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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM SCHULMEISTER, DER SICH AUF HÖRENSAGEN VERLIEBTE

Ein trefflicher Man berichtete einst: Ich ging einmal an einer Schule vorbei, in der ein Schulmeister die Kinder unterrichtete. Da ich sah, daß er ein schönes Äußeres hatte und gut gekleidet war, so trat ich an ihn heran; er erhob sich vor mir und ließ mich an seiner Seite sitzen. Ich erprobte seine Kenntnise in den Lesarten des Korans, in der Grammatik, in der Dichtkunst und in der Sprachkunde, und siehe da, er war in allem, was von ihm verlangt wurde, vollkommen bewandert. Da sprach ich zu ihm: ,Allah stärke deinen Eifer! Du bist in allem, was von dir gefordert werden kann, wohlerfahren.' Danach suchte ich



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eine Weile lang seine Gesellschaft auf, und an jedem Tage entdeckte ich an ihm einen neuen Vorzug. So mußte ich mir sagen: ,Dies ist wirklich wunderbar bei einem Schulmeister, der die Kinder unterrichtet! Die verständigen Leute sind sich doch einig darüber, daß ein Kinderlehrer nur geringen Verstand hat.' Dann aber suchte ich ihn nicht mehr regelmäßig auf, sondern nur noch alle paar Tage, wenn ich seine Gesellschaft entbehrte; und als ich wieder einmal eines Tages wie gewöhnlich zu ihm kam, um ihn zu besuchen, fand ich die Schule geschlossen. Da fragte ich die Nachbarn, und sie sagten mir: ,Bei ihm ist jemand gestorben!' Nun sprach ich bei mir: ,Es ist meine Pflicht, ihm einen Beileidsbesuch zu machen.' Ich ging also zu seiner Haustür und klopfte an. Eine Sklavin kam zu mir heraus und fragte: ,Was willst du?' Ich antwortete: ,Ich wünsche deinen Herrn zu sprechen.' Sie aber entgegnete: ,Mein Herr sitzt einsam und trauert.' Da sagte ich zu ihr: ,Sag ihm, sein Freund Soundso wolle ihn trösten!' Nun ging die Sklavin wieder fort und brachte ihm die Meldung. Als er ihr sagte: ,Laß ihn ein', erlaubte sie mir einzutreten; und wie ich zu ihm kam, fand ich ihn allein dasitzen, mit der Trauerbinde ums Haupt. Ich hub an: ,Allah gebe dir reichen Lohn im Himmel! Dies ist ein Pfad, den jeder gehen muß; es geziemt sich dir, dich in Geduld zu fassen.' Dann fragte ich ihn: ,Wer ist denn bei dir gestorben?' Er antwortete: ,Ein Mensch, der mir von allen der teuerste und liebste war.' ,Vielleicht war es dein Vater?' ,Nein!' ,Deine Mutter?' ,Nein.' ,Dein Bruder?' ,Nein.' ,Einer von deinen Verwandten?' ,Nein.' Da fragte ich: ,In welchem Verhältnisse stand er denn zu dir?' Er antwortete: ,Es war meine Geliebte.' Nun sprach ich in meinem Innern: ,Dies ist der erste Beweis von seiner Beschränktheit!' Aber laut fügte ich hinzu: ,Es gibt sicher noch andere, die schöner



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sind als sie.' Er entgegnete: ,Ich habe sie nie gesehen, daß ich wissen könnte, ob es eine schönere als sie gibt oder nicht.' Wiederum sprach ich in meinem Innern: ,Dies ist der zweite Beweis', und fügte laut hinzu: ,Wie konntest du ein Mädchen lieben, das du nie gesehen hast?' Darauf erzählte er: ,Höre! Ich saß eines Tages am Fenster; da ging ein Mann des Weges vorüber und sang diesen Vers:

Gott lohne dir's, Umm 'Amr, mit reicher Gnade:
Gib mir zurück mein Herz, wo es auch sei!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 403. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Mann des weiteren erzählte: Der Schulmeister fuhr fort: ,Als der Mann, der des Weges vorüberging, das Lied sang, das ich von ihm hörte, sagte ich mir: Wenn diese Umm 'Amr nicht ohnegleichen in der Welt wäre, so hätten die Dichter sie nicht besungen. Und ich war von Liebe zu ihr ergriffen. Zwei Tage später aber kam derselbe Mann wieder vorbei und sang diesen Vers:

Der Esel zog von dannen mit Umm 'Amr;
Sie kam nie wieder, auch der Esel nicht.'

Da wußte ich, daß sie gestorben war; und ich begann sie zu betrauern. Und nun bin ich schon seit drei Tagen in Trauer um sie.' So überzeugte ich mich, daß er wirklich doch ein dummer Kerl war, verließ ihn und ging davon.

Und ebenso wird erzählt


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