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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM FROMMEN MANNE UNTER DEN KINDERN ISRAEL

Einst lebte unter den Kindern Israel ein Mann, einer der Besten unter ihnen; der war eifrig im Dienste seines Herrn, er entsagte den Dingen dieser Welt und hielt sie von seinem Herzen fern. Und er hatte eine Frau, die war ihm in allen Dingen hilfbereit und gehorsam zu jeder Zeit. Die beiden verdienten ihres Lebens Notdurft, indem sie Tablette und Fächer flochten; sie arbeiteten den ganzen Tag, und wenn der Tag zur Rüste ging, so trug der Mann das, was sie geflochten hatten, in den Händen fort und zog damit in den Gassen und Straßen umher und suchte einen Käufer, dem er es verkaufen konnte. Auch pflegten die beiden oft und lange zu fasten. Eines Tages verrichteten sie fastend ihre tägliche Arbeit, und als der Abend nahte, trug der Mann wie gewöhnlich das, was sie geflochten hatten, fort und suchte jemanden, der es ihm abkaufte. Da kam er bei der Tür eines der Kinder dieser Welt, eines wohlhabenden und angesehenen Mannes, vorbei, und weil er ein schönes Antlitz und eine anmutige Gestalt hatte, so gewann die Frau des Hausherrn, als sie ihn erblickte, ihn lieb, und ihr Herz ward von heftiger Neigung zu ihm ergriffen. Ihr Gatte aber war abwesend, und so rief sie ihre Dienerin und sprach zu ihr: ,Sieh zu, ob du den Mann dort durch eine List zu uns hereinbringen kannst!' Da ging die Sklavin zu ihm hinaus, rief ihm nach, als wolle sie das von ihm kaufen, was er in seinen Händen trug, und hielt umso auf seinem Wege an. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 469. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Sklavin zu



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dem Manne hinausging, ihn anrief und zu ihm sprach: ,Komm herein; meine Herrin will etwas von dem, was du in der Hand trägst, kaufen; aber sie möchte es zuvor ansehen und prüfen.' Der Mann glaubte, sie spräche die Wahrheit, und weil er nichts Arges darin sah, so ging er hinein und setzte sich nieder, wie sie ihm befahl; sie aber schloß die Tür hinter ihm. Alsbald trat auch ihre Herrin aus ihrem Gemache hervor, ergriff ihn bei seinem Kittel, zog ihn hinein und sprach zu ihm: ,Wie lange soll ich dich bitten, mit mir allein zu sein? Ich kann die Sehnsucht nach dir nicht mehr ertragen! Siehe da, das Zimmer duftet, die Speisen sind bereit gemacht; und der Hausherr ist fern in dieser Nacht. Ich will mich dir hingeben, ich, um deren Gunst die Könige und die Fürsten und die Reichen seit langem werben, ohne daß ich auch nur einen von ihnen anblickte!' In dieser Weise redete sie lange auf ihn ein, während der Mann seine Augen nicht vom Boden zu erheben wagte, aus Scheu vor Allah dem Erhabenen und aus Furcht vor den Schmerzen seiner Strafe, wie der Dichter gesagt hat:

Bei mancher edlen Dame war's die Scham.
Die ,nich ihr fernhielt und dazwischenkam.
Sie ward ein Schutz für sie; und wahrlich, schwände
Die Scham, so wäre auch ihr Schutz zu Ende.

Nun wollte der Mann sich von ihr befreien; aber er vermochte es nicht. Darum sprach er zu ihr: ,Ich bitte dich um etwas.' ,Was ist das?' fragte sie; und er antwortete: ,Ich wünsche etwas reines Wasser, um es auf den höchsten Ort in deinem Hause hinaufzutragen; dort will ich etwas mit ihm vornehmen und mich von einer Unreinheit säubern, über die ich nicht mit dir zu sprechen vermag.' Doch sie entgegnete: ,Das Haus ist weit ausgedehnt, und es hat mancherlei Verstecke und Winkel, und der Ort der Reinigung ist bereit.' ,Ich muß aber ganz oben



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sein', erwiderte er; und so gebot sie ihrer Dienerin: ,Führe ihn zur obersten Aussichtsterrasse des Hauses!' Da führte das Mädchen ihn zur höchsten Stelle im Hause, gab ihm das Gefäß mit Wasser und stieg wieder hinunter. Der Mann aber nahm die religiöse Waschung vor, betete zwei Rak'as und schaute dann auf den Erdboden hinab, in dem Gedanken, sich hinunterzuwerfen. Als er jedoch sah, daß der Boden tief unten lag, fürchtete er, daß er dort ganz zerschlagen ankommen würde. Dann dachte er nach über die Sünde wider Gott und über Seine Strafe, und es ward ihm leicht, sein Leben zu opfern und sein eigen Blut zu vergießen; und er betete: ,Mein Gott und mein Herr, du siehst, was über mich gekommen ist, und meine Not ist dir nicht verborgen; denn du bist mächtig über alle Dinge. Und darüber spricht die Stimme des Herzens diese Verse:

An dich allein verweist des Herzens innre Stimme:
Du kennst geheimer Dinge tief verborgnen Sinn.
Und wenn ich zu dir spreche, ist's ein lautes Rufen;
Doch in der Zeit des Schweigens weis ich auf dich hin.
O du, dem sich kein andrer an die Seite stellet.
Der Arme, der dich liebt, naht dir in seiner Not.
Ich habe eine Hoffnung, die mein Glaube stärket;
Ich hab ein Herz, das, wie du we? zu bersten droht.
Des Lebens Opfer ist das Schwerste hier auf Erden;
Und wenn du es bestimmst, so wird es dennoch leicht.
Willst du in deiner Huld die Rettung mir gewähren, Durch dich, o meine Hoffnung, ist sie bald erreicht.'

Darauf warf der Mann sich hoch von der Terrasse hinunter; doch Allah sandte ihm einen Engel, der ihn auf seinen Flügeln trug und ihn sicher bis zur Erde hernieder brachte, ohne daß ihm ein Leid geschah. Als er nun unten stand, pries er Allah, den Allgewaltigen und Glorreichen, für den Schutz, den Er ihm bescherte, und die Gnade, die Er ihm gewährte. Dann



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begab er sich geradeswegs zu seiner Frau, die schon lange auf ihn gewartet hatte. Wie er nun mit leeren Händen eintrat, fragte sie ihn, warum er so lange ausgeblieben sei, was er mit dem getan habe, was er in seinen Händen fortgetragen hatte, und weshalb er mit leeren Händen zurückkomme. Da erzählte er ihr, in welche Versuchung er geraten sei, wie er sich von jener Stätte hinuntergeworfen und wie Allah ihn gerettet habe. Seine Frau aber rief: ,Preis sei Allah, der die Versuchung von dir wandte und dir Seinen Schutz gegen das Unheil sandte!' Und sie fügte hinzu: ,Lieber Mann, die Nachbarn sind es von uns gewohnt, daß wir an jedem Abend in unserem Ofen Feuer machen; wenn sie uns nun heute abend ohne Feuer sehen, so werden sie wissen, daß wir nichts haben. Es geziemt sich aber, daß wir aus Dankbarkeit gegen Allah die Not, in der wir uns befinden, verbergen und daß wir das Fasten des vergangenen Tages durch Fasten in dieser Nacht fortsetzen; und Allah dem Erhabenen sei alles anheimgestellt!' Darauf ging sie zum Ofen, füllte ihn mit Brennholz und zündete es an. um dadurch die Nachbarinnen irrezuleiten; und sie hub an ihr Werk mit diesen Versen zu begleiten:

Verbergen will ich Not und Kummer, die ich leide;
Ich zünd mein Feuer an und täusch die Nachbarin.
Ich nehme hin, was mir des Herren Rat beschieden;
Er nehme meine Demut vor Ihm in Gnaden hin! — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 470. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Frau, nachdem sie das Feuer angezündet hatte, um die Nachbarn zu täuschen, sich mit ihrem Gatten erhob und daß dann beide die religiöse Waschung verrichteten und aufstanden, um zu beten. Plötzlich



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kam eine von ihren Nachbarinnen herein und bat um Erlaubnis, etwas Feuer aus ihrem Ofen zu holen. Die beiden sprachen zu ihr: ,Der Ofen steht zu deiner Verfügung.' Doch als die Nachbarsfrau an den Ofen herantrat, um das Feuer zu nehmen, rief sie: ,He, du Frau da, hol dein Brot heraus, ehe es verbrennt!' Da sprach die Frau des Mannes zu ihrem Gatten: ,Hörst du, was die Frau dort sagte' ,Geh hin und sieh nach!' erwiderte er; und sofort ging sie zum Ofen, und siehe da, er war voll von feinem weißem Brot. Sie nahm die Laibe heraus und trug sie zu ihrem Gatten, indem sie Allah, dent Allgewaltigen und Glorreichen, dankte für Seine überreichliche Spende und die große Güte Seiner Hände. Nun aßen die beiden von dem Brote und tranken Wasser dazu und priesen Allah den Erhabenen. Darauf sagte die Frau zu ihrem Manne: ,Komm, laß uns zu Allah dem Erhabenen beten, Er möge uns etwas schenken, das uns der Sorge um das tägliche Brot und der mühseligen Arbeit überhebt, und wodurch Er uns dazu verhilft, uns ganz Seinem Dienste und dem Gehorsam gegen Ihn zu weihen!' ,Gern', erwiderte er, und er betete zu seinem Herrn, und seine Frau sprach das Amen zu seinem Gebete. Plötzlich aber tat sich das Dach auf, und ein Rubin fiel herab, der das Haus mit seinem Glanze erleuchtete. Da lobten und priesen sie Gott noch inbrünstiger und freuten sich gewaltig über jenen Rubin, und sie beteten nach Herzenslust. Als die Nacht sich dann ihrem Ende näherte, legten sie sich zum Schlafe nieder, und die Frau träumte, sie trete in das Paradies ein und sehe dort viele Throne und Sessel in Reihen aufgestellt. Sie fragte: ,Was sind das für Throne? Und was sind das für Sessel?' Man gab ihr zur Antwort: ,Das sind die Throne der Propheten, und das sind die Sessel der Gerechten und der Frommen!' Weiter fragte sie: ,Wo ist wohl der Sessel meines Gatten?' und nannte dabei seinen



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Namen. Da ward ihr gesagt: ,Der dort!' Und als sie auf ihn hinblickte, entdeckte sie plötzlich ein Loch an einer Seite; sie fragte: Was bedeutet denn dies Loch?' und man erwiderte ihr: ,Das ist die Stelle des Rubins, der durch das Dach eures Hauses auf euch herabgefallen ist.' Da erwachte sie aus ihrem Schlafe, weinend und betrübt darüber, daß der Sessel ihres Gatten unter den Sitzen der Frommen ein Fehl hatte. Und sie sprach: ,Lieber Mann, bete zu deinem Herrn, er möge diesen Rubin an seinen Ort zurückkehren lassen; es ist leichter, in den wenigen Tagen auf Erden Hunger und Armut ertragen zu müssen, als ein Loch in deinem Sessel unter den Gerechten zu wissen.' Der Mann betete zu seinem Herrn; und alsbald stieg der Rubin zum Dach empor und flog davon, während sie ihm nachschauten. Die beiden aber lebten weiter in ihrer Armut und ihrem Gottesdienste, bis sie vor Allah, den Allgewaltigen und Glorreichen, traten.

Ferner erzählt man


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