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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM SCHULMEISTER. DER WEDER LESEN NOCH SCHREIBEN KONNTE

Unter den Leuten, die sich in der hohen Schule aufzuhalten pflegten, war einmal einer, der weder lesen noch schreiben konnte, und der nur dadurch, daß er die Menschen listig betrog, sein Brot von ihnen verdiente. Eines Tages nun kam es ihm in den Sinn, eine Schule zu eröffnen und darin die Kinder zu unterrichten; er holte sich daher Schreibtafeln und beschriebene Blätter und hängte sie an einer sichtbaren Stelle auf. Dann vergrößerte er seinen Turban und setzte sich vor die Tür seiner Schule; und als die Leute, die dort vorüberkamen, seinen weiten Turban und die Tafeln und die Blätter sahen, da vermeinten sie, er wäre ein sehr gelehrter Meister, und sie brachten ihm ihre Kinder. Er aber sagte zu dem einen Kind ,Schreib!' und zu dem anderen ,Lies!' und so unterrichteten die Kleinen sich gegenseitig.

Eines Tages jedoch, als er wie gewöhnlich an der Tür seiner Schule saß, sah er plötzlich von fern eine Frau daherkommen,



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die einen Brief in der Hand hielt. Da sagte er sich in seinem Sinne: ,Die Frau da kommt sicherlich zu mir, damit ich ihr den Brief, den sie bei sich hat, vorlese! 'Was soll ich nun mit ihr anfangen, da ich Geschriebenes nicht lesen kann?' Gern wäre er hinuntergesprungen und vor ihr davongelaufen; aber ehe er noch hinabsteigen konnte, war sie schon bei ihm und fragte ihn: ,Wohin?' Er antwortete ihr: ,Ich will das Mittagsgebet sprechen; dann komme ich wieder.' Doch sie wandte ein: ,Bis Mittag ist es noch lange Zeit! Lies mir jetzt diesen Brief vor!' Er nahm also das Schreiben von ihr in Empfang, hielt es umgekehrt in der Hand und schaute hinein; dabei schüttelte er bald den Turban, bald zuckte er mit den Augenbrauen und zeigte große Erregung. Nun war dieser Brief von dem Manne der Frau, der in der Ferne weilte, an sie gesandt; und als sie den Schulmeister so erregt sah, sagte sie sich: ,Mein Mann ist sicherlich gestorben; und dieser Schulmeister scheut sich, mir zu sagen, daß er tot ist.' Und so rief sie: ,Lieber Herr, wenn er tot ist, so sag es mir!' Er aber schüttelte den Kopf und schwieg. Da fragte die Frau: ,Soll ich mein Gewand zerreißen?' ,Zerreiß es!' erwiderte er. Weiter fragte sie: ,Soll ich mir das Gesicht zerschlagen?' ,Zerschlag es!' gab er zur Antwort. Darauf nahm sie ihm den Brief wieder aus der Hand und eilte nach Hause zurück; dort begann sie mit ihren Kindern zu wehklagen. Als aber einige ihrer Nachbarn das Klagen hörten, fragten sie, was es mit ihr sei. Man sagte ihnen: ,Sie hat einen Brief erhalten, daß ihr Mann gestorben ist.' Einer von den Leuten rief: ,Das ist gelogen! Ihr Mann hat mir gestern einen Brief geschickt, in dem er mir kundtut, daß er wohlauf und bei bester Gesundheit ist und daß er nach zehn Tagen wieder bei ihr sein wird!' Und er ging sofort zu der Frau und sprach zu ihr: ,Wo ist der Brief, den du erhalten hast?' Sie brachte ihn zu ihm, er



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nahm ihn in die Hand und las ihn; und siehe da. er lautete: ,Gruß zuvor! Des ferneren: Ich bin wohlauf und bei bester Gesundheit, und nach zehn Tagen bin ich wieder bei euch. Inzwischen schicke ich euch eine Decke und einen Kohlendämpfer.' Sofort nahm sie den Brief, kehrte mit ihm zu dem Schulmeister zurück und fragte ihn: ,Was hat dich bewogen, mir dies anzutun?' Dann erzählte sie ihm, was ihr Nachbar ihr gesagt hatte, nämlich, daß es ihrem Manne gut gehe und daß er ihr eine Decke und einen Kohlendämpfer geschickt habe. Darauf erwiderte er: ,Du hast recht; doch, gute Frau, verzeih mir! ich war nämlich in jenem Augenblick erregt' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 404. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Lehrer, als die Frau ihn fragte: ,"Was hat dich bewogen, mir dies anzutun?' ihr erwiderte: ,Ich war in jenem Augenblick erregt, und meine Gedanken waren beschäftigt, und als ich las, der Kohlendämpfer sei in eine Decke eingewickelt, da meinte ich, er sei tot und man hätte ihn ins Leichentuch gehüllt.' Die Frau, die den Betrug nicht durchschaute, sprach zu ihm: ,Du bist entschuldigt', nahm den Brief und ging ihrer Wege.

Ferner wird erzählt


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