Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON KÖNIG KISRA ANUSCHARWÂN UND DER JUNGEN BÄUERIN

Eines Tages ritt der gerechte König Kisra Anuscharwân' auf die Jagd; und da ward er, als er eine Gazelle verfolgte, von seinem Gefolge getrennt. Während er so hinter dem Wilde



1000-und-1_Vol-03-490 Flip arpa

her eilte, sah er plötzlich ein Dorf in der Nähe, und da er quälenden Durst empfand, so ritt er dorthin, auf die Tür eines Hauses zu, das am Wege lag, und bat um einen Trunk Wassers. Eine Maid trat heraus und schaute ihn an. Dann ging sie in das Haus zurück, preßte für ihn eine Staude Zuckerrohr aus und mischte deren Saft mit Wasser; dann füllte sie einen Becher damit, schüttete auf das Getränk eine Spezerei, die wie Staub aussah, und überreichte es darauf dem König. Der schaute in den Becher, und als er darinnen etwas erblickte, das wie Staub aussah, trank er ihn ganz langsam aus, bis er leer war; dann sprach er zu der Maid: ,Jungfrau, der Trank war gut; doch wie schön wäre er gewesen, wenn der Staub da nicht darauf gewesen wäre; der hat ihn getrübt!' ,O Gast,' erwiderte die Maid, ,ich habe den Staub, der ihn getrübt hat, mit Absicht hineingetan.' Und als der König fragte, warum sie das getan habe, sagte sie: ,Weil ich sah, daß du sehr durstig warst, und befürchtete, du könntest den Trunk auf einmal herunterstürzen und er würde dir dann schaden. Wäre kein Staub darauf gewesen, so hättest du den Becher hastig mit einem Zuge geleert, und auf solche Weise hätte er dir geschadet.' Da wunderte der gerechte König Anuscharwân sich über ihre Worte und ihre kluge Vorsicht; denn an dem, was sie gesagt hatte, erkannte er, daß ihr Tun in klarer Einsicht und trefflichem Verstande seinen Grund hatte. Weiter fragte er sie darauf: ,Aus wieviel Stauden hast du den Trank gepreßt?' ,Aus einer einzigen', erwiderte sie. Auch darüber war Anuscharwân verwundert; dann ließ er sich das Verzeichnis der Grundsteuern geben, die von jenem Dorfe erhoben wurden, und als er sah, daß die Steuer nur niedrig war, dachte er in seinem Herzen, er wolle, wenn er zu seinem Palast zurückkehre, die Steuern jenes Dorfes erhöhen; denn er sagte sich:



1000-und-1_Vol-03-491 Flip arpa

,Wie kann ein Ort, in dem ein einziges Zuckerrohr so viel Saft ergibt, nur so geringe Steuern zahlen?' Dann verließ er das Dorf und ritt weiter auf die Jagd; am Abend jedoch kehrte er dorthin zurück und kam allein bei derselben Tür vorbei und bat um einen Trunk Wassers. Wieder trat dieselbe Maid heraus, und als sie ihn sah, erkannte sie ihn. Darauf ging sie in das Haus zurück, um ihm den Trunk zu holen. Aber da sie ihn länger warten ließ, trieb er sie zur Eile an, indem er sprach: ,Warum bleibst du so lange aus?' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 390 Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der König Anuscharwân die Maid zur Eile antrieb, indem er sprach: ,Warum bleibst du solange aus?' Da gab sie ihm zur Antwort: ,Weil eine einzige Staude nicht soviel hergab, wie du brauchtest; deshalb habe ich drei Stauden gepreßt, aber sie haben nicht soviel ergeben wie zuvor eine einzige.' ,Wie kommt denn das?' fragte der König Anuscharwân; und sie erwiderte: ,Es kommt daher, daß die Gesinnung des Herrschers sich geändert hat!' Weiter fragte er: ,Wie ist dir das kund geworden?' Da antwortete sie: ,Wir haben von den Weisen gehört, daß, wenn die Gesinnung des Herrschers gegen seine Untertanen sich ändert, ihr Glück aufhört und ihr Gedeihen sich mindert.' König Anuscharwân lachte und gab in seinem Herzen den Plan auf, den er gegen das Dorf gefaßt hatte. Dann aber nahm er jene Jungfrau sogleich zum Weibe, da ihr scharfer Verstand, ihre Klugheit und ihre trefflichen Worte ihm gefallen hatten.

Ferner wird erzählt


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt