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Kapitel 

VOLKSDICHTUNGEN AUS OBERGUINEA


I. BAND


FABULEIEN DREIER VÖLKER

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT 4 BILDBEILAGEN

a) Die Muntschi als Ausnahmeintelligente

Die Muntschi, wie sie früher auch manchmal genannt wurden "Mintschi" und wie sie sich selber nennen "Tiwi", sind von allen Völkern des Benuelandes entschieden das selbständigste an Wesen und Äußerem, als Volk das spezifisch machtvollste, dem Rufe nach das schlimmste Räuberpack, und dem Wesen nach der wertvollste, weil wohl produktivste und intelligenteste aller Stämme des Benuelandes. Sie sind weit und breit gefürchtet. In Wagadugu, im Mossilande, wurde mir zum erstenmal von diesen "greulichsten" aller Menschenfresser berichtet. Überall in Nupe und Joruba und wohl von allen Haussa des Nordens werden die Muntschi als Beispiele des größten Barbarismus und des Kannibalismus angesehen. Man ist sich über ihre Niedrigkeit an Kultur, ihren Mangel an Gesittung allenthalben so einig, daß die Schilderung dieser Menschen als der stumpfsinnigsten und rohesten aller vorhandenen dem Wanderer entgegenklingt, bis man ganz wenige Kilometer von ihrem eigenen Land entfernt ist und nun mit den ersten, vereinzelt weiter umherschweifenden Individuen zusammentrifft. Und auch dann noch kann sich ein harmloser Mensch täuschen lassen.

So ist es sehr bezeichnend, wenn diese Leute in ihrer einfachen Heimatstracht in einer Nachbarstadt der Jukum oder Abaquariga auftauchen, wenn sie mit stumpf blödem Gesichtsausdruck niederhocken und den Spott aller "gebildeten" Umherstehenden über sich ergehen lassen, ohne daß sie auch nur durch das leiseste Zucken des Augenlides merken lassen, daß sie den Spott verstehen und daß die Verächtlichkeit, mit der die andern von ihnen sprechen, sie berühre. Man hält sie bei solchem Bilde und Vorgange wirklich im ersten Augenblick für roh, stumpfsinnig und niedrig. Man ahnt zunächst nicht, daß das die geschickteste Maske, die raffinierteste Schneckenmanipulation ist, die man überhaupt in Afrika treffen kann, und erst später lernt man die zähe Festigkeit, mit der sie trotz alles Spottes der "Reichbekleideten" an ihrer einfachen Tracht hängen bleiben, achten als eine Eigentümlichkeit, die man vielleicht als eine



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Bogenschütze (Muntschi)



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Art Nationalgefühl auffassen kann. Dieser Stumpfsinn ist Maske, und diese Muntschi sind die einzigen, die nicht Nachahmer anderer sind und die doch mit hoher Intelligenz überall hinschauen, hinhören und gern lernen, was ihnen nützlich werden kann.

Diese beiden Vorgänge: gemimte Einfalt bei sorgfältiger Umschau einerseits, ständige Bereitschaft, Neues aufzunehmen, ohne dabei geistlos etwas nachzuahmen, sind die beiden ersten auffallenden seelischen Äußerungen der Muntschi, die als wesentlich vermerkt werden können.

Man kann sich nämlich in ersterer Angelegenheit kaum zwei drolligere Gegensätze denken: Der Muntschi in der Fremde, in der "Großstadt" der Jukum oder Abaquariga und der gleiche Muntschi daheim. Unter den Fremden hockt der Muntschi sich schlaff hin, macht das dämlichste Gesicht, das man sich überhaupt denken kann, schließt die Augen ein klein wenig, läßt die Unterlippe vorhängen und kreuzt die ungeschlachtenen Hände vor sich im Schoß. Er läßt unbekümmert die andern vorbeigehen und seines wunderlichen Haarschnittes, seiner roten und bunten Bemalung und seiner einfachen Kleidung wegen lachen. Er sitzt auf dem Markte ganz geduldig und verkauft seine heimischen Produkte, seine Baumwollstoffe, die allenthalben sehr geschätzt sind, seine Feldfrüchte. Er wartet, bis ihm jemand einen guten Preis, genau den, den er erwartet hat, bietet. Eher geht er nicht weg. Durch den Spott graulen sie ihn auch nicht hinaus. Hernach geht er hin und kauft das, was er braucht, Eisen oder sonst Brauchbares. Und da ist wieder genau das gleiche. Er zahlt nicht eine Kauri mehr, als nach seiner Beobachtung - und er hat immer die halb geschlossenen Augen zum Zuschauen bereit-ein anderer zahlen würde, auch nicht eine! Ja, die Abaquariga, sicher geschickte Händler, haben mir versichert, die Muntschi wären bessere Händler als sie selber, verkauften teurer und kauften billiger als andere. Diese Abaquariga sagten mir, es sei ganz klar ersichtlich, daß ein Muntschi nie etwas auf den Markt bringen würde, was gerade im Überfluß vorhanden sei. Die Muntschi kämen aber sogleich in geschickt gegliederten Abständen und Trupps, wenn irgend etwas ausgeht, was sie liefern können. Die Abaquariga sagen, das Merkwürdigste aber wäre es, daß diese Leute einige Stunden, nachdem sie auf dem Markt gesessen hätten, immer genau wüßten, wer - durch irgendwelche Umstände, sei es für ein Totenfest, sei es für ein Ausstattungsgut, sei es, weil ein Schuldner bedrängt würde -irgend etwas zu verkaufen gezwungen sei. Mit Sicherheit wüßten sie solche Leute ausfindig zu machen und mit aller Bestimmtheit wären sie so imstande, billiger einzukaufen als die andern. Aber während ein anderer, dem solch guter Handel gelungen sei, dann großes Aufhebens von solcher Geschicklichkeit



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mache, gehe der Muntschi danach ganz gelassen und unbekümmert seines Weges, und wenn man ihn frage, wie er mit seinen heutigen Geschäften zufrieden sei, so antworte er sicher: es ginge ganz schlecht; für seine eigenen Waren bekäme man gar nichts, und das, was man brauche, müsse man in Wukari zu teuer bezahlen.

Typisch für diese Maskerade des geschickten Bauern ist seine Stellungnahme zur Vielsprachigkeit des Gebietes. Wenn ein Jukum oder Haussa ihn seiner bäuerlichen Ungeschlachtheit, seiner groben schweren Arbeitshände, seiner ländlichen Tracht halber belacht, dann spielt der Muntschi den Dummen, der das weder sieht noch die Worte versteht. Das muß er, das ist er sich selbst schuldig. Denn der Muntschi ist daheim ein streitbarer Geselle, dessen Ehrgefühl man nur ein ganz klein wenig zu betupfen braucht-schon liegt der Pfeil auf der Sehne. Und solche Gefühisregungen wollen kunstvoll verkapselt werden. Daher versteht er die Sprache nicht. Sowie er aber zum Handeln auf den Markt kommt, weiß er sich so fein auszudrücken, daß es eine Freude ist, die Geschicklichkeit der Verwertung jeder Redewendung zum Ausdruck oder zur Erklärung zu beobachten.

Noch größer aber ist der Gegensatz der Muntschitypen auf dem Markt in Wukari und derer in ihren heimischen Dörfern. Unter den Fremden drücken sie sich möglichst unbeobachtet zur Seite, äußern keinerlei merkliches Interesse, suchen trotz Beibehaltung ihrer heimischen Tracht denkbar wenig in die Augen zu fallen und markieren den Stumpfsinn. Daheim gehen sie mit hochgetragenem Kopfe, lachend und geräuschvoll fröhlich, durchaus männlich würdig und -wenigstens soweit ich sie kennenlernte - offen und freundlich umher. Es ist, als ob man zwei verschiedene Völkertypen vor sich habe, dort die gedrückten, törichten Mucker, hier die offenen, lachenden, kriegsbereiten Männer.

Ja, diese vielverleumdeten, "brutalen", "tierischen" und "jeder Kultur feindlichen" Muntschi sind von einer derartigen geistigen Lebendigkeit und Aufnahmefähigkeit, daß ich in ganz Nigeria ihnen in dieser Hinsicht kein Volk gleichwertig zur Seite zu stellen vermöchte. Hätte ich nur einmal jene klugen Verurteiler der Muntschi in meiner Hütte haben können, wenn diese Leute um mich versammelt waren und ihre Legenden und Geschichten vortrugen! Da brauchte ich nicht erst lange zu drängen und zu quälen: "Erzählt! Erzählt! Erzählt!" Ich brauchte nur zu sagen: "Eine gute Geschichte zwanzig Braßstangen, eine schlechte fünf oder nichts und eine sehr gute vierzig, fünfzig und mehr!" Da sahen die Muntschi sich erstaunt an. Da blickten sie prüfend zu mir auf. Dann erzählte gleich einer probeweise ein Stückchen, heimste sein Geld ein, und nun kamen nach vierzehn Tagen mehr Geschichtserzähler,



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als ich abzuhören vermochte. Und wie sie erzählten! Das war ein Leben, eine Mimik, eine Bewegung mit Armen und Augen und mit dem Körper! Mit dem sterbenden Tiere, von dem sie erzählten, warfen sie sich auf die Erde; mit dem entrüsteten König sprangen sie auf; mit dem Erschreckten prallten sie zurück und mit dem Weinenden weinten sie. Dichtkunst und Mimik waren eins. frisch, lebendig, effektvoll. Und die Erzählungen der Muntschi sind mir die besten, die mir die kulturtieferen Afrikaner überhaupt gegeben haben. Und so lernte ich hier schon eine geistige Frische als Eigenart der Muntschi kennen, die den senilen Jukum, den verdrängten Äthiopen Nordkameruns und den erschlaffenden Abaquariga auch nicht im entferntesten eigen ist.

Daß diese Vitalität, dieser Lebens- und Entwicklungswille nicht immer gerade nur in angenehmer Form sich äußert, ist eine Selbstverständlichkeit, die wir hier wie anderweitig eben mit in Kauf nehmen und im Laufe der Zeit modifizieren müssen. Es sind kräftige, eigenartige und willensstarke sowie besitzfreudige Menschen, die es gewohnt sind, auch als Männer für ihren Lebenswillen einzutreten. Daß sie demnach außerordentlich leicht zu den Waffen greifen und sehr gern bereit sind, einmal eine gründliche Raubfahrt zu unternehmen, das haben die Schiffer auf dem Benue und die Faktoristen der Royal Niger-Compagnie manches Mal durchgekostet, wenn sie neben dem geraubten Gut verendet am Boden lagen.

Das ist den Muntschi immer schwer vorgeworfen worden, hat sie in ein böses Gerücht versetzt und ist geeignet, ihre Art gründlich mißzuverstehen. Denn das hat die schwer gekränkte Royal Niger-Compagnie vergessen der Welt mitzuteilen, daß diese selben Muntschi immer ihre besten Kunden waren, die jahraus, jahrein Eisen und anderes Material tonnenweise in ihren Faktoreien kauften und alle wertvollen Produkte, die das Land überhaupt hervorbringt, ununterbrochen den Kaufladen am Benue lieferten und liefern. — Wenn überhaupt irgendwo der Satz, daß aktive Eigenschaften wertvoll sind, weil sie direktionsfähige und produktive Menschen hervorbringen, schlaffe, passive Eigenschaften aber traurig, weil sie unfruchtbare, unbeeinflußbare Individuen produzieren - wenn dieser Satz irgendwo in Westafrka angewendet werden darf, so ist es bei den Muntschi der Fall, die allerdings noch manches Mal ihre Intelligenz und Aktivität in Rüpeleien und Jugendstreichen äußern, die aber darin eben auch nicht anders sind als die intelligenteren Menschen unseres Nordens.

Ich sagte oben, daß die Muntschi immer die Augen offen haben und Umschau halten nach diesem und jenem, und auch dann, wenn sie in blöder Maske die Lider zusammenkneifen, beobachtend lernen,



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ohne zur Nachäfferei zu kommen. Und damit bin ich bei dem schwierigsten Problem angekommen, das mir die Muntschi als zu knackende Nuß auf den Arbeitstisch in Salatu gelegt haben.


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