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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM FROMMEN PRINZEN

Der Beherrscher der Gläubigen Harûn er-Raschîd hatte einen Sohn, der schon im Alter von sechzehn Jahren der Welt entsagte und sich dem Pfade der Asketen und Heiligen zuwandte. Er pflegte auf die Friedhöfe zu gehen und dort zu sprechen: ,Ihr habt einst die Welt beherrscht, aber das hat euch nicht vor dem Tode gerettet, und nun seid ihr in die Grube gefahren. O wüßte ich doch, was ihr gesagt habt und was zu euch gesagt wurde!' Und dann weinte er in Zittern und Zagen und pflegte das Dichterwort zu sagen:

Die Leichenzüge schrecken mich zu jeder Zeit;
Der Klagefrauen Weinen stimmt mich immer traurig.

Nun geschah es eines Tages, daß sein Vater an ihm vorbeizog, inmitten seines Hofstaates, umgeben von seinen Wesiren, den Großen seines Reiches und den Würdenträgern seiner Herrschaft. Und als sie den Sohn des Beherrschers der Gläubigen erblickten, mit einem härenen Gewand auf dem Leib und einem wollenen Tuch auf dem Kopf, sprachen sie zueinander: ,Dieser Jüngling da macht den Beherrscher der Gläubigen zum Gespött unter den Königen. Wenn sein Vater ihn schelten möchte, so würde er wohl von seinem Treiben ablassen.' Der Herrscher vernahm ihre Worte, und so redete er mit dem



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Jüngling darüber, indem er sprach: ,Mein lieber Sohn, fürwahr, du machst mir Schande durch das, was du treibst.' Doch sein Sohn sah ihn nur an. ohne zu antworten: dann blickte er nach einem Vogel, der auf einer der Zinnen des Palastes saß, und rief ihm zu: ,Du Vogel, bei Dem, der dich erschaffen hat, laß dich auf meine Hand nieder!' Da flog der Vogel auf die Hand des Jünglings hinab. Dann fuhr der Prinz fort: ,Kehre an deine Stätte zurück!' und der Vogel flog an seine Stätte zurück. Weiter sprach der Prinz: ,Laß dich auf die Hand des Beherrschers der Gläubigen nieder!' Aber der Vogel weigerte sich, dorthin zu fliegen. Da sagte der jüngling zu seinem Vater: ,Du bist es, der mich durch seine Liebe zur Welt unter den Heiligen entehrt; und jetzt bin ich entschlossen, mich von dir auf immer zu trennen, so daß ich erst in der künftigen Welt wieder zu dir zurückkehre.' Darauf zog er nach Basra hinunter und arbeitete dort mit den Erdarbeitern; dabei verdiente er jeden Tag nur einen Dirhem und einen Dânik', und mit dem Dânik bestritt er seinen Unterhalt, von dem Dirhem aber gab er Almosen.

Abu 'Âmir von Basra erzählte: In meinem Hause fiel eine Mauer ein: da ging ich zum Standort der Arbeiter, um mir einen Mann zu holen, der sie mir ausbessern könnte. Mein Blick fiel auf einen Jüngling, der Schönheit Bild, mit einem Antlitze, strahlend mild; zu dem trat ich heran, grüßte ihn und sprach zu ihm: ,Mein Freund, suchst du Arbeit?' ,Jawohl', erwiderte er; dann fuhr ich fort: ,Komm mit mir, um eine Mauer wieder aufzubauen!' Darauf sprach er: ,Unter gewissen Bedingungen, die ich dir stellen muß!' ,Mein Freund,' fragte ich, ,wie sind die?' Er antwortete: ,Der Lohn soll einen Dirhem und einen Dânik betragen; und wenn der Muezzin



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zum Gebete ruft, so laß mich hingehen, auf daß ich in Gemeinschaft beten kann."Nachdem ich ihm das zugesagt hatte, nahm ich ihn mit mir und führte ihn in mein Haus; dort arbeitete er so vortrefffich, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Als ich ihn dann aber an das Mittagsmahl erinnerte, sagte er: ,Nein!' und so wußte ich, daß er fastete. Doch sobald er den Gebetsruf hörte, sprach er: ,Du kennst die Bedingung.' Ich sagte: ,Jawohl', und er löste sich den Gürtel und vollzog die religiöse Waschung so schön, wie ich es noch nie gesehen hatte. Dann ging er zum Gebet fort, und nachdem er mit der Gemeinde gebetet hatte, kehrte er zu seiner Arbeit zurück. Auch als zum Nachmittagsgebet gerufen wurde, nahm er die Waschung vor, ging zum Gebete fort und kehrte dann zu seiner Arbeit zurück. Doch nun sprach ich zu ihm: ,Lieber Freund, die Arbeitszeit ist vorüber; das Werk der Arbeiter dauert nur bis zum Nachmittagsgebet.' Er entgegnete mir jedoch: ,Preis sei Allah, mein Dienst dauert bis zum Abend', und arbeitete weiter, bis es dunkel ward. Da gab ich ihm zwei Dirhems. Wie er die beiden Geldstücke sah, fragte er: ,Was bedeutet das?' Ich antwortete: ,Bei Allah, das ist nur ein Teil deines Lohnes, da du so eifrig für mich gearbeitet hast.' Aber er warf mir die beiden Stücke wieder zu mit den Worten: ,Ich will nicht mehr haben, als zwischen uns beiden vereinbart ist.' Ich drängte ihn noch, aber ich konnte ihn nicht bewegen, sie anzunehmen. Also gab ich ihm einen Dirhem und einen Dânik, und dann ging er fort. Als es Morgen ward, ging ich früh zu dem Standort, aber ich konnte ihn nicht finden; und als ich nach ihm fragte, wurde mir gesagt: ,Er kommt nur am Samstag hierher.' Am folgenden Samstag begab ich mich wiederum

1 Das gemeinschaftliche Gebet in der Moschee gilt als verdienstlicher
denn das Gebet des einzelnen an der Stelle, an der er sich gerade befindet.



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zu jenem Ort, und da ich den Jüngling traf, so sprach ich zu ihm: ,Im Namen Allahs, habe die Güte, für mich zuarbeiten!' Er antwortete: ,Unter den Bedingungen, die du kennst.' ,Gut', erwiderte ich und führte ihn wieder in mein Haus. Dort stellte ich mich auf, um ihm zuzuschauen, doch so, daß er mich nicht sehen konnte. Er nahm eine Handvoll Mörtel und legte sie auf die Mauer; und siehe da, die Steine reihten sich von selbst übereinander. Ich sagte mir: ,So sind die Heiligen Allahs!' Er aber arbeitete wiederum den ganzen Tag und vollendete noch mehr als zuvor. Als es dunkel ward, gab ich ihm seinen Lohn; er nahm ihn und ging davon. Wie dann der dritte Samstag kam, ging ich wiederum zu dem Standort; aber ich fand den Jüngling nicht; ich fragte wieder nach ihm, und da hieß es: ,Er ist krank und liegt in der Hütte von der und der Frau.' Jene Frau war eine Greisin, die ob ihrer Frömmigkeit berühmt war, und sie hatte eine Rohrhütte auf dem Gottesacker. Ich begab mich also zu der Hütte und trat in sie ein; da lag der Jüngling auf dem Boden ausgestreckt, und er hatte nichts unter sich als einen Lehmziegel, auf den er sein Haupt gelegt hatte, doch sein Antlitz erglänzte von hellem Licht. Ich begrüßte ihn, und er gab mir den Gruß zurück. Dann setzte ich mich ihm zu Häupten und weinte darum, daß er schon so jung in die Fremde gezogen war, um sich dem Gehorsam gegen seinen Herren zu weihen. Und ich fragte ilm: ,Hast du irgendein Anliegen?' ,Jawohl', erwiderte er; und ich fragte weiter: ,Was ist das?' Er fuhr fort: ,Wenn es wieder Morgen wird, komm zu mir am Vormittage; dann wirst du mich tot finden. Wasche mich und grabe mir ein Grab; doch tu es niemandem kund! Lege mir dies Gewand, das ich trage, als Totenldeid an, nachdem du es aufgetrennt und die Tasche daran durchsucht hast; was du in ihr findest, das nimm heraus und bewahre es



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auf bei dir! Wenn du dann über mir gebetet und mich in die Erde versenkt hast, so geh nach Baghdad und warte dort, bis der Kalif Harûn er-Raschîd herauskommt; dem übergib, was du in meiner Tasche gefunden hast, und entbiete ihm meinen Gruß!' Dann sprach er das Glaubensbekenntnis, sandte in beredtesten Worten Dank zu seinem Herren empor und trug diese Verse vor:
Bring du das Pfand des Mannes, dessen Stündlein naht,
Zu er-Raschîd; der Lohn liegt in der guten Tat!
Und sprich: Ein Wandersmann, der lange inniglich,
Sofern, sich sehnte dich zu sehn, begrüßet dich.
Kein Haß und kein Verdruß ,fürwahr, hielt ihn die fern:
Der Kuß auf deine Rechte nahte ihn dem Herrn.
Doch trennte ihn von dir die Seele voll Verlangen,
An Freuden deiner Welt, o Vater, nicht zu hangen.

Darauf begann der Jüngling Allah um Verzeihung anzuflehen - —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 402. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Jüngling darauf begann, Allah um Vergebung anzuflehen und dies mit dem Gebet zu vereinen: Allah gebe Segen und Heil dem Herrn der Reinen! Dann rezitierte er einige Verse aus dem Koran, und daran schloß er diese Dichterverse an:

O Vater, laß dich nicht durch Lust der Welt betören;
Das Leben hat ein Ende, die Freude muß vergehn.
Wenn du von arger Not bei einem Volke hörest,
Bedenk, du mußt einst Rechenschaft für alle stehn.
Und hast du eine Leiche zur letzten Ruh geleitet,
Bedenk, daß man nach ihr mit dir zum Grabe schreitet!



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Weiter erzählte Abu 'Âmir aus Basra: Als der Jüngling mir seinen Auftrag gegeben und seine Verse beendet hatte, verließ ich ihn und begab mich nach Hause. Und am nächsten Tage ging ich frühmorgens wieder zu ihm; da fand ich ihn wirklich tot -Allah erbarme sich seiner! Ich wusch ihn, trennte sein Gewand auf und fand in seiner Tasche einen Rubin, der Tausende von Dinaren wert war. Ich sagte mir: ,Bei Allah, dieser Jüngling übte die Weltentsagung in vollkommenster Weise!' Nachdem ich ihn dann begraben hatte, begab ich mich nach Baghdad, gelangte zum Kalifenschlosse und wartete dort, bis Harûn er-Raschîd herauskam. In einer der Straßen trat ich an ihn heran und überreichte ihm den Rubin. Sobald er ihn erblickte, erkannte er ihn und sank ohnmächtig nieder. Seine Diener legten Hand an mich; doch als er wieder zu sich kam, sprach er zu den Dienern: ,Lasset ihn los und geleitet ihn freundlich in den Palast!' Sie taten, wie er ihnen befohlen hatte. Und als er dann selbst in sein Schloß zurückkam, sandte er nach mir und führte mich in sein Gemach. Dort fragte er mich: ,Was hat der Besitzer dieses Rubins getan?' Ich antwortete: ,Er ist tot', und erzählte ihm, wie es um ihn gestanden hatte. Da begann er zu weinen und sprach: ,Der Sohn hat gewonnen, aber der Vater hat verloren!' Dann rief er: ,Du, Soundso!' Und eine Frau trat hervor; doch als sie mich sah, wollte sie zurückweichen. Aber er sprach zu ihr: ,Komm nur heran; es ist nicht wider deine Ehre, daß er hier ist!' Da trat sie näher und grüßte, und er warf ihr den Rubin zu. Sowie sie den erblickte, schrie sie laut auf und sank ohnmächtig nieder. Nachdem sie aber wieder zu sich gekommen war, rief sie: ,O Beherrscher der Gläubigen, was hat Allah mit meinem Sohn getan?' Der Kalif befahl mir: ,Berichte du ihr von ihm', da er selber vor Tränen nicht reden konnte. Ich erzählte ihr nun von ihm; und sie begann



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zu weinen und mit schwacher Stimme zu klagen: ,Wie habe ich mich nach deinem Anblick gesehnt, o du mein Augentrost! Hätte ich dir doch zu trinken geben können, als du niemanden fandest, der dir einen Trunk reichte! Hätte ich doch bei dir sein können, als du niemanden fandest, der dich tröstete!' Darauf begann sie wieder in Tränen auszubrechen und hub an diese Verse zu sprechen:
Ich weine um den Pilger, der einsam sterben mußte,
Der keinen Freund mehr fand, um ihm sein Leid zu klagen.
Nach all der Herrlichkeit. dem Leben bei den Seinen
Mußt er so ganz allein die Einsamkeit ertragen.
Ja, was die Zeiten bergen, wird doch der Welt verkündet;
Noch keinen unter uns hat je der Tod verschont.
O der du ferne weilst, 'der Herr beschloß die Trennung;
Du warest weit von mir, nachdem du nah gewohnt.
Der Tod nahm mir die Hoffnung, mein Sohn, dich jetzt zu sehen;
Doch werden wir uns finden, wenn alle auferstehen.

Da fragte ich: ,O Beherrscher der Gläubigen, war er wirklich dein Sohne' Er antwortete mir: ,Ja; er pflegte, ehe ich dies Amt antrat, die Gelehrten zu besuchen und bei den Frommen zu sitzen; doch als ich dies Amt übernahm, begann er mich zu meiden und sich von mir zurückzuhalten. So sprach ich denn zu seiner Mutter: ,Dieser Knabe hat sich ganz dem Dienste Allahs des Erhabenen geweiht; vielleicht stehen ihm Zeiten von Not und schwerer Prüfung bevor. Darum gib du ihm diesen Rubin, auf daß er, wenn er ihn braucht, verwenden kann.' Da gab sie ihm den Edelstein; doch sie mußte ihn beschwören, das Juwel anzunehmen. Er gehorchte schließlich ihrem Geheiß, nahm den Stein, überließ uns unserer Welt und ging von uns. Und er blieb uns immer fern, bis er zu Allah, dem Allmächtigen und Glorreichen, einging, fromm und rein.' Dann fuhr der Herrscher fort: ,Komm, zeig mir sein Grab!' Da machte



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ich mich mit ihm auf und zog mit ihm dahin, bis ich es ihm zeigen konnte. Dort begann er zu weinen und zu klagen, bis er ohnmächtig niedersank. Als er wieder zu sich kam, bat er Allah um Verzeihung und sprach: ,Wir sind Allahs Geschöpfe, und zu ihm kehren wir zurück!' Nachdem er dann den Segen des Himmels auf den Toten herabgefleht hatte, bat er mich, sein Freund zu werden. Doch ich erwiderte ihm: ,O Beherrscher der Gläubigen, in deinem Sohne ist für mich eine Mahnung, wie sie nicht ergreifender sein kann!' Und ich schloß daran diese Verse an:

Ich hin der Fremdling, der bei keinem einkehrt;
Ich bin der Fremdling in der eignen Stadt;
Ich bin der Fremdling ohne Sohn und Sippe,
Der keinen Freund zu seiner Zuflucht hat.
In den Moscheen kehr ich ein und wohn ich:
Für sie schlägt stets mein Herze ungeteilt.
Preist Gott für seine Huld, den Herrn der Welten,
Solange noch der Geist im Leibe weilt!

Ferner wird erzählt


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