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Kapitel 

DICHTKUNST DER KASSAIDEN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1928

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

MIT ZWEI KARTEN UND ZEHN ABBILDUNGEN

Im Lande der Verstorbenen (Bassonge; Bena Tsclzibeschi, Lupungu)

Kapompo und Kakutschi, zwei Männer, machten keine Feldarbeit. Wenn die andern Leute ihre Äcker bestellten und nicht daheim waren, gingen sie hin und stahlen. Kapompo aß immer nur die eine Hälfte der gestohlenen Bohnen, des Mais, Maniok usw. auf und die andere Hälfte versteckte er in einem hohlen Baum, der im Walde stand. Dort hob er sie auf. Kakutschi aß aber alles Gestohlene stets sogleich auf. Kakutschi sagte: "Ach, es sind ja so viele Äcker. Wenn ein Acker abgegessen ist, kommt ein anderer an die Reihe." Als die Regenzeit vorüber war, ernteten die Leute alles und füllten es in die Speicher und Heuböden. Kapompo aß nun von seinen Vorräten im Baumloch. Er hatte viele Früchte. Kakutschi hatte aber nichts mehr



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zu essen. Es stand nur auf einem Felde noch Mais. Kakutschi ging zu dem Felde um zu stehlen. Die Leute packten ihn. Kakutschi aber hatte ein Munjinga (Armring mit Zaubermittel aus Varanushaut). Er verwandelte sich in Kräuter, wartete bis seine Verfolger fort waren und ging dann nach Hause.

Die Leute der Maisfelder gingen zum Häuptling Ja Nkolle moana na Fidi Mukullu und sagten: "Wir haben Kakutschi beim Maisstehlen überrascht." Der Häuptling sagte: "Wo ist er?" Die Leute sagten: "Er ist im Gras entflohen." Der Häuptling sagte: "Das ist nicht wahr." Ein anderes Mal stahl Kakutschi ein Huhn. Ein Knabe sah es. Kakutschi versteckte dann das Huhn unter seinem Bett und deckte es mit Erde zu. Die Leute suchten das Huhn im ganzen Dorfe, in allen Speichern, in allen Häusern. Sie fanden das Huhn nicht. Der Knabe sagte: "Ich habe gesehen, wie Kakutschi das Huhn stahl."

Die Leute wiesen Kakutschi aus dem Dorfe.

Kakutschi ging in den Wald. Es rief jemand: "Komm !"Er lief zu der Stelle und sah nichts. Er sah niemand. Neben ihm sagte jemand: "Komm!" Er sah einen großen Baum, den er vordem dort nicht sah. Der Baum lag quer über den Weg. Die Stimme sagte: "Geh in dies Baumloch hier." Kakutschi sagte: "Hier soll ich hineingehen?" Die Stimme sagte: "Ja". Kakutschi ging hinein. Er sah da ein großes, großes Dorf. Es waren darin lauter Leute, die vor langer Zeit gestorben waren. Kakutschi sah seine Mutter, seinen Sohn, seinen Bruder. Alle waren ganz, ganz klein. Ihre Haare reichten bis auf die Schultern. Die Füße standen verkehrt, nämlich mit den Hacken nach vorn und mit den Zehen nach hinten.

Die Mutter sagte: "Ich muß dich verstecken, denn die Leute hier lieben die Lebenden nicht." Die Mutter versteckte ihn. Sie brachte ihm Tschijangalla (Mistkäfer). Er aß nicht. Sie brachte ihm Regenwürmer. Er aß nicht. Die Mutter sagte: "Das ist alles, was man hier ißt. Etwas anderes essen die Leute hier nicht." Die Nacht kam. Die Mutter versteckte Kakutschi auf der Erde unter der Matte. Der Vater Kakutschis kam. Kakutschi sah, daß sein Vater verkehrte Füße hatte, daß er ganz lange Haare hatte, daß er ganz klein war. Der Vater setzte sich auf die Matte, gerade auf Kakutschis Hals. Kakutschi starb fast. Der Vater stand nicht auf. Die Mutter sagte leise: "Schrei ja nicht, sonst töten sie dich." —Nach einiger Zeit ging der Vater hinaus. Die Mutter setzte Kakutschi schnell in einen Korb auf den Zwischenboden. Sie sagte: "Weine ja nicht!"

Der Vater kam zurück. Er schürte das Feuer an. Der Rauch stieg Kakutschi in die Augen. Kakutschi hielt es endlich nicht mehr aus und jammerte: "Ach, ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe! Ach, ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe. Ach, ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe !" Der Vater sagte zur Mutter: "Was hast du da versteckt?"



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Der Vater rief Leute herbei. Die Leute stiegen auf den Zwischenboden. Sie fanden Kakutschi. Kakutschi kam herunter. Der Vater sagte: "Wer hat dich da versteckt?" Kakutschi sagte: "Meine Mutter hat mich hier versteckt." Der Vater rief alle Leute zusammen. Alle, alle Leute kamen. Alle waren ganz klein, alle hatten lange Haare, die bis auf die Schulter fielen. Allen standen die Füße verkehrt herum, nämlich mit den Zehen nach hinten und mit den Hacken nach vorn. Die Leute packten Kakutschi und töteten ihn. Dann sagten die Leute zur Mutter: "Geh, du gehörst nicht hier her." Sie verjagten die Mutter.

Die Mutter ging. Sie traf auf dem Wege nach ihrem alten Dorfe zwei Frauen. Die Mutter fragte: "Habt ihr nicht mein Kind Kitenga gesehen ?" Die Frauen liefen in großer Angst von dannen und riefen Kitenga. Sie sagten: "Am Wege sitzt eine alte kleine Frau mit verkehrten Füßen und langen Haaren und sagt, sie wäre deine Mutter." Kitenga ging hin. Kitenga sah sie und hatte große Furcht. Kitenga sagte: "Das ist meine Mutter nicht." Kitenga lief von dannen.

Es kam ein großer, großer Regen, der spülte alles fort, Hütten, Bananen und Äcker. Und als die Mutter Kakutschis an die Stelle des Dorfes kam, war es verschwunden.


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