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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM JÜDISCHEN RICHTER UND SEINEM FROMMEN WEIBE

Unter den Kindern Israel lebte einst einer ihrer Richter; der hatte eine Frau von wundersamer Lieblichkeit, reich an Keuschheit, Geduld und Bescheidenheit. Einmal wollte jener Richter sich aufmachen zur Pilgerfahrt nach Jerusalem, und da übertrug er seinem Bruder das Richteramt und vertraute ihm auch seine Frau an. Nun hatte sein Bruder schon von ihrer Schönheit und Anmut gehört und Neigung zu ihr gefaßt. Als aber der Richter fortgezogen war, begab der Bruder sich zu ihr und wollte sie verführen; doch sie weigerte sich dessen und beharrte in ihrer Tugend. Da drang er noch heftiger in sie, während sie sich standhaft wehrte. Wie er dann schließlich sein Vorhaben aufgab, geriet er in Furcht, sie möchte seinem Bruder von diesem bösen Tun berichten, wenn er zurückkehre; und deshalb dang er sich falsche Zeugen, die von ihr aussagen sollten, sie habe Ehebruch getrieben. Darauf brachte er ihre Sache vor den König jener Zeit, und der entschied, sie solle gesteinigt werden. Nun grub man eine Grube für sie, warf sie hinein und steinigte sie, bis die Steine sie ganz bedeckten; und der böse Bruder sprach: ,Diese Grube ist ihr Grab.' Als es aber dunkle Nacht geworden war, begann sie vor argen Schmerzen zu stöhnen. Da kam ein Wandersmann vorbei, der sich zu einem Nachbardorfe begab; als der ihr Wimmern hörte, ging er hinzu und holte sie aus der Grube heraus. Dann trug er sie zu seiner Frau und gebot ihr, die Kranke zu pflegen. Jene Frau pflegte sie, bis sie genesen war; und da sie ein Kind hatte, übergab sie es der Fremden, damit diese sich seiner annehme und mit ihm in einem anderen Hause schlafe. Dort sah sie einer der



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Schelme, und weil ihn nach ihr gelüstete, schickte er zu ihr, um sie zu verführen; aber sie weigerte sich dessen. Nun beschloß er, sie zu töten; und er kam bei Nacht und drang in ihr Haus ein, während sie schlief. Dann fiel er mit dem Messer über sie her; doch er traf das Kind und tötete es. Als er aber merkte, daß er das Kind getötet hatte, kam Furcht über ihn, und er eilte aus dem Hause hinaus; so schützte Allah die Frau vor ihm. Wie sie am Morgen erwachte, fand sie den Knaben tot an ihrer Seite; da kam auch schon seine Mutter und schrie: ,Du bist es, die ihn getötet hat!' Dann versetzte sie ihr schmerzhafte Schläge und wollte sie umbringen. Aber der Mann jener Frau kam und befreite die Frau des Richters aus ihren Händen und sprach: ,Bei Allah, das sollst du nicht tun!' Darauf eilte die Richtersfrau flüchtig von dannen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte; sie hatte jedoch einige Dirhems bei sich. Und sie kam in ein Dorf, wo die Menschen um einen Mann herumstanden, der an einem Baumstamm gekreuzigt war, aber noch Leben in sich hatte. Als sie fragte: ,Ihr Leute, was ist es mit ihm?' antwortete man ihr: ,Er hat ein Verbrechen begangen, das nur durch seinen Tod oder durch ein Almosen der Sühne in der und der Höhe gebüßt werden kann!' Da sprach sie: ,Nehmt dies Geld und laßt ihn frei!' Als sie das taten, bereute der Mann vor ihr und gelobte, ihr zu dienen, um Allahs des Erhabenen willen, bis der Tod ihn abberufen würde. Dann baute er ihr eine Zelle, die er ihr zur Wohnung gab, und begann Holz zu fällen und ihr täglich ihr Brot zu bringen. Die Frau aber gab sich nun ganz dem Gottesdienste hin, und sie ward so heilig, daß sie jeden Kranken und Besessenen, der zu ihr kam, alsbald durch ihr Gebet heilte. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 466.



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Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß sich, als die Frau von den Menschen aufgesucht wurde, während sie in der Zelle sich ihrer Andacht widmete, nach dem. Ratschlusse Allahs des Erhabenen das Folgende begab: Der Bruder ihres Gatten, er, der sie hatte steinigen lassen, wurde von einem Krebsschaden in seinem Gesicht befallen; die Frau, die sie geschlagen hatte, erkrankte am Aussatz, und der Schelm ward von einem Siechtum heimgesucht, das ihn zum Krüppel machte. Als nun der Richter von seiner Pilgerfahrt heimgekehrt war, fragte er seinen Bruder alsbald nach seiner Gattin. Der sagte ihm, sie sei gestorben; da trauerte er um sie und glaubte, sie wäre bei Gott. Nun hörten die Menschen überall von der frommen Frau, und sie begannen ihre Zelle aufzusuchen, von allen Ländern her, weit und breit. Da sprach der Richter zu seinem Bruder: ,Lieber Bruder, willst du nicht auch zu jener frommen Frau gehen? Vielleicht wird Gott dir durch ihre Hand Heilung gewähren.' ,Lieber Bruder,' erwiderte er, ,führe mich zu ihr!' Aber auch der Gatte der Frau, die am Aussatz erkrankt war. hörte von ihr, und er begab sich mit seiner Gattin zu ihr. Und ebenso vernahmen die Leute des verkrüppelten Schelmes die Kunde von ihr, und sie begaben sich desgleichen mit ihm zu ihr. So trafen alle die Leute bei der Tür ihrer Zelle zusammen. Sie aber konnte alle, die zu ihrer Zelle kamen, von einer Stelle aus sehen, wo niemand anders sie erblicken konnte. Die Leute warteten nun, bis der Diener kam; dann baten sie ihn, er möchte ihnen die Erlaubnis erwirken, bei ihr einzutreten. Als er das getan hatte, verschleierte und verhüllte sie sich und trat an die Tür; da erblickte sie ihren Gatten und seinen Bruder, den Dieb und die Frau. Sie erkannte sie alsbald; aber jene erkannten sie nicht. Und sie sprach zu ihnen: ,Ihr Leute da, ihr



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werdet nicht eher von euren Leiden erlöst werden, als bis ihr eure Sünden bekennt. Denn so der Mensch seine Sünden bekennt, nimmt Gott ihn wieder zu Gnaden an und gewährt ihm das, weswegen er sich an ihn wendet.' Nun sagte der Richter zu seinem Bruder: ,Lieber Bruder, bereue vor Gott und sei nicht verstockt; so wird es dir eher zur Genesung verhelfen.' Und es war, als ob eine Stimme von geheimnisvollem Klang leise diese Verse sang:

Hier stehet der Bedrücker heut vor dem Bedrückten:
Was er geheim verbarg, macht Gott nun offenbar.
Dies ist der Ort, vor dem die Sünder kleinlaut werden:
Und Gott erhöht hier den, der ihm gehorsam war.
Ja, unser Herr und Meister kündet hier die Wahrheit,
Ob auch der Sünder grollt mit trotzerfüllter Brust.
Drum wehe dem, der offen Gott zum Zorne reizte,
Als hätt er von des Herren Strafe nichts gewußt!
Oder du Ehre suchst, die Ehre -weh dir. Mann! Liegt in der Gottesfurcht: vertrau dem Herrn dich an!

Da sprach der Bruder des Richters: ,Jetzt will ich die Wahrheit sagen, ich habe deiner Frau das und das - was wir schon erzählt haben -angetan; und das ist meine Sünde.' Und die Aussätzige sagte: ,Bei mir war eine Frau, die ich ohne sicheres Wissen beschuldigt und vorsätzlich geschlagen habe; das ist meine Sünde.' Zuletzt bekannte der Krüppel: ,Ich drang bei einer Frau ein, um sie zu töten, nachdem ich sie hatte verführen wollen, sie aber sich des Ehebruchs geweigert hatte; doch ich tötete ein Kind, das bei ihr lag; das ist meine Sünde.' Die Frau sprach: ,O Gott, wie du ihnen die Schmach der Sünde gezeigt hast, so laß sie jetzt die Ehre des Gehorsams schauen; denn du bist mächtig über alle Dinge.' Und alsbald ließ Gott, der Allgewaltige und Glorreiche, sie genesen. Nun aber begann der Richter sie anzublicken und genauer anzuschauen;



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und sie fragte ihn, warum er sie so betrachte. Als er antwortete: ,Ich hatte eine Frau, und wenn sie nicht gestorben wäre, so möchte ich sagen, du wärest es', gab sie sich ihm zu erkennen, und beide begannen Gott, den Allgewaltigen und Glorreichen, zu preisen, daß er sie in seiner Huld wieder miteinander vereinigt hatte. Der Bruder des Richters aber und der Schelm und die Frau baten sie um Vergebung; und nachdem sie ihnen verziehen hatte, widmeten sich alle an jener Stätte dort der Anbetung Gottes und dem Dienst der frommen Frau, bis der Tod sie schied.

Ferner wird berichtet


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