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Kapitel 

DICHTKUNST DER KASSAIDEN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1928

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

MIT ZWEI KARTEN UND ZEHN ABBILDUNGEN


DIE KASSAIDEN

Es sind jetzt 23 Jahre seit dem Zeitpunkte verstrichen, in dem ich für längere Fahrt nach Afrika aufbrach, und somit sind die ersten Ergebnisse dieser Expedition ein Vierteljahrhundert im Manuskript abgelagert. Es bestand die Absicht, die nachfolgend zum Abdruck gelangenden Texte in der gleichen Weise mit einem Rahmen zu versehen wie alle vorhergehenden -einem Rahmen, der durch Schilderung geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens zu bilden ist. Ein ebenso verlegerisches wie verlegenes Geschick hat diese Absicht gekreuzt. Der Leser der Atlantisausgabe muß sich also mit einem ungerahmten Bilde begnügen.

Wie schon die beifolgende Karte, in welcher die Reiseroute und die Studienlager (letztere in roter Farbe) eingetragen sind, erahnen läßt, bedeutet das Kassaibecken die Heimat einer ganz besonders reichen Anhäufung von Stämmen verschiedenster Kulturzugehörigkeit.

An erster Stelle sind unter den Völkern des Kongobeckens die Pygmäen, die kleinwüchsigen Stämme anzuführen. Sie spielen nicht nur durch ihr Vorhandensein eine Rolle, sondern eine andere, wenn nicht bedeutendere, durch die Tatsache, daß viele hereindrängende Völker sich mit ihnen mischten und sie derart eine eigenartige Geistigkeit gewannen, die im Typus der Bena-Lulua-Erzählungen besonders deutlich zutage tritt.

Als zweite Schicht wäre dann die fast nur noch an Teilhaberschaft erkennbare alterythräische Kulturschicht zu erkennen; Stämme am Quangobecken, am mittleren Kassai, Lufudi Bakete weisen in sozialer Hinsicht noch den Grundtypus auf; wie bedeutsam aber dieser kulturelle Untergrund ist, mag daran erkannt werden, daß die Zwergantilope (meist Gabuluku) der Heros der alterythräischen Fabelkunde, bei den meisten Stämmen Liebling der Erzählungen ist.

Weiterhin ist die atlantische Kultur mit ihrem Vordringen von der West- (also atlantischen) Küste her zu beachten. Sie schiebt sich in ihrer Ausdehnung bis zu den Bakuba und verklingt bei den Bassonge. Das herrliche Kunstgewerbe in Plüschweberei und Schnitzerei, welches die ersten Entdecker des 15. Jahrhunderts im Reiche Kongo verblüffte, lebte zu meiner Zeit noch bei den Sankurrustämmen, zumal den Bakuba. Die Bindeglieder bei den Quangostämmen, Bapende usw. waren unschwer festzustellen.

Viertens ist der Strom der Wemba-Luba zu erwähnen, der, seit Jahrhunderten aus dem süderythräischen Kulturkreis in das Kassailand herüberwellend, allerlei Variantenbildung zur Folge hatte. Die erste Woge der Bena Lulua prallte gegen die Bakubastaaten an. Eine Mischung mit Pygmäen tritt bei diesen deutlich zutage. In den Bas



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songe liegt die Verbindung mit atlantischer Kultur, in den Kanioka die Umformung eines Altstammes, in den Baluba ein fast ungemischter Typus dieser Art vor. Die Vorstellungen von einem Fidi Mukullu und einer Kakaschi Kakullu gehören in diesen Kreis.

Die fünfte Gruppe ist charakterisiert durch die Kioque, einem mit erstaunlicher Zähigkeit vom Kassaiquelland her tälerabwärts sich einfressenden Volke hamitischen Bluteinschlages.

Von Nordosten her kamen endlich zum sechsten die Batetela-Wakussu,ein hochbegabter Waldstamm, in welchem sich eine von Norden her (zwischen Lulongo-Bussera-Lomelaquelle einerseits und und Lomami anderseits verlaufend) einfallende Kulturbahn und eine direkt von Osten her eindringende vereinigt haben. Die Wakussu als Kern, die Malela als balubisch Beeinflußte und die Bankutu, die im Westen mit den (vom Ubangi herabgekommenen) Mongostämmen und Pygmäen vermischt sind, stellen die wichtigsten Typen dieses von Kongo-Lomami nach Westen hin bis zum unteren Kassai verbreiteten Volkes dar.

Die kulturgeschichtlich interessantesten unter diesen Völkern sind fraglos die Bakuba (deren Gliederung in drei Gruppen auf besonderer Karte skizziert ist), Bena Lulua, Bassonge, Kioque. Die wertvollsten historischen Überlieferungen der Bakuba und der Südstämme konnten aus Raummangel nicht zur Wiedergabe gelangen.


Volksdichtung als Ausdruck des Lebensgefühles



***
Jeder, der dem ersten einleitenden Teile dieses Buches einige Aufmerksamkeit gewidmet hat, muß es ahnen, daß die Volksdichtung der Kassaiden ein Musterbeispiel des Variantenreichtums im kleinen ist. Dies Land zwischen Kassai, Sankurru und dem Abfall des südafrikanischen Steppen- und Hochmoorplateaus ist eine Heimat verdrängter, abenteuerlicher Geister, in Ängstlichkeit verscheuchter und geschäftiger Kleinunternehmer. Es führt geographisch wie ethnisch zu Kleinkunst, zu Kleingewerblichem, zu Einzelwesentlichem. Niemals kann hier die große Linie auftauchen, die auf den großen Flächen Süd- und Ostafrikas selbstverständlich ist, und die ich in den Atlantisbänden für Mande wie Haussa, für Mossi wie Kordofaner nachweisen konnte.

Überall ist Volksdichtung unmittelbarer Ausdruck des Lebensgefühles, muß als Stil dem Koordinatensystem von Landschaft, alias Raum und Geschichte, alias Zeit entsprechen. Wenn dies irgendwie deutlich gemacht werden kann, so ist diese Möglichkeit hier allein schon im Vergleich der Dispositionen, die sich für Zusammenfassung der Texte der Hochsudaner und der Kassaiden ergab. Denn da eine verständnisvolle Anordnung solcher Stoffe sich von selbst ergeben muß und nur von Verständnislosen "gemacht" wird, so spricht aus



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der Gliederung des Stoffes stets das einfache Motiv einer selbstverständlichen und naturgeborenen Melodie. Dabei muß für die Volksdichtung der Kassaiden die Kürze der Dichtungen auffallen. Hier äußert sich schicksalsmäßig kleinliche Geistigkeit. Es erscheint dies vielleicht als Äußerlichkeit, ist aber in Wahrheit Bedingtheit kleiner und kurzlebiger Raumgeborenheit. Was im weiten Sudan ausgedehnt, tief durchlebt und durchdacht auftritt, lebt hier im Gebiete der Verdrängten, der durch Raumteilung miteinander Verstrickten und der ineinander Verschlungenen buschartig, einzelhaft, nur programmatisch und nur im Erguß von Einzelbildern abgeschlossen.

Die Gliederung, die mir der Stoff als Disposition aufdrängte, zeigt gewissermaßen eine sich auf- und abwölbende, schlankgestreckte Kurve. Von der Magie als urtümlicher Kulturzwinglichkeit über Halbmythisch-Mythisches und dem dann folgenden stummen Scheitel zwischen Überlieferung und Leben hin führt die Linie abwärts dem menschlichen Leben zu, erst dem ereignismäßigen, dann dem vorstellungsentsprechenden, dem Märchenhaften, und dann schroff abwärts über die Tierfabel bis in die aus animalistisch-magischer Tierangeschlossenheit stammenden Gesellschaftsbindungen dem sogenannten Totemismus. Eine Kurve, die das Leben ungemein ausdrucksvoll wiedergibt. Ein Leben im Kleinen, aber vielseitig in seinen Formen -

Nun steht es wohl außer Zweifel, daß es bequemer ist, sich in weit ausgesponnenen, reich ausgeschmückten Märchen (wie in denen aus Kordofan Bd. IV) oder in schwungvollen, handlungsstarken Epen (wie in denen aus Faraka Bd. VI) zu ergehen, als eine Wanderung zu unternehmen durch die verschlungenen Labyrinthe der eng verkräuselten Geistigkeit, die in diesem Bande zur Darstellung kommt. Fraglich aber ist es, ob mit der größeren Annehmlichkeit auch der tiefere Gewinn verbunden ist. Und da brauche ich nur auf die kleinen Stücke, die unter dem Stichwort "Geistvolle Skizzen"vereinigt sind, hinzuweisen, um zu belegen, daß der wesentliche Gehalt nicht des Umfanges und hochgestellter Kunst bedarf, um auch als Gestalt bedeutsam zu sein. In solchem Falle spottet die Vielheit aller Zersplitterungsneigung; das Kleine kann als gesundes Keimblatt fraglos seinen Platz sogar neben dem Dramatischen und dem Philosophischen behaupten.

Meine Absicht war es, gerade in diesem Bande das große Phänomen der innigen Gegenseitigkeitsbedingtheit, die zwischen kultureller Abstufung, zeitlicher Schicksalsordnung und Raumgebundenheit besteht, zu erweisen.


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