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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM PILGERSMANN UND DER ALTEN FRAU

Einst tat ein Mann aus dem Pilgerzuge einen langen Schlaf; und als er dann aufwachte, entdeckte er keine Spur mehr von der Wallfahrtskarawane. Da stand er auf und zog weiter; doch er irrte vorn Wege ab, und nach einer Weile erblickte er ein Zelt. An dessen Eingang sah er eine alte Frau und neben ihr einen Hund, der schlafend dalag. Er trat an das Zelt heran, begrüßte die Alte und bat sie um Zehrung. Da erwiderte sie: ,Geh zu jenem Tale dort und fange dir einige Schlangen, so viele wie du zu einer Mahlzeit brauchst; dann will ich sie dir braten und zu essen geben.' Doch der Mann sprach: ,Ich getraue mich nicht, die Schlangen zu fangen; ich habe sie auch noch nie gegessen.' Doch die Alte fuhr fort: ,Ich will mit dir gehen und einige fangen; sei ohne Furcht!' Dann ging sie mit ihm, begleitet



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von dem Hunde; und als sie genug Schlangen gefangen hatte, schickte sie sich an, die Tiere zu braten. Der Pilgersmann aber - so berichtet der Erzähler -sah keine andere Möglichkeit, als von den Schlangen zu essen, da er Hunger und Erschöpfung fürchtete; also aß er von jenem Schlangengericht. Dann dürstete ihn, und er bat die Alte um Wasser zum Trinken. Sie sprach zu ihm: ,Dort ist die Quelle vor dir; trink!' Da ging er zur Quelle, aber er fand nur bitteres Wasser darin; dennoch mußte er es, trotz seiner beißenden Bitterkeit, trinken, da er von so heftigem Durste gequält ward. Nachdem er getrunken hatte, kehrte er zu der Alten zurück und hub an: ,Ich wundere mich über dich, o Greisin, und darüber, daß du an diesem Orte wohnst und an solcher Stätte verweilst.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 435. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Pilgersmann, nachdem er von dem Wasser der bitteren Quelle getrunken hatte, weil er von so heftigem Durste gequält ward, zu der Alten zurückkehrte und anhub: ,Ich wundere mich über dich, o Greisin, und darüber, daß du an diesem Orte wohnst und daß du dich von solcher Speise nährst und von solchem Wasser trinkst.' Da fragte die Alte ihn: ,Wie ist denn euer Land?' Er gab ihr zur Antwort: ,In unserem Land gibt es weite und geräumige Häuser, reife und köstliche Früchte, zahlreiche süße Gewässer, wohlschmeckende Speisen, fettes Fleisch, viele Herden von Kleinvieh; dort gibt es alle guten Dinge und die schönsten Sachen, dergleichen sich sonst nur im Paradiese finden. das Allah der Erhabene seinen frommen Dienern verheißen hat.' ,All das habe ich gehört,' erwiderte die Alte, ,doch sage mir, habt ihr nicht einen Sultan, der über euch herrscht



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und der euch Unrecht antut, während ihr unter seiner Gewalt steht; der einem jeden von euch, wenn der sich vergeht, seine Habe nimmt und ihn vernichtet; der euch, wenn er will, aus euren Häusern vertreibt und euch mit der 'Wurzel ausrottet?' Der Pilger antwortete: ,So mag es wohl sein.' Da fuhr die Alte fort: ,Wenn dem so ist, so sind, bei Allah, jene Speisen der Köstlichkeit und das Leben in Herrlichkeit, ja, all die Freuden und Wonnen bei Tyrannei und Bedrückung nur ein Gift von durchdringender Kraft, während unsere Speisen, die wir in Sicherheit genießen, ein Heilkraut sind, das Genesung schafft. Hast du nicht vernommen, daß nächst dem Islam Gesundheit und Sicherheit das höchste Gut sind?'

Solches' kommt nur zuwege durch die Gerechtigkeit des Sultans, des Statthalters Gottes auf Erden, und durch seine treffliche Verwaltung. Der Sultan früherer Zeiten bedurfte nur geringer Majestät, da die Untertanen ihn fürchteten, sobald sie ihn nur sahen; aber der Sultan unserer Zeit bedarf der höchsten Herrscherkunst und der vollendetsten Würde. da die Menschen jetzt nicht mehr so sind wie früher. Unsere Zeit jetzt ist die Zeit von Leuten, die auf Gemeinheit sinnen und großes Unheil beginnen; ja, sie sind ob ihrer Narrheit und Herzenshärte bekannt, sie sind immer dem Haß und der Feindschaft Zugewandt. Ist also der Sultan - was Allah der Erhabene verhüten möge! —schwach gegen sie oder unerfahren in der Staatskunst und ohne Ansehen, so ist es kein Zweifel, daß dadurch das Land zugrunde geht. Heißt es doch im Sprichworte: Lieber hundert Jahre der Tyrannei des Sultans als ein einziges Jahr der Tyrannei des Volks untereinander! Wenn die Untertanen einander bedrücken, so setzt Allah über sie einen Sultan der Grausamkeit



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und einen König der Gewalttätigkeit. Es wird auch in der Geschichte überliefert, daß an el-Haddschâdsch ibn Jûsuf' eines Tages eine Eingabe überreicht wurde, in der geschrieben stand: ,Fürchte Allah und übe keinerlei Bedrückung gegen die Diener Allahs!' Als er die Eingabe gelesen hatte, bestieg er die Kanzel, er, der ein beredter Mann war, und sprach: ,O ihr Leute, Allah der Erhabene hat mich um eurer Taten willen zum Herrscher über euch eingesetzt!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 436. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß el-Haddschâdsch ibn Jûsuf als er die Eingabe gelesen hatte, auf die Kanzel stieg, er, der ein beredter Mann war, und sprach: ,O ihr Leute, Allah der Erhabene hat mich um eurer Taten willen zum Herrscher über euch eingesetzt. Wenn ich sterbe, so werdet ihr doch nicht von der Bedrückung befreit werden, solange ihr solch böses Treiben übt. Denn Allah der Erhabene hat viele Männer gleich mir erschaffen. Wenn ich es nicht bin, so ist es einer, der noch schlimmer ist als ich, der noch härter bedrückt und noch grausamer herrscht; wie ein Dichter darüber sagt:

Es gibt keine Macht in der Welt, über der nicht Gottes Macht stande;
Und jeder Tyrann wird noch durch einen Tyrannen bedrückt.'

Die Grausamkeit wird gefürchtet; Gerechtigkeit aber ist aller Dinge bestes. Wir flehen zu Allah, daß er uns alles zum besten wenden möge!

Und ferner wird erzählt


Copyright: arpa, 2015.

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