürgen, was ihr verlangt.' Da ging ihr Vater zum Burghauptmann und tat es ihm kund. Der war darüber hoch erfreut und gab Befehl, sie mit ihm zu dem Dorfe zu führen, das sie nannte. So zogen sie denn hinaus; doch als sie zu dem Dorfe gekommen und den Tag über dort geblieben waren und als dann die Nacht über sie hereinbrach, machten sie sich wieder auf und begannen ihren Lauf, wie einer der Dichter gesagt hat:

Jetzt ist die Trennung, sagten sie, der Zeit Gebot.
Ich sprach: Wie oft ward ich durch Trennung schon bedroht!
Ich wünsche nichts, als daß ich durch die Wüsten eile
Und durch die Länder ziehe immer Meil auf Meile.
Und reist der Freunde Schar zu einem andren Ort,
So zieh auch ich, ein fahrend Weggenosse, fort.
Ich lasse meine Sehnsucht mir als Führer dienen,
Dann leitet mich der Weg auch führerlos zu ihnen. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 476.



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Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der gefangene Muslim und die Jungfrau in jenem Dorfe, in das sie gekommen waren, den Tag über blieben; doch als die Nacht über sie hereinbrach, da machten sie sich wieder auf und begannen ihren Lauf, und sie zogen die Nacht hindurch weiter. Der junge Held ritt einen edlen Renner, die Maid saß hinter ihm auf dem Rosse, und sie eilten durch das Land dahin, bis es Morgen ward. Da bog er mit ihr vom Wege ab, ließ sie vom Rosse steigen, und beide verrichteten die religiöse Waschung und sprachen das Frühgebet. Doch während sie damit beschäftigt waren, vernahmen sie plötzlich Waffengerassel, Zügelklirren, Männerstimmen und Pferdestampfen. Da rief er: ,O Maid, das sind die Nazarener, die uns verfolgen! Was sollen wir tun? Das Pferd ist müde und matt und kann keinen Schritt mehr vorwärts gehn!' Sie sagte: ,Weh dir, bist du verzagt und ängstlich?' ,Ja', erwiderte er. Da fragte sie: ,Wo ist nun die Macht deines Herrn, von der du mir erzähltest? Wo ist seine Hilfe für die, so um Hilfe flehen? Komm, wir wollen uns vor ihm demütigen und zu ihm beten, auf daß er uns seine Hilfe leihe und uns seine Gnade angedeihen lasse, Er, der Gepriesene und Erhabene!' Er sprach: ,Das ist recht, bei Allah, was du sagst.' So begannen denn die beiden, sich vor Allah dem Erhabenen zu demütigen, und er hub an diese Verse zusprechen:

Fürwahr, in aller Stunden Lauf bedarf ich deiner,
Wenn mir auch Kron und Diadem den Scheitel schmückt!
Du bist mein höchstes Ziel; wenn meine Hand gewönne,
Was ich begehr, so wär mir jeder Wunsch geglückt.
Du hast kein einzig Ding bei dir, das du versagest;
Nein, deine Huld ergießt sich wie ein voller Quell.
Zwar bin ich durch die Sünde wohl noch ausgeschlossen,
Doch deiner Gnade Licht, du Milder, strahlet hell.



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Du Tröster in der Not, ach, tilg die Sorge mein!
Wer kann denn außer dir aus solcher Not befrein?

Während er so betete und die Jungfrau das Amen zu seinem Gebete sprach und das Pferdestampfen immer näher an sie herankam, vernahm der junge Held plötzlich die Stimme seines Bruders, der als Märtyrer gefallen war, und die rief: ,Bruder, fürchte dich nicht und gräme dich nicht! Diese Heerschar ist die Heerschar Allahs und seiner Engel; Er hat sie zu euch gesandt, auf daß sie Zeugen eurer Vermählung seien. Die Engel Allahs des Erhabenen rühmen sich eurer, und Er hat euch beiden den himmlischen Lohn der Seligen und der Märtyrer verliehen und hat die Erde vor euch aufgerollt. Siehe da, morgen früh wirst du bei den Bergen von Medina sein; und wenn du dann zu 'Omar ibn el-Chattâb -Allah habe ihn selig! — kommst, so bringe ihm meinen Gruß und sprich zu ihm: Allah lohne dir reichlich für den Islam, denn du bist aufrichtig gewesen und hast dich eifrig gemäht!' Darauf erhoben die Engel ihre Stimmen zum Gruße für ihn und seine junge Frau, und sie sprachen: ,Allah der Erhabene hat sie dir zweitausend Jahre vor der Erschaffung eures Vaters Adam -Friede sei über ihm! — zur Gattin bestimmt.' Da kam über die beiden Freude und Fröhlichkeit, Friede und Seligkeit; die Zuversicht ward befestigt, und die rechte Leitung der Frommen ward bekräftigt. Und als die Morgenröte aufstieg, sprachen die beiden das Frügebet.

Nun pflegte 'Omar ibn el-Chattâb -Allah habe ihn selig! — das Frühgebet vor Tagesanbruch zu verrichten, und manchmal trat er in die Gebetsnische, begleitet von zwei Männern, die hinter ihm her gingen, und rezitierte zuerst die Sure ,Das Vieh" und dann die Sure ,Die Frauen'.' Inzwischen erwachten



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die Schläfer; wer mit der religiösen Waschung beschäftigt war, beendete sie; und wer noch fern war, kam zum Gebet, so daß die Moschee von Volkes war, noch ehe er die erste Rak'a vollendet hatte. Dann betete er die zweite Rak'a mit einer kurzen Sure, die er rasch sprach. An jenem Tage aber rezitierte er schon bei der ersten Rak'a eine kurze Sure, die er rasch sprach, und ebenso tat er bei der zweiten Rak'a. Und nachdem er den Gruß zum Schlusse gesprochen hatte, blickte er auf seine Gefährten und sprach zu ihnen: ,Laßt uns hinausgehen, dem jungen Ehepaare entgegen!' Da verwunderten die Gefährten sich und konnten seine Worte nicht verstehen. Doch er schritt hinaus, und sie folgten ihm, bis er das Tor von Medina erreichte. Der junge Held aber zog, als das Tageslicht ihm leuchtete und er die Hügel von Medina erkannte, mit seiner Gattin, die hinter ihm ritt, dem Tore entgegen. Da traten 'Omar und die Gläubigen auf ihn zu und begrüßten ihn. Nachdem sie dann in Medina eingezogen waren, befahl 'Omar - Allah habe ihn selig! das Hochzeitsmahl zu rüsten. Und die Muslime waren dabei zugegen und schmausten. Dann ging der junge Held zu seiner Gemahlin ein, und Allah der Erhabene schenkte ihm Kinder von ihr. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 477. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß 'Omar ibn el-Chattâb —Allah habe ihn selig! —befahl, das Hochzeitsmahl zu rüsten. Und die Muslime waren dabei zugegen und schmausten. Dann ging der junge Held zu seiner Gemahlin ein, und Allah der Erhabene schenkte ihm Kinder von ihr, die im heiligen Kriege stritten und zu ihrem Ruhme ihren Stammbaum bewahrten. Und wie schön ist das, was hierüber gesungen worden ist:



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Ich sah dich, wie du weintest vor dem Tor und klagtest,
Und wie dein Mund den Fragern keine Antwort gab.
Traf dich das böse Auge, oder schlug dich Unheil?
Hielt dich die Schranke von dem Tor des Freundes ab?
Erwache heut, du Armer, preise Gottes Namen,
Tritt reuig hin vor ihn, wie es die Menschheit tat,
Auf daß der Gnade Regen das Vergangne tilge
Und daß der Sünder Schar am Lohne Anteil hat!
Oft kann sich der Gefangne die Freiheit so gewinnen,
Der Sklave kann dem Kerker der Strafe dann entrinnen.

Und nun lebten sie immerdar herrlich und in Freuden, bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt, und der die Freundesbande zerreißt.

Ferner wird erzählt


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