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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM SCHIFFBRÜCHIGEN WEIBE

Einer von den Nachkommen des Propheten erzählte: Als ich einst in finsterer Nacht um die Kaaba ging, hörte ich eine Stimme klagen und aus bekümmertem Herzen diese Worte sagen: ,O du Allgütiger, deine alte Huld sei wieder neu! Siehe, mein Herz ist dem Bunde getreu. 'Wie ich jene Stimme vernahm, begann mein Herz so gewaltig zuschlagen, daß ich fast zu sterben vermeinte. Doch ich ging in der Richtung der Stimme, und ich entdeckte, daß sie von einer Frau kam. Da sprach ich: ,Friede sei mit dir, du Magd Allahs!' Sie gab zur Antwort: ,Auch mit dir seien Friede und die Barmherzigkeit Allahs und seine Segnungen!' Dann fuhr ich fort: ,Ich bitte dich um des allmächtigen Allah willen, sag mir, was ist das für ein Bund, dem dein Herz treu ist?' Darauf erwiderte sie: ,Hättest du mich nicht beschworen bei dem Herrn der gewaltigen Taten, so würde ich dir die Geheimnisse nicht verraten. Schau, was hier vor mir liegt!' Ich schaute hin und erblickte vor ihr einen schlafenden Knaben, der in seinem Schlummer schwer atmete. Und nun erzählte sie: ,Ich machte mich auf, als ich diesen



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Knaben unter dem Herzen trug, um zu diesem Heiligtum zu wallfahrten. Da mußte ich mit einem Schiffe fahren; aber die Wogen erhoben sich über uns, die Winde bliesen widrig gegen uns, und das Schiff ging mit uns unter. Ich konnte mich noch auf eine Schiffsplanke retten, und dort kam ich mit diesem Knäblein nieder, während ich mich auf jenem Brette befand. Als es nun auf meinem Schoße lag und die Wellen mich peitschten' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 467. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Frau des weiteren erzählte: ,Nachdem das Schiff untergegangen war, konnte ich mich auf eine Schiffsplanke retten, und dort kam ich mit diesem Knäblein nieder, während ich mich auf jenem Brette befand. Als es nun auf meinem Schoße lag und die Wogen mich peitschten, kam plötzlich einer von den Seeleuten des Schiffes zu mir herangeschwommen, kletterte auf meine Planke und sprach zu mir: ,Bei Allah, schon als du noch auf dem Schiffe warst, gelüstete es mich nach dir; jetzt aber, wo ich bei dir bin, laß mich meinen Willen an dir tun, sonst werfe ich dich allhier ins Meer!' Da rief ich: ,Wehe dir! Hast du das, was du soeben erlebt hast, schon vergessen? Ist es dir keine Warnung?' Doch er sagte gelassen: ,Dergleichen habe ich schon viele Male erlebt; ich bin immer gut davongekommen, und so mache ich mir nichts daraus!' Ich erwiderte: ,Mann, wir sind von einem Unheil betroffen, aus dem wir nur durch Gehorsam, nicht durch Sünde uns zu retten hoffen.' Dennoch drang er weiter in mich, und weil ich Angst vor ihm hatte, suchte ich ihn zu hintergehen, indem ich zu ihm sprach: ,Warte nur noch, bis dies Kind schläft!' Da riß er es von meinem



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Schoße und warf es ins Meer. Wie ich sah, was er in seiner tollen Wut mit dem Knaben tat, sank mir das Herz, und mich zerriß der Schmerz, und ich hob mein Haupt gen Himmel und rief: ,O du, der du zwischen den Menschen und sein Herze trittst, tritt zwischen mich und dies wilde Tier; du hast Macht über alle Dinge.' Und, bei Allah, kaum hatte ich mein Gebet beendet, da erhob sich ein Ungetüm aus dem Meere und riß ihn von der Planke herunter. So blieb ich nun ganz allein, und in mir wogten Kummer und Pein der Sorge um mein Kindelein. Und da sprach ich:

Mein Augentrost, mein Liebling, ach, mein Kind verschwand,
Als ich in meinem Elend keine Kraft mehr fand.
Ich sehe, wie mein Leib ertrinkt, und wie die Not
Im grausen Spiel der Wellen mir das Herz durchloht.
Ich hab in meinen Qualen keine Rettung mehr
Als deine Huld, du meine Zuflucht hoch und hehr.
Du siehst, o Herr, das Leid, das über mich gekommen,
Da jetzt mein einzig Kind, mein Sohn, von mir genommen.
Verein uns, ende gnädig, was mich jetzt betroffen;
Ja, meine stärkste Waffe ist's, auf dich zu hoffen.

Einen Tag und eine Nacht lang blieb ich in diesem Zustande; als es dann aber wieder Morgen ward, erblickte ich die Segel eines Schiffes, die weit in der Ferne leuchteten, und nun trugen mich die Wellen und trieben mich die Winde unablässig dahin, bis ich jenes Schiff, dessen Segel ich vor mir sah, erreichte. Die Schiffsleute nahmen mich auf und holten mich an Bord; und siehe da, mein Sohn war bei ihnen. Ich warf mich auf ihn und rief: ,Ach, ihr Leute, das ist ja mein Sohn! Woher habt ihr ihn?' Sie antworteten: ,Während wir auf dem Meere dahinfuhren, stand unser Schiff plötzlich still; und wir erblickten ein Ungetüm, gewaltig wie eine große Stadt, und auf seinem Rücken saß dies Knäblein, das am Daumen sog. Da nahmen



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wir es zu uns.' Wie ich das von ihnen vernahm, erzählte ich ihnen meine Geschichte und alles, was mir widerfahren war, und ich dankte meinem Herrn für das, was er an mir getan hatte, und ich gelobte ihm, ich wollte fürderhin stets bei seinem Hause bleiben und mich ganz allein seinem Dienste weihen. Seither hat er mir jede Bitte gewährt, die ich an ihn gerichtet habe.'

Darauf tat ich meine Hand in den Geldbeutel und wollte ihr etwas geben. Aber sie rief: ,Weg damit, du Tor! Sagte ich dir nicht, wie Er gnädig spendet und in seiner Huld alles zum Guten wendet? Soll ich Wohltaten von jemand anders annehmen als von Ihm?' Und ich vermochte sie nicht zu bewegen, daß sie etwas von mir annahm. Dann verließ ich sie und ging davon, indem ich diese Verse sprach:

Wie manche Gnade Allahs ist so tief versteckt,
Daß der Verstand der Weisen selbst sie nicht entdeckt!
Wie manches Glück erscheint doch erst nach langem Schmerz,
Befreiet dann von Kummer das bedrängte Herz!
Wie mancher Morgen hebt für dich mit Sorge an;
Und doch - am Abend kommt zu dir die Freude dann!
Will dir an einem Tag die Not zu arg erscheinen,
Vertrau auf den Erhabnen, ihn, den ewig Einen!
Und flehe zum Propheten: jedes Menschenkind,
Das zu Mohammed fleht, erreicht sein Ziel geschwind.

Und sie blieb immerdar im Dienste ihres Herrn und bei Seinem Hause, bis der Tod sie heimsuchte.

Ferner wird erzählt


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